Thylda

2,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Karinina

Mitglied
Thylda - oder : Meine sonderbare Freundin

Vor dem hohen Bogenfenster meines Zimmers tut sich ein weites, ebenes Land auf, das sich gleichförmig bis an den Horizont hin ausdehnt und in einem entschiedenen Gegensatz zur Aussicht aus den Vorderfenstern des Hauses und dem Hause selbst sich zeigt.

Vorn hinaus liegt das städtischste Großstadtbild, das man sich nur denken kann, gemildert durchaus durch den Blick in das liebliche Elbetal mit den Loschwitzhängen, dem Luisenhof, der weißen Kuppel der Sternwarte des Ardenneschen Anwesens, den drei bekannten Elbschlössern und der Saloppe.

Das Haus selbst ist reinster Jugenstil, viel farbiges Glas, viel warmes Holz, viel geschmiedetes Eisen, geschwungene Linien, stilisierte Ornamente, Wölbungen, Grazilität, nichts Plumbes, ein Kleinod.

Dieser rasche, nicht vermutete Übergang zwischen der Stadt und den Feldern hat mich schon einmal überrascht, damals, als ich das erste Mal aus diesem Fenster in das Land hinaussah und sich mir ein großes Stück Ödland mit riesigen Brennesselmeeren darbot.

Ich habe nichts übrig für das Land, oder besser gesagt, damals hatte ich nichts übrig dafür. Ich sagte zu Thylda, sie solle sich Gardinen kaufen. Oder ein Rollo.
„Ja“,sagte Thylda damals, „ein Rollo ist das Richtige.“

Und sie lachte. Ich wußte, warum sie lachte, ich wußte auch, dass dieses Lachen eine Spur zu selbstsicher war. Ich wußte eigentlich an diesem Fenster urplötzlich alles über Thylda, obwohl ich mir heute, angesichts meiner eigenen Stimmung, nicht mehr so sicher bin.

Wahrscheinlich bin ich heute in dem Alter, in dem sich Thylda damals befand. Ich meine nicht das konkrete Alter, ich meine das Alter, in dem man
sich von einem Tag zum anderen befinden kann,plötzlich, ohne Vorankündigung.

Ich fürchte, es ist mir bewußt geworden, als ich, durch einen der merkwürdigsten Zufälle, ausgerechnet dieses Zimmer für meine Dienstreise nach Dresden zugewiesen bekam.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Thylda eine besondere Rolle in meinem Leben gespielt hat. Vermutlich hatte ich sie sofort vergessen. Vermutlich habe ich mich dafür sogar geschämt. Ich nehme an, Thylda war nicht nur für mich eine „Entgleisung“, sie wird es für eine ganze Reihe ganz bestimmter Jungens gewesen sein, ich nehme an, ich war einer von den letzten, vielleicht der Vorletzte überhaupt.

Der Letzte allerdings war ich nicht.
Aber das hat mich damals in keiner Weise gestört, ich würde sagen, es stört mich auch heute noch nicht, wäre nicht etwas, was mich, angesichts des frisch aufgebrochenen, endlosen Ackers davor und angesichts einer hellen Stelle an der ockerfarbenen Wand in dem noch immer wie damals möbilierten Zimmer auf eine merkwürdige Weise anrührt.

Es muss etwas zwischen mir und Thylda vorgegangen sein, hier, in diesem Zimmer. Vielleicht sogar nur in mir, denn Thylda war wohl auf diese Geschichten auf herzzerbrechende Weise vorbereitet und eingespielt.

Ich sage Ihnen das, weil dieser schroffe Gegesatz zum Villenvorort, in dem sie wohnte, für uns immer ein Grund für Späße war: So eigentlich war Thylda auch. Wer Thylda noch nicht gesehen hatte und nur ihre Stimme kannte, hielt sie für eine zärtliche, warmherzige sehr intelligente Superfrau. Aber es war nicht nur ihre Stimme allein, es war auch das, was sie sagte, dieses wunderbare, abgewogene sehr stilvolle Deutsch. Kein Wort zuviel, keines zuwenig, alles in ungewohnten, aber nie übertriebenen Wendungen, alles sehr weich und dunkel, ein aus großen Tiefen kommendes Alt.

