Willibald
Mitglied
Lang her
Bei der Inhaberin Alma Lang kaufte ich meine erste Schallplatte, als ich zwölf Jahre alt war. Meine Großmutter hatte mir ein großes, silbernes Fünf-Markstück geschenkt, zur freien Verfügung. Finanziell eine große Sache für mich. Und alles war gleich nicht mehr so grässlich und schwer. Bei Alma Lang gab es einen Plattenspieler im Laden, viel Klassisches. Amerikanische Platten, etwa fünf. Ich wählte "Gonna lay down my burden...", es sang und spielte Louis Armstrong auf Decca und ich hörte das Stück zuhause ununterbrochen zwei Tage lang auf dem Plattenspieler. Den Eltern war das nicht recht. "Was soll das? Was hast denn du für Bürden? Das Schuheputzen am Samstag?"
http://up.picr.de/33949325xu.jpg
Drei Tage später saß ich auf dem überdachten Schmiedeeisen-Balkon der Gaggellvilla ("Villa Witzleben") im ersten Stock. Man blickte in den verwilderten Park ringsum, die Buchen, Kastanien, Linden, die riesige Fichte rauschten leise, die Bürgstädterstraße war nicht zu sehen. Ich trommelte los. Meine Eltern waren unterwegs in der Stadt, es ging um den Kauf eines neuen Telefunken-Radios mit flaschengrünem, magischen Auge und elfenbeinfarbigen Zierleisten. Und dass es womöglich zu groß und protzig herumstehen würde, alles dominieren, wie eine "Kuh", da auf dem hölzernen Sofa-Anbau. Entworfen von meiner Mutter, der akademischen Malerin, wie mein Vater sie manchmal nannte. Der Schreiner Rose in der Schererstraße ganz nahe beim Sandsteingymnasium hatte das Sofa nach ihren Zeichnungen gebaut. "Auf unserem Sofa so eine plumpe Kuh?!" Da war sie doch auf der Hut! Da musste man genau schauen und prüfen, bevor man kaufte und alles verschandelte.
Vor einiger Zeit fiel mir in der Nähe von Dillingen eine merkwürdige Kirche auf, der Turm vergleichsweise wuchtig im Verhältnis zum Körper, der Grundriss in der Form eines griechischen Kreuzes, über dem achteckigen Raum eine Kuppel mit aufgesetzter achteckiger Laterne und acht Lichtöffnungen, der Name - "Marienkapelle" - eine Untertreibung, das war keine Kapelle mehr. Ich stieg aus dem Auto, betrat den kleinen Friedhof. Und traf wieder auf einen Lang.
http://up.picr.de/33916914wo.jpg
Am Eingang rechts findet sich der Epitaph "Hier ruht der verwesliche Leib des Hochwürdigen Wohlgeborenen Herrn Jakob Lang", " Pfarrers von Binswangen", in Miltenberg geboren am 27. Februar 1817, in Binswangen gestorben am 12. Juni 1886. „R.I.P.“ Drei Gedichtstrophen von einem Stephan Bröll: Jakob Lang - "voll Wehgefühl bei fremden Thränen - bei eig´nem Schmerz ein stiller Mann". Ein Seelenhirte "fein und hoch-gesinnt", "der Blumenwelt hold wie ein Kind".
Faible des Priesters für Blumen, in einem kleinen Dorf, in der Nähe einer kleinen katholischen Universität (Dillingen) und - laut seinem Laudator - zugetan "dem Wahren, Guten, Schönen". Wie hat es ihn aus Miltenberg und Unterfranken hierher, ja doch, „verschlagen“? Hat er den Kontakt zur Universität in Dillingen gesucht? Vielleicht kriege ich es raus, bei einem Besuch in Miltenberg. Dort im Pfarrbuch nachschauen.
http://up.picr.de/33916878tr.jpg
Miltenberg: Nachschauen, ob der Mond mit Pfeife noch im Verputz des Gymnasiums zu entdecken wäre. Ich hatte ihn dort am siebten Geburtstag mit Hammer und Meißel erschaffen, mein „ww“ darunter gemeißelt und war mächtig stolz. Mit Vierzehn mich erfolglos, völlig aussichtslos, entrückt der Wirklichkeit, in Ute Z. verliebt. Beim Sportfest unten am Main war sie die vierhundert Meter in der Staffel gelaufen, an uns vorbei, schöner als alles, was ich kannte. Ja.
