Telepathie

Telepathie

Alena schloß langsam das Buch, in dem sie bisher gelesen hatte und ließ es auf den Holztisch fallen, der alt aussah, auch wenn er es nicht war. Das Licht der Kerze flackerte unruhig hin und her. Alena lenkte ihren Blick auf die Kerze und erkannte, warum sie nicht richtig brannte. Sie stand zu nahe an dem offenen Kamin, in dem ein Feuer prasselte. Inzwischen war das Wachs schon sehr weich geworden, die Kerze hatte sich durch die Hitze völlig verbogen, so dass sie nunmehr fast rund war. Das flüssige Wachs tropfte an der einen Seite herunter und traf unten auf den gläsernen Kerzenleuchter. Von dort spritzte es weiter auf den Tisch. Alena sah eine Weile zu, hatte aber keine Lust, den Tisch jetzt zu reinigen und damit die Stimmung zu verderben, in der sie sich befand. Also schob sie lediglich die Kerze weiter vom Ofen weg und verlegte das Saubermachen auf morgen.
Draußen war es inzwischen dunkel, die bunte Bleiverglasung in den drei Fensterflügeln warf das Licht des Feuers in allen Farben zurück. Alena nahm ihre Tasse vom Tisch und trank den letzen Schluck Cappuccino, der nur noch annähernd lauwarm war. Sie blickte aus Prinzip nicht auf die Uhr, sie wußte, dass ihre Freundin hin und wieder zu spät kam, aber wenn sie nicht wußte, wie spät es war, konnte sie ihr keine Vorwürfe machen. Das wäre kein guter Start für ihren Urlaub gewesen. Schon vor langer Zeit, es war jetzt bestimmt ein Jahr her, hatten sie sich verabredet, sich hier zu treffen und dann zu warten.
Sie würden beide auf ihre Studienbescheide warten und sich gleichzeitig von den Strapazen der Abiturprüfungen erholen. Endlich hatten sie es geschafft. Alena ballte eine Hand zur Faust. Nie wieder zur Schule. Es war fast, als finge ein komplett anderes Leben an.
Sie stellte die Tasse wieder auf den Tisch, setzte für einen Moment ihre Brille ab, um sie zu putzen und ging, nachdem sie sie wieder aufgesetzt hatte, hinüber zum großen Fenster. Tagsüber konnte man durch die Büsche bis auf den Fluß sehen, im Moment konnte sie nur ein zartes Schimmern wahrnehmen, wenn sich das Licht eines Scheinwerfers darin brach. Keiner dieser Scheinwerfer konnte zum Auto ihrer Freundin gehören, weil diese nämlich aus der entgegengesetzten Richtung kommen würde. Obwohl sie das genau wußte, mußte Alena doch bei jedem kleinen Schimmer daran denken, ob dort nicht vielleicht doch ihre Freundin vorbeifahren würde.
Ein wenig ärgerlich griff Alena schließlich nach dem Band für die Rollläden und ließ die schwere Holzjalousie vor dem Fenster herunter.
Müde ließ sie sich danach in den Schaukelstuhl sinken, wippte ein wenig hin und her und ärgerte sich doch ein bißchen darüber, dass ihre Freundin sie warten ließ. Alena lehnte den Kopf an das Holz des Stuhles, der daraufhin erneut ein wenig schaukelte, und schloß die Augen. Aus irgendeinem Grund mußte sie an einen Film denken, den sie und ihr Freundin vor einiger Zeit im Kino gesehen hatten. Er handelte von Menschen, die übersinnliche Kräfte besaßen. Nach dem Kino hatten sie sich auch noch ein wenig darüber unterhalten, ob es möglich wäre, dass man selbst solche Kräfte besaß. Ihre Freundin hatte die Idee ein wenig zu schnell abgetan, während Alena noch länger darüber nachgedacht hatte.