Wenn Thylda aber zwischen den Bücherregalen durch den Lesesaal schritt "wackelte die Wand" wie man so schön sagt. Ein TausendtalerPferd! Ein Bauer von echtem Schrot und Korn. Und: sie war auch immer in Grau gekleidet, in ein unauffälliges, bäurisches Grau.

Heute bilde ich mir ein, dass Thylda mit Absicht immer in Grau gekleidet war und mit nichts anderem als ihrer Stimme auf sich aufmerksam machen wollte.

Und trotzdem war das erste, was man den neuen Volontären mit auf den Weg gab, eine Warnung:
“Geht ihr aus dem Weg“, sagte der Bereichsleiter, „mit Thylda ist nicht zu spaßen...“
Wir lachten dumm, denn Thylda war nun wirklich die Letzte, nach der wir uns umgesehen hätten.
Jetzt sage ich mir, dass gerade diese Warnung einen gewissen Reiz für mich gehabt haben muss. Und wahrscheinlich nicht nur für mich.

Ich hatte eigentlich mit Thylda nichts zu tun. Wir arbeiteten in getrenn- ten Bereichen. Manchmal hörte ich ihre Stimme hinter einer Wand von Büchern hervor, dann verhielt ich mich unbewußt still, es war einfach ein Erlebnis,ihr zuzuhören. Aber keiner von uns Volontären wollte gern neben ihr gesehen werden, wir gingen ihr aus dem Weg. Hin und wieder aber musste einer von uns mit Thylda eine Betriebsausleihe übernehmen. Wir waren jedesmal gespannt, wen es treffen würde und wie er am nächsten Tag auf Thylda reagierte. Es gab die verschiedensten Varianten. Nur Thylda blieb immer gleich. Sie hat nie einen von uns anders angesehen als die anderen, sie hat überhaupt nie jemanden in dem Sinne angesehen. Es gab überhaupt nichts, was zwischen Thylda und einem von uns hin und her gegangen wäre.

Vielleicht aber war doch alles ganz anders, denn, wenn sie so spurlos an uns vorbeigegangen wäre, wieso war sie dann die Frau, über die ich heute nachdenke? Wieso konnte dieses Etwas damals in diesem Zimmer zwischen Thylda und mir vorgangen sein?
Alle anderen Frauen aus dieser Zeit, mehr oder weniger jung, mehr oder weniger attraktiv, haben nichts dergleichen hinterlassen, obwohl es eine Reihe kleinerer Abenteuer zwischen mir und ihnen gegeben haben muss, denn schließlich kam ich als „erfahrener“ Mann „unter die Haube“.

Es kann also nicht ganz stimmen, wenn ich mir einbilde,Thylda hätte keine Rolle in meinem Leben gespielt.
Was also war mit Thylda ?

Ich nehme an, dass ich mich eine Zeitlang vor der Betriebsausleihe mit Thylda erfolgreich gedrückt hatte, denn es war kurz vor Ende der Volontärzeit, dass ich mit Thylda zur Betriebsausleihe musste.
Der Bus mit den Büchern streikte auf der Rückfahrt und Thylda bat mich, ihr die Kiste mit den Büchern hinauf in ihre Wohnung zu bringen. Es war schon Nacht, als ich mit ihr durch das stille Villenviertel den Berg hinaufstieg und sie mir, oben angelangt, den Blick in die erleuchtete Stadt hinunter zeigte. Wir standen in diesem Jugendstil-Treppenhaus, es war sehr still, und diese Stille und dieser Blick in das Tal, ich weiß es nicht, vielleicht aber war es das schon, was mich verführte.
Ich sagte ihr alles mögliche. Ich nehme an, ich war betrunken. Das zumindest habe ich lange Zeit als Entschuldigung vor mir selbst geglaubt.
Thylda hörte sich alles gelassen an. Sie lachte manchmal, es war etwas in diesem Lachen, dass mich noch mehr anstachelte. Ich glaube, dass Thylda das wusste.
In dem Treppenhaus mit den bunten Ornamentglasscheiben, dem Geruch nach altem Holz, nach Büchern und süßen Gewürzen- „es ist Myrrhe“ sagte sie zwischen sehr erfahrenen Küssen- suchte mich eine unbeschreibliche Begierde heim nach großer Schönheit, nach Ruhe, nach Hin- oder Aufgabe, weniger nach Besitz, mehr nach Verlieren, sich verlieren, oder wie immer man das bezeichnen soll. Ich träumte mich gewissermaßen von Treppenstufe zu Treppenstufe durch das mir aufgetane Lichtermeer der Stadt im Tal hinauf in eine stilisierte Welt, in einen Wunsch, in etwas Verwunschenes. Ich sagte, dass ich sie sehr begehre, dass sie schön sei, weich, sanft und zart. Ihre Hände schimmerten weiß im Dunkel, ihre Augen waren schwarz und groß und sie flüsterte und lachte in einer Art und küsste mich und streichelte mich und gab aber, dass muss ich sagen, keine der Stufen freiwillig her, sie verteidigte jede Handbreit Boden nicht durch Abwehr, eher durch große erfahrene Bereitwilligkeit, eher wie eine Frau, die weiß, dass Verbot nur lockt.
„Jungchen“, flüsterte sie und lachte, „ach Jungchen, du Kleiner...“

