Tenebrae

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Der Tagsturm hat sie angespült,
die Schiffbruchkapitäne
Wie eine Hand,die drollig das Revers durchwühlt,
grinst du sie an und schüttelst deine Lockenmähne;
reichst ihnen Humpen, eisgekühlt

Zum Wohl auf jeden, der bei diesem Sturm
noch lieben kann


Ein letzter Schnaps gegen die Dunkelheit
(Du stellst ihn sorgsam vor sie hin)
Sie kommen einsam diese Tage
und kaum zu dritt, höchstens zu zweit
Und jeder säuft sich vor zu dieser
allerletzten Frage,
der Angst vor einer Antwort
ohne Sinn

Du sagst Sie saufen, um nicht zu ertrinken
Ich dachte lang, das sei ein Werbespruch von dir
An meiner Theke kann man nicht versinken
Ich habe Anker: Schlager, Bier


Ich gehe nachdenklich hinaus
Dort draußen Ebbe, nirgends See
Vielleicht ist all der Rausch Glasperlentausch
Denn wie das Flaggschiff hieß,
heißt auch die Kneipe: Tenebrae
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Das hat was! Absolut! Und ist so gar nicht an Raum und Zeit gebunden. Das Trinken, um nicht zu Ertrinken kann man mühelos in Arbeiterkneipen der (alten) Kohlereviere ansiedeln, überall da, wo der Mensch wirklich sein Leben in den Schlund der Realität werfen muss. Das Leben scheint weniger 'existentiell' geworden zu sein these days ...

Liebe Grüße
Petra
 

fee_reloaded

Mitglied
Das hat einen tollen, wellenstampfenden Rhythmus, lieber Dio!

Und Inhalt und Sprachmelodie passen perfekt zusammen. Richtig richtig gut, wie du da Stimmung erzeugst - nicht nur in sondern auch zwischen den Zeilen.
Lediglich hier komme ich nicht ganz mit bzw. ergibt es für mich keinen Sinn:

Und jeder säuft sich vor zu dieser
allerletzten Frage,
der Angst vor einer Antwort
ohne Sinn
Saufen sie sich jetzt vor zur letzten Frage oder zu ihrer Angst vor einer Antwort? Oder zur Erkenntnis, dass eine Antwort ihnen fehlenden Sinn in ihren Leben aufzeigen könnte? Angst vor einer sinnlosen Antwort wäre jetzt auch etwas überzogen. Solche Antworten bekommt man doch ständig, oder? Und könnte man schulterzuckend abtun, wenn's ohnehin keinen Sinn ergibt...
Zu einer Angst kann man sich nicht vorsaufen, oder? Die ist doch erst der Grund fürs Saufen an sich, wie ich meine.
Alles so zusammen jedenfalls haut für mich in der Formullierung nicht hin und geht nicht ganz auf - auch, wenn ich glaube, ich ahne, was du sagen möchtest.

Und jeder säuft sich vor zu dieser
allerletzten Frage (finde ich übrigens klasse formuliert),
voll Angst vor einer Antwort
ohne Sinn


könnte ich mir vorstellen, weiß aber natürlich nicht, ob ich damit nicht das von dir Gemeinte komplett um- bzw. fehldeute.
Ansonsten aber ein wirklich starker Text! Sehr gerne gelesen...wenn eben auch mit dem kleinen Fragezeichen. (übrigens hatte ich noch ein weiteres beim "drolligen" Durchwühlen eines Revers...was genau ist an diesem Bild als drollig zu sehen? So etwas wie "ungeschickt" oder "fahrig", "unbeholfen"? Drollig trifft da ein wenig daneben für meine Lesart...das kann aber auch an der Sprachbarriere Ösi-Deutsch-Deutsch-Deutsch liegen...;)

Liebe Grüße,
Claudia
 
Liebe Claudi-Fee

Für mich sehr wertvoll: diese zugewandte, abtastende Beschäftigung mit dem Text!

Deine Befunde sind sehr interessant. Sie erweitern meine Perspektive auf den Text .

Ich will gerne versuchen zu erklären was mir vorschwebte und lasse es einfach neben deiner Kritik stehen, die ich ganz für sich genieße und nicht in frage stellen will

Die Kapitäne saufen sich vor zu „dieser allerletzten Frage“ . Die ist im Kontext dieses Textes charakterisierbar als, oder wie, im Sinne von „der Angst vor einer Antwort ohne Sinn“.