Ihre Finger spielten gedankenverloren mit einem Gegenstand, der vorher noch nicht dagewesen war, oder hatte sie ihn vielleicht vom Tisch genommen, ohne es bemerkt zu haben? Alena öffnete die Augen mit einem Ruck und betrachtete, was sie in den Händen hielt. Es war eine tragbare Sonnenuhr. Es war nicht irgendeine, Alena erkannte den blauen Stein in der Mitte sofort wieder. Auch die beiden Inschriften auf der Rückseite ließen keinen Zweifel zu. Es handelte sich um die Sonnenuhr ihrer Freundin. Sie benutzte sie, seit ihr Vater sie ihr einmal geschenkt hatte, als Talisman bei Klausuren und Prüfungen. Alena wußte, dass sie ihn selten ablegte. Aber wie zum Teufel war die Sonnenuhr hierher gekommen? Ihre Freundin war nicht hier gewesen. Vielleicht hatte Alena ja nur geschlafen, und ihre Freundin hatte sie nicht wecken wollen.
Alena tat das, was ihr am logischsten erschien. Sie rief mehrmals den Namen ihrer Freundin und lauschte auf Geräusche, die nicht vom Kamin stammten. Nichts. Weder eine Antwort, noch ein Poltern in den Räumen über ihr, nur das Knacken des Feuers.
Dann kam ihr der Gedanke, dass sie in einem Traum umherirrte. Sie ließ sich wieder im Schaukelstuhl zurücksinken und schloß erneut die Augen. Das Bild ihrer Freundin ohne die vertraute Sonnenuhr um ihren Hals ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Plötzlich hörte sie das Brechen eines Astes hinter sich. Jemand schnaufte und atmete schwer. Ihr eigenes Herz hämmerte wie wild.
Alena blickte sich verwirrt um. Was war bloß los mit ihr? So plötzlich war ihr noch nie ein Traum gekommen. Außerdem waren Bilder im Traum meist verschwommener, nicht so deutlich. Sie hatten den Atem hinter sich ja beinahe selber gespürt. Der Gedanke, der jetzt durch ihren Kopf schoß, war so absurd, dass ihr Verstand ihn eliminierte, bevor sie sich an ihn erinnern konnte.
Unter sich sah sie nur Äste und Wurzeln. Sie flogen vorbei. Sie sah zwei Füße, die immer schneller liefen. Ein Stück Stoff wedelte in ihr Blickfeld. Sie roch feuchte Erde. Sie hörte schwere Stiefel hinter sich. Schneller.
Offenbar war Alena nur noch zu diesem Gedanken fähig. Schneller. Doch dann kam es ihr wieder in den Sinn. Es war derselbe Gedanke, den sie eben schon verworfen hatte, aber diesmal klopfte er härter gegen ihren Schädel. Was, wenn es doch möglich war? Was, wenn sie doch über Fähigkeiten verfügte, die Gedanken ihrer Freundin zu erspüren? Alena sprang aus dem Schaukelstuhl auf und blieb eine Weile schweratmend stehen. Nein. Das konnte sie einfach nicht glauben.
Hohes, gelbes Gras schlug gegen ihre nackten Beine und schnitt in die Haut ein. Sie folgte einem halbwegs ausgetretenem Pfad durch den Wald. Rechts von ihr öffnete er sich zu einem Blick auf das Tal und den Fluß darin. Sie hatte keinen Blick dazu. Sie drehte sich kurz um. Sie konnte nur einen Schatten hinter sich erkennen. Dieser Schatten keuchte schrecklich und schrie irgendetwas. Sie konnte es nicht verstehen. Ihre Sinne waren schärfer als zuvor, die Angst ließ sie trotz der Dunkelheit Dinge erkennen, über die sie sonst gefallen wäre. Sie sprang über eine Wurzel. Ihr Herz bebte. Ihre Lungen brannten. Der Regen schlug ihr schmerzhaft ins Gesicht, als sie auf die Lichtung taumelte.