„Ich liebe dich...“, sagte ich in Ekstase immer wieder in alle Falten ihres grauen Kleides, in ihr Haar, in die Beuge ihrer entblößten Arme, in ihren Nacken, überall hin, wohin mein Mund mich trieb.

Und zwischen ihren Küssen flüsterte sie:
„Ja, mein Kleiner, alle Jungens lieben mich, auch du, bis du mich am Morgen mit meinem dicken Hintern in der Küche stehen siehst, wenn ich dir das Frühstück mache...“

Und sie lachte auf ihre resignierte und erfahrene Art und ich hatte schon meinen Fuß in ihrer Tür und meine Hand in ihrem Kleid...

In der Nacht,auf das zerwühlte Bett fiel hin und wieder ein Strahl vom Mondlicht, das durch dunkle Wolken seinen Weg gefunden hatte, zerrann etwas von meiner Gier nach ihren Küssen. Etwas drängte mich, abzulassen von ihr. Ich fühlte mich wie gefangen, eingesperrt, wie festgehalten, oder gebunden. Ihre weiche Haut, deren makelloses Weiß im Mondlicht schimmerte, schien mir kalt, wie aus Eis, obwohl sie doch gerade noch heiß und lockend gewesen war. Ihr Haar, dass ungebunden in langen Wellen seinen zarten Duft um mich verströmte, schien mir wie ein Gespinst aus Polypenarmen, die mich zu zerreißen drohten, und der so verlockende, gerade noch ersehnte Eingang in
ihr Inneres,den ich mit meinen Fingern, mit Lippen und Mund so sehr erkundet hatte, schien mich auszuspeien und wegzudrängen,hinauszuschleudern in eine für mich vermauerte Welt.

Urplötzlich machte ich mich los von Thylda, entwand mich dem Spinnennetz ihres Haares, stieß ihre weiß schimmernden Arme fort von meinem Leib und entriss mich ihren klammernden Beinen und Füßen, die sie um meine Beine und Füße geschlungen hatte wie die Arme einer Krake.

Ich stürzte aus dem Bett, verletzte mir die rechte Hand, glitt von dem Bettvorleger aus und aus dem Raum hinaus in den Flur. Ich raffte meine Sachen zusammen, die weit verstreut herumlagen und rannte halb bekleidet durch dieses sagenhafte Treppenhaus, dass mir nun wirklich ganz einerlei war.

Zwei Tage später hatte ich Dresden verlassen. Eine Erinnerung an die Nacht mit Thylda versenkte ich tief in den hintersten Winkel meines Herzens.
Irgendeinmal hörte ich über die internen Bibliotheksnachrichten, das Thylda die Bibliothek in Dresden verlassen hatte, nachdem ein junger Volontär sich nach einer Betriebsausleihe mit ihr das Leben genommen hatte.