Hier ist zunächst das meerbild einbezogen das vorsaufen im Sinne eines hinabtauchens. Der Akt des berauschens löst Abwehr, Dämme, Gedankenzwänge und das Gift des Alkohols führt zur triebhaften, tierhaften aber doch Rückkehr ins „ureigene“ Es öffnet sich die unberechenbare Tiefsee des Rausches mit dem unausweichlichen Absinken in die eigenen Unterwasserlandschaften der dekonstruierten (zerschellten) tagesobjekte (Schiffe) die keinen Sinn mehr ergeben. am Grunde dieser zweiten Welt des Rausches liegt „diese allerletzte Frage“. Der Text charakterisiert sie nicht weiter. Sie ist in jedem unabtrennbar mit der eigenen Lebenskraft angelegt und eine höchst intime Begegnung . zu dieser Frage trinkt sich jeder der Säufer im Gedicht vor und sie ist wie die Angst vor einer Antwort ohne Sinn- hier nun wird das Bild des berauschten auch zum Geburtshelfer - das ist in meinem Verständnis nicht nur banal sondern auch katastrophal: trotz des intimen Abstiegs muss der Säufer seine Angst „wie in einer Antwort ohne Sinn“ stellen: Die referenzlosigleit, die Bedeutungslosigkeit, als letzte desisullision des verstandesmäßigen Ego die Existenzangst , vernichtungsangst bei seiner gleichzeitigen Auflösung im Rausch ist gleichzeitig auch ein schöpfubgsakt und ermöglicht - hier zumindest dem Zuschauenden LI eine Einsicht: die Flucht ist vielleicht nur eine Illusion und jeder Rausch nur ein Tausch von Glasperlen und die Kneipe ist immer in dir. Mag sein sie selber ist der „Schlund der Realität“ (frei nach Petra)

Bleibt noch die Wirtin mit ihrer wilden Locken Mähne und ihrem Schlager und Bier die sie wie einen Anker bewertet der jeden berauschten vor dem letzten Absinken retten kann. Sie staffiert die Kapitäne aus, wuschelt an ihnen herum, ist niedlich possierlich ein Mädchen vielleicht, spaßig belustigend und vor allem: respektlos, anmaßend, egozentrisch - sie bedient die Süchte und flüchte - sie ist dieser existenziellen Welt enthoben. Ihr Wesen reicht ins sirenenhafte. Sie ist die Loreley der Großstadt - ihre Gesten sind drollig und verbindend doch sie lockt um sie zu zerschellen wie Schiffe. Sie dürfen nicht in die eigene Tiefe absinken unter keinen Umständen!

Merci ! +

Compliments

Dio
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo Dio
Tief gelotet und den (Ab)Grund erfolgreich ergründet!

Sie saufen, um nicht zu ertrinken
ist auch meine Lieblingsstelle.

LG Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 16600

Gast
Also, für mich ein gutes Stück und ich denke, hart erarbeitet.
Mit Claudia gehe ich im wesentlichen dacore.
Gleichwohl, der von ihr beschriebene stampfende Rhythmus geht mir an einigen Stellen unschön verloren.

S1V2 würde ich ändern in
"die Schiffbruch Kapitäne"?

S2V4 in "und kaum zu dritt..." ?
Die entstehende Dopplung von "und" in S2V5 stört bei dieser Erzählweise nicht, finde ich.

Muss es in S2V3 vielleicht "diese" Tage heißen? Umgangssprachlich sagt man in OWL allerdings auch "ich komme dieser Tage".

S3V2 vielleicht eher: "ich dachte lang , es sei ein Werbespruch von dir" ?

Aber am Ende ist auch meine Meinung subjektiv.
Hab mich gern mit den Versen beschäftigt.
Gruß Hans
 
Hi @manehans

vielen Dank für die profunde Beschäftigung. Deine Vorschläge sind sehr gut und beseitigen die unschönen Durchbrechungen des Rhythmus. Habe sie gerne übernommen und der Text hat davon sehr profitiert! Merci!

mes compliments

Dio
 
G

Gelöschtes Mitglied 16600

Gast
Schön Dio, dass du etwas mit meinen Anmerkungen anfangen konntest.
Vielleicht noch eine Korrektur in V3S2 "dass".
Gruß Hans
 



 
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