Das reichte Alena. Sie konnte nicht mehr länger wegsehen, ihr Verstand war ihr jetzt egal. Sie wußte nur, das war kein Traum mehr, das war Realität, sie konnte es zwar nicht erklären, aber sie konnte auch nicht erklären, wie die Sonnenuhr ihrer Freundin in ihre Hände gekommen war. Alena schlüpfte gerade noch in die Schuhe, dann rannte sie hinaus in den Regen.
Sie stolperte und schon war der Schatten über ihr. Sie konnte ihn einfach nicht erkennen, sie hörte nur, dass er schnaufte und fluchte, als er sie auf den Rücken drehte. Sie sah etwas heranfliegen und spürte einen brennenden Schmerz auf ihrer Wange. Blut lief träge in ihren Mundwinkel. Ihre trockene, aufgequollene Zunge meldete einen süßlichen, nicht einmal unangenehmen Geschmack. In ihrem Kopf leuchteten tausend Warnsignale. Dunkle, tropfende Locken hingen ihr ins Gesicht und ihre braunen Augen weiteten sich. Der Schatten beugte sich über sie. Sie trat einfach zu, traf irgendetwas weiches und hörte im selben Moment ein Stöhnen. Sie rollte sich zur Seite. Sie hörte ein Plumpsen auf dem Waldboden. Blitzschnell war sie wieder auf den Beinen und rannte weiter. Jetzt konnte sie Hunde bellen hören.
Alenas Jeans waren schon vollkommen durchnäßt, und noch immer stand sie im Hof, ratlos, was sie tun sollte. Das wenige, dass ihre Freundin offenbar von der Landschaft gesehen hatte, konnte sie zuordnen, von hier aus war es letztlich nur den steilen Berg hinauf, aber bei diesem Wetter wäre sie kaum ein paar Schritt weit gekommen, ohne abzurutschen. Wenn sie den Weg nahm, der zunächst unten am Fluß entlang und dann den Berg hinauf führte, würde das zu lange dauern. Ging man in normalen Tempo, konnte man vielleicht in einer halben Stunde oben sein. Wenn Alena jedoch rannte, würde sie zwar schneller oben ankommen, aber auch total erschöpft. Was konnte sie noch tun? Das was zunächst jedem einfallen würde. Die Polizei rufen. Und was sollte sie denen erzählen? Das sie einen Anflug von telepathischen Ambitionen hatte und daher genau wußte, dass ihre Freundin oben auf dem Berg von irgendeinem Psychopathen verfolgt wurde? Und dass sie das alles nur wußte, weil die Sonnenuhr ihrer Freundin ihr einfach in den Schoß gefallen war? Alena konnte sich nicht für eine Aktion entscheiden. Vielleicht konnte sie ihrer Freundin ja sagen, was sie tun sollte? Aber Moment mal, warum waren eigentlich die Haare ihrer Freundin plötzlich dunkel gewesen? Sie waren schon immer blond und längst nicht so gelockt. Die Haare erinnerten eher an ... ihre eigenen langen, dunklen, lockigen Haare, die jetzt in ihrem Gesicht klebten und aus denen beständig Wasser tropft, das in einem kleinen Rinnsal über ihre Brille lief.
