Taxi zur Hölle

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Taxi zur Hölle
Liselotte drehte sich vor dem Spiegel. Das Kleid gefiel ihr ganz gut an ihr, auch wenn es ihr nicht gelingen wollte, den Preis des Kleides aus ihrem Kopf zu drängen. Gut, es war ein billiges Kleid und wenn man gnadenlos genug war, dann konnte man es dem Kleid auch ansehen. Es war eben die Andeutung ihres guten Geschmacks, denn das Kleid war durchaus geschmackvoll, nur leider eben von augenscheinlicher Minderwertigkeit. Liselotte hatte einen Geschmack, der ihrem Portemonaie eben nicht entsprach, aber daran war nun mal nichts zu ändern. Sie hatte aber ein gewisses Geschick dafür entwickelt, sich mit besonderer Disziplin und Sorgfalt zurechtzumachen, so daß sie grundsätzlich als gepflegte Erscheinung galt und darauf war sie sehr stolz. Sie sah in den Spiegel und lächelte sich aufmunternd zu, "für die Tochter eines verrückten Chauffeurs hast du es ganz schön weit gebracht", sagte sie zu sich selbst. Immerhin war sie im Verlag keine Unbekannte mehr und das Essen heute Abend, auf dem sich zahlreiche Literaturprominenz treffen würde, weil die Neuerscheinung des Starautors Franco Perini gefeiert wurde, konnte für sie ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter nach oben bedeuten. Vielleicht, wenn sie es geschickt anstellen würde, würde sie ja mit dem ein oder anderen wichtigen Mann ins Gespräch kommen und dann, wie ganz nebenbei, fallenlassen, daß auch sie sich als Autorin betätige. Natürlich hatte sie ihrem Vorgesetzten schon einmal einige Manuskripte gezeigt. Der hatte sie überflogen und dann zu ihr gesagt: "Lilo, sie sind ein sehr guter Lektor", er benutzte tatsächlich die maskuline Form, "ein guter Lektor, wirklich, aber als Autor sollten sie sich nicht sehen. Ich meine, was glauben sie denn, wer solche abgedrehten Horrorgeschichten lesen will!?! Wie kommen solche Scheußlichkeiten überhaupt in ihren hübschen Kopf? Fehlt ihnen denn etwas, sind sie unzufrieden bei uns?"
"Zum einen", antwortete Liselotte aufgebracht und um Fassung ringend, "möchte ich sie daran erinnern, daß gerade unser Verlag in den letzten Jahren mit den Horrorgeschichten von Stefan König ein Vermögen verdient hat, da haben sie nicht gefragt, wer solche n Horrorkram lesen will. Außerdem bin ich sehr wohl zufrieden, aber ich glaube, daß ich noch mehr kann, als die Bücher anderer Leute zu bearbeiten, ich glaube nämlich an meine Geschichten!" Damit hatte sie ihm die Manuskripte vom Schreibtisch genommen und war beleidigt und wütend in ihr Büro gegangen.
Besonders ärgerte sie, daß auch Oskar als erstes darauf abgezielt hatte, warum sie denn ausgerechnet Horror geschrieben hatte. Das ärgerte sie so, weil sie selbst nicht so recht wußte, wie sie ausgerechnet zum Horror gekommen war. Es war Generationen her, daß Shelly ihren Frankenstein geschrieben hatte und Drogen nahm Liselotte auch nicht. Einmal hatte sie während des Studiums auf einer Party in einer verqualmten Studentenbude einen Joint mitgeraucht, doch während die anderen dadurch in Fahrt gerieten und die Fete in Schlüpfrigkeiten abrutschte, während ein margerer Kommilitone mit langen Haaren den Marquis de Sade rezitierte, war Liselotte, damals wurde sie von allen Lilli genannt, zur Toilette gestürmt und hatte sich elendig erbrochen. Dann war sie, den Geschmack von Halbverdautem und Magensaft noch nicht ganz aus dem Mund, davongeschlichen, um von den anderen nicht als spießiger Lustmuffel etikettiert zu werden, denn das geschah sehr schnell, auch wenn die Zeiten als besonders liberal galten. Jedenfalls hatte Liselotte danach keine Experimente mehr mit Drogen gemacht und sich auch an sonsten von den Freizeitvergnügungen ihrer Generation ferngehalten. Wenn sie so, besonders an den Wochenenden, in ihrer kleinen Behausung saß, nahm sie sich oft ein paar Bleistifte und einen Block, suchte sich im Radio einen Sender der die ganze Nacht klassische Musik spielte, oder manchmal war ihr auch nach Swing, und dann schrieb sie Geschichten, so wie sie ihr gerade einfielen. Wenn sie diese dann sonntags beim Frühstück noch einmal durchsah war sie ganz überrascht über sich selbst, weil sie wieder Horrorgeschichten geschrieben hatte, die von einer solchen Intensität waren, daß sie sich selbst oft darüber erschreckte, obwohl sie den Ausgang ja hätte kennen müssen, da die Handlung aus ihrer Feder stammte. Doch dann wurde ihr bewußt, daß die vergangene Nacht wie in einem Rausch vorbeigezogen war und sie sich nur noch grob und ohne Details daran erinnern konnte.