Jetzt stehe ich in diesem Zimmer und betrachte den hellen Fleck auf der ockerfarbenen Wand. An das Bild, das da gehangen hatte, erinnere ich mich nicht. Und sicher ist es vermessen zu behaupten, dass es genau das Bild ist, was mich jetzt drängt, mir einzugestehen, dass ich Thylda geliebt habe, aufrichtig, das es ihr Wesen war, diese durch Verlust erfahrene Frau, diese Resignation in ihr, diese Absage an wirkliche Liebe.

Jetzt, unter diesem leeren Fleck, hätte ich sie nehmen wollen wie sie war, trotz ihrem dicken Hintern, trotz ihrem bäurischem Gehabe. Im hellsten Tageslicht hätte ich sie umfangen, ins aufgeschlagene Bett getragen,
ihre Blöße mit meiner Blöße bedeckt und mich in sie versenken wollen wie in ein Meer aus all der sinnlos verschenkten Liebe...
 

Karinina

Mitglied
Ja, Thylda, das tut mir leid, aber Dich kenne ich nun leider nicht wirklich, schade, aber vielleicht wird es noch?
 
U

USch

Gast
Hallo Carinina,
ein paar Vorschläge, die den Texte verbessern können:

Vor dem hohen Bogenfenster meines Zimmers tut sich ein weites, ebenes Land auf, das sich gleichförmig bis an den Horizont hin ausdehnt und in einem entschiedenen Gegensatz zur Aussicht aus den Vorderfenstern des Hauses und dem Hause selbst [strike]sich zeigt.[/strike] [blue]steht.[/blue]

Vorn hinaus liegt das städtischste Großstadtbild, das man sich nur denken kann, gemildert [strike]durchaus [/strike]durch den Blick in das liebliche Elbetal mit den Loschwitzhängen, dem Luisenhof, der weißen Kuppel der Sternwarte[blue], Komma![/blue] des Ardenneschen Anwesens, den drei bekannten Elbschlössern und der Saloppe.

Das Haus selbst ist reinster Jugenstil, viel farbiges Glas, [strike]viel [/strike]warmes Holz, [strike]viel [/strike]geschmiedetes Eisen, geschwungene Linien, stilisierte Ornamente, Wölbungen, Grazilität, nichts [blue]Plumpes mit p![/blue], ein Kleinod.

Dieser rasche, nicht vermutete Übergang zwischen der Stadt und den Feldern hat mich schon einmal überrascht, damals, als ich das erste Mal aus diesem Fenster in das Land hinaussah und sich mir ein großes Stück Ödland mit riesigen Brennesselmeeren darbot.

Ich habe nichts übrig für das Land, oder besser gesagt, damals hatte ich nichts übrig dafür. Ich sagte zu Thylda, sie solle sich Gardinen kaufen. Oder ein Rollo.
„Ja“,sagte Thylda damals, „ein Rollo ist das Richtige.“

Und sie lachte. Ich wußte, warum sie lachte, ich wußte auch, dass dieses Lachen eine Spur zu selbstsicher war[strike]. Ich wußte [/strike] [blue]und [/blue]eigentlich an diesem Fenster urplötzlich alles über Thylda, obwohl ich mir heute, angesichts meiner eigenen Stimmung, nicht mehr so sicher bin.

Wahrscheinlich bin ich [strike]heute [/strike]in dem Alter, in dem sich Thylda damals befand. Ich meine nicht das konkrete Alter, ich meine das Alter, in dem man
sich von einem Tag zum anderen befinden kann,[blue]Leerzeichen [/blue]plötzlich, ohne Vorankündigung.

Ich fürchte, es ist mir bewußt geworden, als ich, durch einen der merkwürdigsten Zufälle, ausgerechnet dieses Zimmer für meine Dienstreise nach Dresden zugewiesen bekam.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Thylda eine besondere Rolle in meinem Leben gespielt hat. Vermutlich hatte ich sie sofort vergessen. Vermutlich habe ich mich dafür sogar geschämt. Ich nehme an, Thylda war nicht nur für mich eine „Entgleisung“, sie wird es für eine ganze Reihe ganz bestimmter Jungens gewesen sein, [strike]ich nehme an,[/strike] ich war vermutlich einer von den letzten, vielleicht der Vorletzte überhaupt.

