Thorkell Arnason

Ofterdingen

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Thorkell Arnason


Viele Bewohner des Häuserblocks waren dürr wie die auf dem Boden des nahen Wäldchens herumliegenden Äste, doch Thorkell Arnason hatte sich dicke Muskeln antrainiert, damals bei Schleswig 06, dem zweitbesten Sportverein Deutschlands. Der beste war der Kieler TV von 1885.

Wenn man Thorkell auf seinen Namen ansprach, sagte er, sein Großvater habe in einem kleinen Ort auf Spitzbergen gewohnt, wo er sich hauptsächlich damit beschäftigte, Eisbären totzuschlagen, die seine Familie dann verzehrte und deren Fell er an rheumatische ältere Damen aus Deutschland und den Niederlanden verkaufte. Die hätten nicht nur einen recht stattlichen Preis gezahlt, sondern ihm außerdem noch Delikatess-Sauerkraut und holländische Gewächshaustomaten geschickt, die nach nichts schmeckten, aber herrlich rot aussahen. Mit dem Sauerkraut habe er deutsche Touristinnen angelockt und die Tomaten habe er vor dem Haus in den Schnee gelegt, und sobald ein Eisbär gekommen sei, habe er seine große Keule aus dem Schrank geholt und die Bestie erledigt.

Natürlich war die Saga vom Großvater reine Erfindung. Thorkell liebte es, solche Geschichten zu erzählen, besonders an kalten und grauen Winterabenden, wenn man zwar nicht an einem lustig flackernden Kaminfeuer saß, aber doch trocken und warm in der Nähe eines Heizkörpers und ab und zu hinausschaute auf die Straße, wo ein Obdachloser sich in eine große Schachtel verkroch, aus der er wahrscheinlich am nächsten Morgen nicht wieder herauskommen würde bei den eisigen Temperaturen.

Thorkell erzählte immer gern irgendwelche erfundenen Sachen über sich selbst und die Seinen, doch interessierte er sich nur wenig für seine Herkunft. Vermutlich stammte seine Familie aus Island oder Norwegen, aus einem Ort, in dem es mehr gab als bloß Eisbären und Polarlichter. Vielleicht Familienzwiste und Blutrache, eine Gefühlslandschaft, aus der Frauen und Männer groß herausragen konnten, zum Beispiel, wenn sie Nora oder Gisli hießen. Große Geschichten, die Thorkell zu eigenen Erzählungen inspirierten. So viel mehr als Fernsehnachrichten oder Zeitungsmeldungen, die einem die Menschheit als hirnlose und verkommene Masse vorführten und die Realität als triste Wirklichkeit.

Jetzt wohnte Thorkell in der bayerischen Hauptstadt, einem Ort mit vielen Parks, Biergärten und groben, direkten Menschen, wo es sich jedenfalls sehr viel angenehmer lebte als irgendwo da oben im kalten Norden.

Thorkell war nicht blond, sondern hatte dunkelbraunes Haar, doch wies ihn allein sein Name schon als arisch aus. Das half ihm bei Auseinandersetzungen mit rechtsextremen gewalttätigen Menschen, von denen es in Deutschland immer mehr gab. Die ließen ihn meistens in Frieden. Man musste sie ja nicht unnötig provozieren, indem man zum Beispiel auf deren Reichskriegsflaggen oder sonstige Textilien spuckte.

So lebte Thorkell eine ganze Weile ereignislos in München, aber ereignislos übersetzte er sich bald nur noch in Wörter wie gewöhnlich und langweilig. So konnte es nicht weitergehen.

In München gab es keine Eisbären, die man ungestraft totschlagen durfte, und er hatte auch keine Familie, die er mit Eisbärenfleisch sättigen musste, doch lag eine Keule in seinem Schrank und ihn plagte ein immer noch starker Drang. Nur hatte die Kraft hinter seiner Keule ein wenig nachgelassen und in dieser Stadt war er um einiges weicher, ja, viel zu weich geworden, dachte er, und er begann, sich zu verachten. So konnte es wirklich nicht weitergehen.