Liselotte brachte ihr Studium der Germanistik mit einem soliden Abschluß zu Ende und ergatterte eine unterbezahlte Stelle bei einem mittelgroßen Verlag für Taschenbücher, wo sie sich in relativ kurzer Zeit in die Riege der Lektoren hocharbeitete. Da war sie nun, gebildet und mit einem guten Job, wenn auch immer noch schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen, und einer geheimen Passion für Horrorgeschichten. Nichts ließ ihr einen so wohligen Schauer über den Rücken rieseln, wie ein aus dem Dunkel auftauchendes, furchtbares Monster oder der blutige Wahnsinn, der plötzlich in den dahinplätschernden Alltag einbrach. Was die Liebe zum obskuren letztlich in ihr ausgelöst hatte, diese Frage konnte sie sich nicht beantworten, aber lassen konnte sie davon auch nicht. Wie aber, wenn sie es sich selbst schon nicht erklären konnte, sollte sie anderen begreiflich machen, warum sie, eine gebildete Person, eine gepflegte Erscheinung, ausgerechnet als Autorin von Horrorbüchern anerkannt werden wollte.
An diesem Tag im Büro, als Oskar ihr diese unschöne Abfuhr erteilt hatte, riß sie das Telefon aus ihren Gedanken, jetzt vor dem Spiegel tat es die Klingel. Sie eilte zur Gegensprechanlage und erfuhr auf Nachfrage, daß ihr bestelltes Taxi da sei. Sie hieß den Fahrer einen Moment warten und lief noch einmal vor den Spiegel, überprüfte ein letztes mal den Sitz ihrer Seidenstrümpfe - wie gesagt, sie hatte Stil, auch wenn ihr Geld nicht für ein Modellkleid reichte - und schlüpfte dann in die schwarzen Pumps mit dem halbhohen Absatz, der ihre Waden so schön betonte. An der Gaderobe zog sie ihren Samtblaser über, nahm ihre Handtasche, schaltete den Anrufbeantworter ein, löschte das Licht, verschloß die Wohnungstüre hinter sich, zweimal, und ging dann mit leichten Schritten die Treppen hinab zum Taxi, das genau im Schatten zwischen zwei Laternen auf sie wartete.