Der Letzte allerdings war ich nicht.
Aber das hat mich damals in keiner Weise gestört, ich würde sagen, es stört mich auch heute noch nicht, wäre nicht etwas, was mich, angesichts des frisch aufgebrochenen, endlosen Ackers davor und angesichts einer hellen Stelle an der ockerfarbenen Wand in dem noch immer wie damals möbilierten Zimmer auf eine merkwürdige Weise anrührt.

Es muss etwas zwischen mir und Thylda vorgegangen sein, hier, in diesem Zimmer. Vielleicht sogar nur in mir, denn Thylda war wohl auf diese Geschichten auf herzzerbrechende Weise vorbereitet und eingespielt.

Ich sage Ihnen das, weil dieser schroffe [blue]Gegensatz [/blue]zum Villenvorort, in dem sie wohnte, für uns immer ein Grund für Späße war: So eigentlich war Thylda auch. Wer [strike]Thylda [/strike][blue]sie [/blue]noch nicht gesehen hatte und nur ihre Stimme kannte, hielt sie für eine zärtliche, warmherzige sehr intelligente Superfrau. Aber es war nicht nur ihre Stimme allein, [strike]es war [/strike]auch das, was sie sagte, dieses wunderbare, abgewogene sehr stilvolle Deutsch. Kein Wort zuviel, keines zuwenig, alles in ungewohnten, aber nie übertriebenen Wendungen, [strike]alles sehr [/strike]weich und dunkel, ein aus großen Tiefen kommendes Alt.

Wenn Thylda [strike]aber [/strike]zwischen den Bücherregalen durch den Lesesaal schritt "wackelte die Wand" wie man so schön sagt. Ein [blue]Tausendtalerpferd[/blue]! Ein Bauer von echtem Schrot und Korn. Und: [blue]Sie [/blue]war auch immer in Grau gekleidet, in ein unauffälliges, bäurisches Grau.

Heute bilde ich mir ein, dass Thylda mit Absicht immer in Grau gekleidet war und mit nichts anderem als ihrer Stimme auf sich aufmerksam machen wollte.

Und trotzdem war das erste, was man den neuen Volontären mit auf den Weg gab, eine Warnung:
“Geht ihr aus dem Weg“, sagte der Bereichsleiter, „mit Thylda ist nicht zu spaßen...“
Wir lachten dumm, denn Thylda war nun wirklich die Letzte, nach der wir uns umgesehen hätten.
Jetzt sage ich mir, dass gerade diese Warnung einen gewissen Reiz für mich gehabt haben muss. Und wahrscheinlich nicht nur für mich.

Ich hatte eigentlich mit Thylda nichts zu tun. Wir arbeiteten in [blue]getrennten [/blue]Bereichen. Manchmal hörte ich ihre Stimme hinter einer Wand von Büchern [strike]hervor[/strike], dann verhielt ich mich unbewußt still, es war einfach ein Erlebnis, [blue]Leerzeichen [/blue]ihr zuzuhören. Aber keiner von uns Volontären wollte gern neben ihr gesehen werden, wir gingen ihr aus dem Weg. Hin und wieder aber musste einer von uns mit Thylda eine Betriebsausleihe übernehmen. Wir waren jedesmal gespannt, wen es treffen würde und wie er am nächsten Tag auf Thylda reagierte. Es gab die verschiedensten Varianten. Nur Thylda blieb immer gleich. Sie hat nie einen von uns anders angesehen als die anderen, sie hat überhaupt nie jemanden in dem Sinne angesehen. Es gab [strike]überhaupt [/strike]nichts, was zwischen Thylda und einem von uns hin und her gegangen wäre.

Vielleicht aber war doch alles ganz anders, denn, wenn sie so spurlos an uns vorbeigegangen wäre, wieso war sie dann die Frau, über die ich heute nachdenke? Wieso konnte dieses Etwas damals in diesem Zimmer zwischen Thylda und mir vor[blue]ge[/blue]gangen sein?
Alle anderen Frauen aus dieser Zeit, mehr oder weniger jung, mehr oder weniger attraktiv, haben nichts dergleichen hinterlassen, obwohl es eine Reihe kleinerer Abenteuer zwischen mir und ihnen gegeben haben muss, denn schließlich kam ich als „erfahrener“ Mann „unter die Haube“.