Thorkell lebte in einem Wohnblock und vor seinem Fenster endete der Blick an einem anderen Wohnblock. Ihm gefiel es in dieser Straße, denn zwischen den Wohnblöcken stand eine Kiefer und in dem Baum saß morgens ein Distelfink, der mit seinem Jubelgesang die Sonne begrüßte. Er mochte den Vogel sehr. Sein fröhliches Zwitschern verwandelte die grauen Mauern, öffnete das Tor in eine andere Welt.

Eines Tages musste Thorkell mit ansehen, wie eine grau getigerte Katze ihn fing und tötete. Da holte er seine Keule aus dem Schrank, erschlug die Katze, zog ihr das Fell ab und lud einige Freunde zum Essen ein. Kaninchenbraten, sagte er. Seine Gäste lobten das weiße Fleisch. Wunderbar zart, sagten sie. Dann redeten sie auf ihn ein, sagten, sie liebten seine Geschichten und wann er sie denn endlich aufschreibe. Aufschreiben? fragte er und dann schrieb er einige auf.

Beim nächsten Kaninchenbraten sagten sie, sie hätten seine Erzählungen gern als Buch und fragten ihn, wann er sie denn endlich mal einem Verlag anbieten würde. Gar nicht, antwortete er. Ich habe sie aufgeschrieben, viel gestrichen und gefeilt, bis jedes Wort stimmte, und ich will nicht, dass irgendwelche stumpfen Menschen sich jetzt darüber hermachen, die meinen, sie müssten meine Sätze verbessern. Sie werden bloß alles verderben. Ja, gut, ich werde die Sachen drucken, aber ohne Verlag.

Es vergingen einige Monate, in dieser Zeit lud er sie noch öfter zum Kaninchenbraten ein und irgendwann hatte er elf Felle, alle von graugetigerten Katzen. Er hatte zwölf Freunde und für sie ließ er zwölf Bücher drucken und binden und elf von ihnen mit Fellen überziehen. Als Titel seines Buches wählte er „Graufell“.

Als Thorkell die zwölfte Katze erschlug, beobachtete ihn ein Nachbar, der Glatzkopf Ansgar Grendel, der das Tier kannte und gleich zu dessen Besitzer hinüberging, einem Neonazi namens Hermann Kalbitz. Später an diesem Tag saß Thorkell am Küchentisch und bearbeitete das Katzenfell. Nebenan riss einer mit dem Presslufthammer eine Zwischenwand ein und bei dem furchtbaren Lärm hätte Thorkell fast seine Wohnungsklingel nicht gehört. Durch den Türspion sah er, dass Ansgar Grendel und einige andere Typen mit kahlrasiertem Schädel draußen standen, von denen einer brüllte: „Mach auf, du Schwein!“ Thorkell holte seine Keule aus dem Schrank, öffnete die Tür und sprang zur Seite. Gleich stürmten die Kerle herein, da schlug er sie tot, machte sich dann aber nicht die Mühe, ihnen die Haut abzuziehen und diese zu einem Bucheinband zu verarbeiten, denn er brauchte keinen mehr. Für alle seine Freunde gab es bereits ein Buch samt Einband.

Nach Mitternacht warf er die toten Kerle ausreichend verpackt in den Müllcontainer. Diesen holte morgens um sechs ein Lastwagen der Stadt ab, kippte den Inhalt in den Brennofen. So verschwanden die Burschen für immer. Sie waren zwar nicht so schlimm wie die Katzen, denn sie töteten keine Singvögel, aber widerlich waren sie auch.

Lies uns doch mal eine von den Geschichten aus deinem Buch vor, sagten zwei seiner Nichten, denn Thorkells Schwester war fleißig gewesen und hatte für Nachwuchs gesorgt.

Nein, sagte er, das Graufell habe ich hinausgegeben, verschenkt, das gehört mir nicht mehr. Aber keine Sorge, Geschichten gibt es noch viele, jeden Tag neue, wenn ihr das wollt.


 



 
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