Der Boden unter ihr verwandelte sich in ein schnell laufendes Band aus Brauntönen. Pfützen glitzernden ein bißchen, aber sie sah sie zu spät, um nicht hinein zu treten. Ihre Füße verschmolzen mit dem Boden. Sie hatte einen Schuh verloren, aber der andere war genauso dreckig und verschmiert wie ihr bloßer Fuß. Das Kleid hing nur noch in Fetzen an ihr. Ihre Nasenflügel bebte bei jedem Atemzug. Und ihre Verfolger kamen näher. Sie dachte an gar nichts mehr. Ihre Füße taten unglaublich weh, genauso wie ihre Wange. Aber aufgeben war nichts für sie. Zwischen den Bäumen hindurch konnte sie unter sich etwas schimmern sehen. Es war zu nah für den Fluß, und während sie noch rannte, erkannte sie etwas wie ein Haus. Die Silberringe an ihren Armen klimperten erschrocken, als sie die Richtung abrupt änderte und auf den Berghang zulief. Der Boden war weich. Sie konnte sich kaum darauf halten. Hinter ihr grölte es. Jemand bekam ihren Arm zu fassen und drehte sie herum. Dabei verlor er das Gleichgewicht. Er stürzte den Hang hinab. In unglücklicher Stellung blieb er an einem Baum liegen. Sie selbst rutschte ebenfalls weg. Die Beine wurden unter ihrem Körper weggerissen. Das eine hing nach vorne gestreckt, während sie das andere an den Körper gezogen hatte. Steine unter dem Schlamm rissen ihre Haut auf. Sie stieß irgendwo gegen und geriet ins rollen. Ihr Gesicht tauchte in den weichen Boden, kurz darauf war es wieder in der Luft. Mühsam gelang es ihr, sich auf dem Rücken zu halten. Das Haus kam näher. Sie wurde schneller. Sie schrammte an einem Baum entlang. Jemand stand vor dem Haus. Sie konnte ihn nicht erkennen. Plötzlich war der Boden weg. Sie fiel die letzten paar Meter. Vor den Füßen der Person, die dort stand, blieb sie liegen.
In dem Moment, als der Sturz passierte, hatte Alena nach oben geblickt, aber da war nichts. Nur der blanke Abhang mit seinen Bäumen, weder Menschen noch Hunde noch sonst irgendetwas waren zu sehen. Ein Licht ließ sie aufmerken. Es war der Scheinwerfer eines Autos. Es kam den Berg herauf gefahren. Als es durch das Tor fuhr, ertönte die Hupe. Alena blinzelte in das Licht hinein. Der Scheinwerfer erlosch. Im Licht der Lampe vor dem Haus erkannte Alena ihre Freundin, die aus dem Wagen stieg. „Urlaub!“ rief sie ihr lächelnd entgegen. Als sie den Ausdruck auf Alenas Gesicht sah, verstummte sie für einen Moment. „Wieso stehst du hier im Regen?“ Alena war blickte sie verständnislos an. „Ist was passiert?“ stammelte sie. „Jetzt komm erstmal mit rein, sonst wirst du noch krank. Hey, ich hab was für dich.“ Ihre Freundin wedelte mit einem Bündel Papier. „Ich hatte eine Inspiration“, redete sie dann weiter und wandte sich dem Haus zu. Alena folgte ihr. Dann versuchte sie, ihrer Freundin das zu erklären, was passiert war. „Es war komisch. Du ... du wurdest gejagt und bist gelaufen, hier in der Gegend, und dann bist du, den Berg heruntergerutscht.“ Die Reaktion ihrer Freundin hatte sie nicht erwartet. „Du weißt es schon? Aber... ich hab es erst gestern geschrieben! Als ich vorhin im Auto saß, mußte ich dran denken, dass es dir gefallen wird, und jetzt kennst du schon alles!“ Sie hatte die Blätter auf den Tisch gelegt. Alena blickte jetzt darauf. Ihr reichte es, die Überschrift zu lesen: „Die Jagd“
„Aber wieso ich?“ fragte ihre Freundin dann. „Du bist doch meine Hauptfigur. Du bist ein Mädchen mit übersinnlichen Fähigkeiten, dass von ein paar Menschen als Hexe verfolgt wird. Weißt du, nach diesem Film hatte ich das Gefühl, ich hätte unser Gespräch über solche Fähigkeiten zu schnell abgewürgt. Deshalb hab ich dir das geschrieben.“
Alena blickte sie erstaunt an. Seltsam, dachte sie, die Sonnenuhr hängt wieder um ihren Hals.
 



 
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