Miltenberg: Hilversum. Was meldet sich da in der Erinnerung? Das Radio auf dem Sofa des Schreiners Rose und der Mutter. Das magische Auge rechts oben und darunter BBC, Bremen, Lille1, Luxembourgh, Monte Carlo, AFN München, Hilversum, Hilversum I und Hilversum II, UKW, Langwelle, Kurzwelle, Mittelwelle. „Hilversum“, für den Jungen ein magischer Name, keine Ahnung, wo das lag.
http://up.picr.de/33916881th.jpg
Jetzt im Arbeitszimmer in München, vor dem Fenster im zweiten Stock die Esche, legte ich die Decca-Platte von Louis Armstrong auf („Gonna lay down my burden“). Auf der A-Seite singt Louis Armstrong "Blueberry Hill".
Vor meinem Fenster im zweiten Stock schüttelt sich die Esche und biegt sich im Wind, der plötzlich aufgekommen ist. Leises Mitsummen, alle Strophen des Blaubeeren-Liedes. Ute, wie sie auf der Aschenbahn am Main in der Staffel läuft, schöner als alles, was ich kannte. Und drei Jahre älter als ich. Damals nur im Vorbei gegenwärtig und nah. Heute auch.
I found my thrill on Blueberry Hill
On Blueberry Hill when I found you
The moon stood still on Blueberry Hill
And lingered until my dreams came true
https://www.youtube.com/watch?v=ts1qTynO1zg
The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be
Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill on Blueberry Hill
Come climb the hill with me, baby
(On Blueberry Hill) We'll see what we will see
(On Blueberry Hill) I'll bring my horn with me
(When I found you) I'll be wit' you where berries are blue
(The moon stood still) Each afternoon we'll go
(On Blueberry Hill) Higher than the moon we'll go
(And lingered until) Then, to a weddin' in June we'll go
(My dreams…)
The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be
Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill, yes, Blueberry Hill.
Kruzifix schimpft man leise vor sich hin, um die Rührung zu stoppen, Kruzifix. Und: In allen Münchner Kirchen und Kapellen sollte man dem Herrgott danken, dass er uns diesen Louis Armstrong auf diese unsere Erde gesandt hat. Da ich noch also schreibe, siehe, da überschattet den Baum und das Haus und ganz Obermenzing eine lichte Wolke. Und eine Stimme aus der Wolke spricht: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich mein Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.
Bin in einer merkwürdigen Kleinstadt in Unterfranken aufgewachsen: Miltenberg, vom Main durchflossen, links der Odenwald, rechts der Spessart, Sandsteinbrüche, Sandsteinhäuser, Fachwerkhäuser, ihre Balken dunkel, ehemals mit Ochsenblut gestrichen, ein Gymnasium aus rotem Sandstein in der Luitpoldstraße. Dort gab es einen merkwürdigen Musiklehrer: Andreas Lang. Und eine merkwürdige Musikalienhandlung, auch Lang, nicht sehr häufig aufgesucht, eher spärliche Auslagen im Fenster, Noten und Bücher: "Die Geigenschule", "Die Flötenschule" und so die Reihe weiter.»Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen«,
Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt, Ges. Schriften, Bd. 20. 1, Frankfurt/Main 1986, S. 395
Bei der Inhaberin Alma Lang kaufte ich meine erste Schallplatte, als ich zwölf Jahre alt war. Meine Großmutter hatte mir ein großes, silbernes Fünf-Markstück geschenkt, zur freien Verfügung. Finanziell eine große Sache für mich. Und alles war gleich nicht mehr so grässlich und schwer. Bei Alma Lang gab es einen Plattenspieler im Laden, viel Klassisches. Amerikanische Platten, etwa fünf. Ich wählte "Gonna lay down my burden...", es sang und spielte Louis Armstrong auf Decca und ich hörte das Stück zuhause ununterbrochen zwei Tage lang auf dem Plattenspieler. Den Eltern war das nicht recht. "Was soll das? Was hast denn du für Bürden? Das Schuheputzen am Samstag?"
http://up.picr.de/33949325xu.jpg
Drei Tage später saß ich auf dem überdachten Schmiedeeisen-Balkon der Gaggellvilla ("Villa Witzleben") im ersten Stock. Man blickte in den verwilderten Park ringsum, die Buchen, Kastanien, Linden, die riesige Fichte rauschten leise, die Bürgstädterstraße war nicht zu sehen. Ich trommelte los. Meine Eltern waren unterwegs in der Stadt, es ging um den Kauf eines neuen Telefunken-Radios mit flaschengrünem, magischen Auge und elfenbeinfarbigen Zierleisten. Und dass es womöglich zu groß und protzig herumstehen würde, alles dominieren, wie eine "Kuh", da auf dem hölzernen Sofa-Anbau. Entworfen von meiner Mutter, der akademischen Malerin, wie mein Vater sie manchmal nannte. Der Schreiner Rose in der Schererstraße ganz nahe beim Sandsteingymnasium hatte das Sofa nach ihren Zeichnungen gebaut. "Auf unserem Sofa so eine plumpe Kuh?!" Da war sie doch auf der Hut! Da musste man genau schauen und prüfen, bevor man kaufte und alles verschandelte.