Es kann also nicht ganz stimmen, wenn ich mir einbilde, [blue]Leerzeichen [/blue]Thylda hätte keine Rolle in meinem Leben gespielt.
Was also war mit [blue]Thylda?[/blue][blue]kein Leerzeichen[/blue]

Ich nehme an, dass ich mich eine Zeitlang vor der Betriebsausleihe mit Thylda erfolgreich gedrückt hatte, denn es war kurz vor Ende der Volontärzeit, dass ich mit [strike]Thylda [/strike][blue]ihr [/blue]zur Betriebsausleihe musste.
Der Bus mit den Büchern streikte auf der Rückfahrt und Thylda bat mich, ihr die Kiste mit den Büchern hinauf in ihre Wohnung zu bringen. Es war schon Nacht, als ich mit ihr durch das stille Villenviertel den Berg hinaufstieg und sie mir, oben angelangt, den Blick in die erleuchtete Stadt hinunter zeigte. Wir standen in diesem Jugendstil-Treppenhaus, es war sehr still, und diese Stille und dieser Blick in das Tal, ich weiß es nicht, vielleicht aber war es das schon, was mich verführte.
Ich sagte ihr alles mögliche. Ich nehme an, ich war betrunken. Das zumindest habe ich lange Zeit als Entschuldigung vor mir selbst geglaubt.
Thylda hörte sich alles gelassen an. Sie lachte manchmal, es war etwas [strike]in diesem Lachen[/strike] [blue]darin[/blue], dass mich noch mehr anstachelte. Ich glaube, dass [strike]Thylda [/strike][blue]sie [/blue]das wusste.
In dem Treppenhaus mit den bunten Ornamentglasscheiben, dem Geruch nach altem Holz, nach Büchern und süßen Gewürzen. [blue]Punkt [/blue]„[blue]Es[/blue] ist Myrrhe“[blue], Komma[/blue] sagte sie zwischen sehr erfahrenen Küssen[blue], Komma [/blue]suchte mich eine unbeschreibliche Begierde heim nach großer Schönheit, nach Ruhe, nach Hin- oder Aufgabe, weniger nach Besitz, mehr nach [strike]Verlieren,[/strike] sich verlieren[strike], oder wie immer man das bezeichnen soll[/strike]. Ich träumte mich gewissermaßen von Treppenstufe zu Treppenstufe durch das mir aufgetane Lichtermeer der Stadt im Tal hinauf in eine stilisierte Welt,[strike] in einen Wunsch,[/strike] in etwas Verwunschenes. Ich sagte, dass ich sie sehr begehre, dass sie schön sei, weich, sanft und zart. Ihre Hände schimmerten weiß im Dunkel, ihre Augen waren schwarz und groß und sie flüsterte und lachte [strike]in einer Art [/strike]und küsste [strike]mich [/strike]und streichelte mich, [strike]und [/strike]gab aber[strike], dass muss ich sagen, [/strike]keine der Stufen freiwillig her, [strike]sie [/strike]verteidigte jede Handbreit Boden nicht durch Abwehr, eher durch große erfahrene Bereitwilligkeit, [strike]eher [/strike]wie eine Frau, die weiß, dass Verbot nur lockt.
„Jungchen“, flüsterte sie und lachte, „ach Jungchen, du Kleiner...“

„Ich liebe dich...“, sagte ich in Ekstase immer wieder in alle Falten ihres grauen Kleides, in ihr Haar, in die Beuge ihrer entblößten Arme, in ihren Nacken, überall hin, wohin mein Mund mich trieb.

Und zwischen ihren Küssen flüsterte sie:
„Ja, mein Kleiner, alle Jungens lieben mich, auch du, bis du mich am Morgen mit meinem dicken Hintern in der Küche stehen siehst, wenn ich dir das Frühstück mache...“

Und sie lachte auf ihre resignierte und erfahrene Art und ich hatte schon meinen Fuß in ihrer Tür und meine Hand in ihrem Kleid...