Liselotte stieg auf die Rückbank des Taxis; sie liebte zwar den Horror, aber den Terror der Realität wollte sie nicht erleben und dazu gehörte ihrer Meinung nach ganz entschieden aufdringliche Taxifahrer. Nachdem die Türe des Benz mit einem satten Geräusch hinter ihr ins Schloß gefallen war, nannte sie dem Fahrer, sie war trotz der langen Haare und der margeren Statur sicher, daß es ein Mann war, die Adresse des Verlagshauses. Dieser gab nur ein unverständliches Brummeln bon sich und ließ den Motor an. Liselotte war froh, nicht an einen dieser geschwätzigen Typen geraten zu sein, die meinen, sie müßten einem Fahrgast in zwanzig Minuten ihre Lebensgeschichte erzählen oder ihm seine entlocken oder alle Torszenen der Bundesliga nacherzählen. Sie lehnte sich in den braunen Sitz zurück und malte sich aus, wie der Abend laufen würde, ließ ihren Gedanken freien Lauf. Nach drei Abbiegungen und einer Ampel war der Wagen aus dem Wohngebiet raus, der Fahrer beschleunigte die Fahrt auf der mehrspurigen Straße und zündete sich eine Zigarette an. Nach wenigen Augenblicken durchzog der bläuliche Qualm das ganze Auto. Liselotte blickte verärgert nach vorn; über dem Taxameter war ein Schild festgeklebt auf dem sehr deutlich zu lesen war: "Bitte während der Fahrt nicht rauchen" . Diese Ironie war Liselotte eindeutig zu viel, außerdem wollte sie nicht mit einem qualmstinkigen Kleid und Nikotingeruch in den Haaren auf der Party ankommen. "Würde er ihnen etwas ausmachen auf die Zigarette zu verzichten, bis sie mich abgesetzt haben?" Liselotte hatte ihre Bitte bewußt zurückhaltend formuliert, sie wollte es nicht auf einen Streit mit dem Fahrer anlegen, schließlich war dies sein Taxi und sie hoffte darauf, daß der Mann ihr, einer chicen, jungen Frau, diesen Wunsch nicht abschlagen würde. Indessen reagierte der Fahrer aber überhaupt nicht. Liselotte war überrascht, damit hatte sie am wenigsten gerechnet. Jetzt wollte sie deutlicher werden: "Junge Mann, hören sie, machen sie doch bitte die Zigarette aus, ich werde ja hier hinten richtig eingeräuchert!". Statt zu antworten schob der Fahrer eine Kassette in die Anlage und drehte die Lautstärke hoch. Die Schallwelle der metallisch-aggressiven Rockmusik, die von verschiedenen Seiten über Liselotte zusammenstürzte, ließ sie tiefer in den Sitz sinken und so kleiner und eingeschüchterter wirken. Ratsuchend blickte sie aus dem Fenster, durch ihre Spiegelung hindurch sah sie den Randstreifen der Bundesstraße, die aus dem Vorort ins Zentrum führte, dahinfliegen, deutlich schneller als die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit es erlaubte. Liselotte kannte die Straße sehr gut, stellte sie doch ihren täglichen Weg zur Arbeit dar. Jetzt wurde ihr die Sache doch zu bunt: "Fahren sie bitte langsamer. So eilig habe ich es nicht.", schrie sie gegen die Musik in den haarigen Nacken des Fahrers. Der Wagen beschleunigte, Gitarren heulten auf. "Hallo", Liselotte klopfte dem Fahrer auf die Schulter, "fahren sie sofort langsamer oder ich werde mich über sie beschweren!" Die Schulter des Fahrers zuckte gleichgültig , dann wurde der Wagen nach links gerissen und der Fahrer fuhr Slalom zwischen den Mittelstreifen. Liselotte keuchte, "Sind sie irre", schrie sie am Fahrersitz rüttelnd, "halten sie sofort an!". Wieder driftete der Wagen nach links und raste nun den grelle n Scheinwerfern des Gegenverkehrs entgegen. Liselotte schrie auf, der Fahrer lachte und der Sänger auf der Kassette skandierte: "I' m on the highway to hell...". Liselotte zog sich am Fahrersitz nach vorne, um durch die Frontscheibe sehen zu können, ihr Blick streifte den Tachometer, knapp unter zweihundert Stundenkilometer zeigte die Nadel, achtzig waren erlaubt. Die Scheinwerfer flogen rasant auf sie zu, Liselotte hörte das langgezogene Hupen, während sie vom Licht geblendet wurde. Dann, im letzten Moment , riß der Wagen nach rechts aus und es wurde wieder dunkel. Reifen quietschten und Liselottes Oberkörper wurde auf die Sitzmitte geschleudert. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie durch das rechte Seitenfenster die Böschung auf sich zukommen. Kaum war sie sich dieser Tatsache bewußt, da schlugen auch schon Äste gegen Glas und Blech und der Wagen holperte ungebremst über den Grünstreifen. Liselotte, die in der Mitte des Wagens zu sitzen gekommen war, krallte ihre Finger in die Lederjacke des Fahrers, zerrte daran und schrie voller Verzweiflung immer das gleiche Wort: "ANHALTEN!!". Der Wahnsinnige riß daraufhin beide Hände vom Lenkrad und überließ dem Schicksal die Kontrolle über den Wagen, der nach einem größeren Schlagloch wieder auf die Straße zulief und sich in einer leichten Diagonalen wieder der linken Fahrbahn näherte. Liselotte fing sich ein wenig und ließ den Fahrer los. Der ergriff wieder das Steuer und brachte den Wagen auf die Spur, gleichzeitig das Gaspedal durchtretend, so daß die Tachonadel ü ber die Zweihundert schnellte. Liselotte sah das gelbe Ortsschild vorbeifliegen und dann färbte das Licht der Ampel die Tränen auf ihren Wangen rot. Einer harten Bremsung folgend, kreischte der Wagen unter der roten Ampel hindurch und taumelte nach rechts über den Asphalt, hinter sich auf der Kreuzung wütend hupende, querstehende Autos zurücklassend. Zwei langsamere Wagen überholte das Taxi in wahnwitzigen Manövern und die nächste Ampel sprang zum Glück gerade eben auf grün um, als der Mercedes über die Kreuzung zischte. Liselotte saß stocksteif auf dem Rücksitz, Tränen liefen lautlos über ihre Wangen und sie schüttelte kaum merklich den Kopf und ihre Lippen formten unentwegt unhörbare Worte, die irgendwo zwischen Gebet und Abschied schwebten. Als der Wagen erneut abbog, er hielt immer noch den kürzesten Weg in Richtung Verlag ein, geriet er in der Kurve zu weit nach außen und streifte dann ein parkendes Auto. Blech knirschte, eine Radkappe klapperte davon. Noch einmal wurde die Fahrt beschleunigt, die Häuserfront der Alee zog vorbei, als sei sie eine Stellage auf einem fahrenden Güterzug. Jetzt kam der Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die Musik riß ab und einem Moment unwirklicher Stille und Ruhe folgte das gekrächtzte "Endstation" des Fahrers. Liselotte beeilte sich aus dem Wagen zu entkommen. Sie stolperte hastige auf die Straße und noch während ihre Handtasche, deren Trageriemen sie mit der Rechten umklammert hielt, auf dem Sitz lag, heulte der Motor auf, die Reifen quietschten erneut und Liselotte blieb in einer blauen Abgaswolke auf der Straße zurück. Mit schleifenden Absätzen querte sie die Straße und blieb dann auf dem Bürgersteig regungslos stehen.
Zeit war vergangen, Liselotte wußte nicht wieviel, als ihr bewußt wurde, daß sie nicht mal zwanzig Meter vom Haupteingang des Verlagshauses stand, vor dem immer wieder Autos stoppten, auch Taxen, aus denen festlich gekleidete Menschen schlüpften und über die flachen Stufen und durch die große Glastüre im Inneren des Gebäudes verschwanden. Liselotte wand sich ab und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Die kühle Abendluft strömte erfrischend durch ihre Lunge; sie atmete noch, sie lebte noch, der Horror war vorbei. Unterwegs wurde ihr bewußt, daß sie weder die Taxinummer kannte, noch das Autokennzeichen oder den Namen des Fahrers, nichts!
Liselotte schwieg über den Schrecken jener Nacht. Montags, im Verlag, erklärte sie ihr Fehlen mit einer akuten Unpäßlichkeit. Zu ihrem Ärger konnte sie an Oskars Reaktion ablesen, daß man sie kaum vermißt hatte. Ihren Bekannten fiel auf, daß sie sich strikt weigerte in ein Taxi zu steigen. Selbst wenn es spät geworden war oder sie getrunken hatte - sie trank ziemlich viel in letzter Zeit - griff sie auf eine private Mitfahrgelegenheit zurück oder bemühte den immer gleichen Fahrer von dem Fahrdienst, für den ihr Vater früher gefahren war. Keiner in ihrem Umkreis, der zugegebener Maßen nicht sehr groß war, drängte jedoch auf eine Erklärung. Etwa ein halbes Jahr später jedoch, als Liselottes erster Band mit Erzählungen unter dem Titel Taxi zur Hölle veröffentlicht wurde, lächelten einige Freunde wissend.
Liselotte aber setzte sich zufrieden an ihren Schreibtisch, um an ihrem zweiten Buch zu arbeiten, legte eine CD in das tragbare Gerät, das sie sich fürs Büro gekauft hatte, schaltete die Musik an und legte die CD-Hülle auf das Regal: AC/DC, Highway to hell !
(c)Frank Zimmermann

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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