tektonik

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nisavi

Mitglied

die stimme versagt
er kann nicht reden und will doch schreien eine fremde familie lebt längst im hortensienhaus
er kennt sie nicht aber ahnt dass die kinder ball spielen im garten

er will der frau sagen dass er sie oft trifft wenn er schläft
dass er sich sorgt
dass er sich fürchtet weil andere leute in das haus vor der stadt ziehen
menschen die er nicht kennt.
frauen die ihm fremd sind
männer deren sprache er nicht spricht

er möchte überlegen
nachdenken
sich zurückfinden
besinnen
er rechnet
will dass sich jahrezahlen aufeinanderzubewegen
dann fügt er den eigenen namen ein
subtrahiert sich wieder
teilt das ganze in kindheit und erwachsensein
in fußballspiele und handyklingeln
es ist lange her dass er das letzte mal wirklich hier war
er ist ein anderer geworden

er erkennt das gebäude schon von weitem
fachwerk dichte buchsbaumhecken schützen den vorgarten die hortensien sind längst verblüht
alle fenster hell erleuchtet
eine greisin sitzt im sessel über eine handarbeit gebeugt oder ein buch

in astgabeln liegen blauschwarze dohlen auf dem rücken
das gefieder ist glatt die schnäbel glänzen wie teer ihre pergamentenen krallen aber sind verkrümmt und steif
vogelsicheln
er weiß wie die hände alter menschen aussehen wächsern und fleckig die adern zeichnen sich knotig ab unter der haut
zum glück ist es dunkel er steckt die fäuste in die hosentaschen

noch sind die bäume nicht kahl
ihre ungeduldigen schatten flackern in seinem atem verästeln sich in der lunge
er hustet

der asphalt – regennass
laub formt kontinente auf fußwegen
unter seinen schritten schieben sich welke erdteile ineinander ein windstoß lässt sie auseinanderdriften mit der schuhspitze schiebt er afrika in einen gulli

Er beginnt sich zu erinnern, erwacht.
Öffnet die Augen.
Verlässt die Stadt.​
 

Odilo Plank

Mitglied
Hallo Nisavi,
ein hoch codierter Text: das Entsetzen vor den Schlägen der Zeit, der Gewalt der Veränderung, vor dem Vertriebensein aus dem "Hortensienhaus". Die Todesmetapher der "Vogelsicheln" regiert, eine ganze Welt verschwindet im Guli.
Das wäre auch ein Gedicht geworden, bestimmt von der pulsierenden Angst des Herzschlags.
Du hast "tektonik", Prosa gewählt, Nüchternheit, starre Symmetrie, Trostlosigkeit; alte Bilder in unsere Zeit übersetzt.
Du hast mich beeindruckt.
Odilo
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hallo nisavi,

ich schließe mich meinem vorkommentator an. wirklich stark.

liebe grüße
nofrank
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo,

für mich ein sehr starker Text, er regt zum mehrfachen Lesen an, stimmt nachdenklich und zieht mich als Leser in sich hinein. Einzig die äußere Form erscheint mir als nicht wirklich zwingend und die Kleinschreibung und Zeichenlosigkeit (bis auf den Schluß)mehr der Lyrik zugeordnet. Ich habe ihn für mich in einen normalen Fließtext gebracht und er hat dadurch (für mich) nichts an seiner Tiefe und Brisanz verloren.

Lieben Gruß
Franka
 
O

Orangekagebo

Gast
Ich glaube, der Text soll so wirken (zumindest tut er das für mich), zerklüftet wie auch die Unregelmäßigkeiten, Spalten, plastische Verformungen in der Geländetektonik, der Satzbau genau dieser Duktilität unterworfen.

Ein sehr gelungenes Werk, nisavi! Die Überschrift hätte ich anders gewählt.
 



 
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