In der Nacht, [blue]Leerzeichen [/blue]auf das zerwühlte Bett fiel hin und wieder ein Strahl vom Mondlicht, das durch dunkle Wolken seinen Weg gefunden hatte, zerrann etwas von meiner Gier nach ihren Küssen. Etwas drängte mich, abzulassen von ihr. Ich fühlte mich wie gefangen, eingesperrt, wie festgehalten, oder gebunden. Ihre weiche Haut, deren makelloses Weiß im Mondlicht schimmerte, schien mir kalt, wie aus Eis, obwohl sie doch gerade noch heiß und lockend gewesen war. Ihr Haar, dass ungebunden in langen Wellen seinen zarten Duft um mich verströmte, schien mir wie ein Gespinst aus Polypenarmen, die mich zu zerreißen drohten, und der so verlockende, gerade noch ersehnte Eingang in
ihr Inneres, [blue]Leerzeichen [/blue]den ich mit meinen Fingern, mit Lippen und Mund so sehr erkundet hatte, schien mich auszuspeien und wegzudrängen, [blue]Leerzeichen [/blue] hinauszuschleudern in eine für mich vermauerte Welt.

Urplötzlich machte ich mich los von Thylda, entwand mich dem Spinnennetz ihres Haares, stieß ihre weiß schimmernden Arme fort von meinem Leib und entriss mich ihren klammernden Beinen und Füßen, die sie um meine Beine und Füße geschlungen hatte wie die Arme einer Krake.

Ich stürzte aus dem Bett, verletzte mir die rechte Hand, glitt von dem Bettvorleger aus und [strike]aus [/strike]dem Raum hinaus in den Flur. Ich raffte meine Sachen zusammen, die weit verstreut herumlagen und rannte halb bekleidet durch dieses sagenhafte Treppenhaus, dass mir nun wirklich ganz einerlei war.

Ich hoffe du kannst damit was anfangen. Vielleicht noch etwas weniger Thylda als Name und mehr sie.
LG USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Titel, gleichlautend mit einem Nicknamen, verwirrt komplett - zumindest mich!
Was hast Du Dir dabei gedacht? Hört sich komisch an.

LG Doc
 

Karinina

Mitglied
Für DocSchneider

Ich hatte keine Ahnung, dass es eine Thylda als Nicknamen gibt, wir haben uns aber inzwischen bekannt gemacht und ich mag die Nicknamenthylda wirklich sehr. Soll ich meine Geschichte umbenennen? Mach ich vielleicht, wenn es irritiert. Zur Zeit bin ich in Urlaub und an einer fremden Tastatur, schwierig...L.G. Karin
 

Thylda

Mitglied
Bitte nicht meinetwegen umbenennen. Mich stört es nicht und wenn die Geschichte schon 50 Jahre so heißt, dann gibt es sie länger als mich und hat damit das ältere Recht ;)

Liebe Grüße
Thylda
 
Hallo Karinina!

Ich habe Deine Geschichte gerne gelesen. Ich finde sie recht melancholisch (im positiven Sinne), und die zahlreichen Details machen es leicht, sich hineinzuversetzen. Ich selbst mag den Jugenstil sehr, die Formen und Farben der Art Nouveau haben mir schon immer gut gefallen.
Mich fasziniert Thylda (...die von Deiner Erzählung, versteht sich...), weil sie sehr myteriös erscheint, ob sie es selbst will oder nicht. Daher konnte ich mir letztlich kein persönliches, klares Bild von ihrem Aussehen machen, ...na ja, den Haaren nach könnte sie auch eine Medusa sein...!
Für mich wirkt sie wie der ewig betörende Gedanke einer scheinbar unerreichbaren Dame, doch wo im Manne die Sehnsucht nach ihr ist, findet sich irgendwann auch ein Weg, um sie zu erobern. Und falls doch nicht, dann ist schon allein der Versuch, sie zu erobern, meistens eine intesivere Erfahrung, als eine "gewöhnliche" Beziehung zu leben.
Manchmal ist es vielleicht sogar besser, wenn sie unerreichbar bleibt, da wir selbst der Idee einer "unerreichbaren" Dame oftmals nicht gewachsen sind, und wie der Protagonist Deiner Erzählung einfach weglaufen. Und uns für den Rest unserer Existenz fragen, wieso wir sie vermissen.