Vor einiger Zeit fiel mir in der Nähe von Dillingen eine merkwürdige Kirche auf, der Turm vergleichsweise wuchtig im Verhältnis zum Körper, der Grundriss in der Form eines griechischen Kreuzes, über dem achteckigen Raum eine Kuppel mit aufgesetzter achteckiger Laterne und acht Lichtöffnungen, der Name - "Marienkapelle" - eine Untertreibung, das war keine Kapelle mehr. Ich stieg aus dem Auto, betrat den kleinen Friedhof. Und traf wieder auf einen Lang.
http://up.picr.de/33916914wo.jpg
Am Eingang rechts findet sich der Epitaph "Hier ruht der verwesliche Leib des Hochwürdigen Wohlgeborenen Herrn Jakob Lang", " Pfarrers von Binswangen", in Miltenberg geboren am 27. Februar 1817, in Binswangen gestorben am 12. Juni 1886. „R.I.P.“ Drei Gedichtstrophen von einem Stephan Bröll: Jakob Lang - "voll Wehgefühl bei fremden Thränen - bei eig´nem Schmerz ein stiller Mann". Ein Seelenhirte "fein und hoch-gesinnt", "der Blumenwelt hold wie ein Kind".
Faible des Priesters für Blumen, in einem kleinen Dorf, in der Nähe einer kleinen katholischen Universität (Dillingen) und - laut seinem Laudator - zugetan "dem Wahren, Guten, Schönen". Wie hat es ihn aus Miltenberg und Unterfranken hierher, ja doch, „verschlagen“? Hat er den Kontakt zur Universität in Dillingen gesucht? Vielleicht kriege ich es raus, bei einem Besuch in Miltenberg. Dort im Pfarrbuch nachschauen.
http://up.picr.de/33916878tr.jpg
Miltenberg: Nachschauen, ob der Mond mit Pfeife noch im Verputz des Gymnasiums zu entdecken wäre. Ich hatte ihn dort am siebten Geburtstag mit Hammer und Meißel erschaffen, mein „ww“ darunter gemeißelt und war mächtig stolz. Mit Vierzehn mich erfolglos, völlig aussichtslos, entrückt der Wirklichkeit, in Ute Z. verliebt. Beim Sportfest unten am Main war sie die vierhundert Meter in der Staffel gelaufen, an uns vorbei, schöner als alles, was ich kannte. Ja.
Miltenberg: Hilversum. Was meldet sich da in der Erinnerung? Das Radio auf dem Sofa des Schreiners Rose und der Mutter. Das magische Auge rechts oben und darunter BBC, Bremen, Lille1, Luxembourgh, Monte Carlo, AFN München, Hilversum, Hilversum I und Hilversum II, UKW, Langwelle, Kurzwelle, Mittelwelle. „Hilversum“, für den Jungen ein magischer Name, keine Ahnung, wo das lag.
http://up.picr.de/33916881th.jpg
Jetzt im Arbeitszimmer in München, vor dem Fenster im zweiten Stock die Esche, legte ich die Decca-Platte von Louis Armstrong auf („Gonna lay down my burden“). Auf der A-Seite singt Louis Armstrong "Blueberry Hill".
Vor meinem Fenster im zweiten Stock schüttelt sich die Esche und biegt sich im Wind, der plötzlich aufgekommen ist. Leises Mitsummen, alle Strophen des Blaubeeren-Liedes. Ute, wie sie auf der Aschenbahn am Main in der Staffel läuft, schöner als alles, was ich kannte. Und drei Jahre älter als ich. Damals nur im Vorbei gegenwärtig und nah. Heute auch.
I found my thrill on Blueberry Hill
On Blueberry Hill when I found you
The moon stood still on Blueberry Hill
And lingered until my dreams came true
https://www.youtube.com/watch?v=ts1qTynO1zg
The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be
Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill on Blueberry Hill
Come climb the hill with me, baby
(On Blueberry Hill) We'll see what we will see
(On Blueberry Hill) I'll bring my horn with me
(When I found you) I'll be wit' you where berries are blue
(The moon stood still) Each afternoon we'll go
(On Blueberry Hill) Higher than the moon we'll go
(And lingered until) Then, to a weddin' in June we'll go
(My dreams…)
The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be
Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill, yes, Blueberry Hill.
Kruzifix schimpft man leise vor sich hin, um die Rührung zu stoppen, Kruzifix. Und: In allen Münchner Kirchen und Kapellen sollte man dem Herrgott danken, dass er uns diesen Louis Armstrong auf diese unsere Erde gesandt hat. Da ich noch also schreibe, siehe, da überschattet den Baum und das Haus und ganz Obermenzing eine lichte Wolke. Und eine Stimme aus der Wolke spricht: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich mein Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.