Schöne Grüße!

Raphael Vercott
 

Karinina

Mitglied
Noch mal Thylda

Ich danke Dir Thylda, dass ich meine Dame nicht umbenennen muss. Ich habe lange gegrübelt, aber ich wüßte wirklich nicht, was für ein anderer Name der Figur gerecht würde. Sehr gefreut habe ich mich über Raphaels Worte. Genau das wollte ich eigentlich schreiben. Ich habe überlegt, ob ich das Bild an der Wand nennen muss, aber eigentlich sollte es ein Phantom bleiben, das Nichtgesagte.Lieber USch, die Verbesserung kommt noch, ich war verreist und muss erst Luft holen...
L.G. Karin
 

Karinina

Mitglied
Thylda - oder : Meine sonderbare Freundin

Vor dem hohen Bogenfenster meines Zimmers tut sich ein weites, ebenes Land auf, das sich gleichförmig bis an den Horizont hin ausdehnt und in einem entschiedenen Gegensatz zur Aussicht aus den Vorderfenstern des Hauses und dem Hause selbst steht.

Vorn hinaus liegt das städtischste Großstadtbild, das man sich nur denken kann, gemildert durchaus durch den Blick in das liebliche Elbetal mit den Loschwitzhängen, dem Luisenhof, der weißen Kuppel der Sternwarte des Ardenneschen Anwesens, den drei bekannten Elbschlössern und der Saloppe.

Das Haus selbst ist reinster Jugenstil, viel farbiges Glas, viel warmes Holz, viel geschmiedetes Eisen, geschwungene Linien, stilisierte Ornamente, Wölbungen, Grazilität, nichts Plumpes, ein Kleinod.

Dieser rasche, nicht vermutete Übergang zwischen der Stadt und den Feldern hat mich schon einmal überrascht, damals, als ich das erste Mal aus diesem Fenster in das Land hinaussah und sich mir ein großes Stück Ödland mit riesigen Brennesselmeeren darbot.

Ich habe nichts übrig für das Land, oder besser gesagt, damals hatte ich nichts übrig dafür. Ich sagte zu Thylda, sie solle sich Gardinen kaufen. Oder ein Rollo.
„Ja“,sagte Thylda damals, „ein Rollo ist das Richtige.“

Und sie lachte. Ich wußte, warum sie lachte, ich wußte auch, dass dieses Lachen eine Spur zu selbstsicher war und eigentlich wußte ich an diesem Fenster urplötzlich alles über Thylda, obwohl ich mir heute, angesichts meiner eigenen Stimmung, nicht mehr so sicher bin.

Wahrscheinlich bin ich in dem Alter, in dem sich Thylda damals befand. Ich meine nicht das konkrete Alter, ich meine das Alter, in dem man sich von einem Tag zum anderen befinden kann, plötzlich, ohne Vorankündigung.

Ich fürchte, es ist mir bewußt geworden, als ich, durch einen der merkwürdigsten Zufälle, ausgerechnet dieses Zimmer für meine Dienstreise nach Dresden zugewiesen bekam.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Thylda eine besondere Rolle in meinem Leben gespielt hat. Vermutlich hatte ich sie sofort vergessen. Vermutlich habe ich mich dafür sogar geschämt. Ich nehme an, Thylda war nicht nur für mich eine „Entgleisung“, sie wird es für eine ganze Reihe ganz bestimmter Jungens gewesen sein, ich nehme an, ich war einer von den letzten, vielleicht der Vorletzte überhaupt.

Der Letzte allerdings war ich nicht.
Aber das hat mich damals in keiner Weise gestört, ich würde sagen, es stört mich auch heute noch nicht, wäre nicht etwas, was mich, angesichts des frisch aufgebrochenen, endlosen Ackers davor und angesichts einer hellen Stelle an der ockerfarbenen Wand in dem noch immer wie damals möbilierten Zimmer auf eine merkwürdige Weise anrührt.

Es muss etwas zwischen mir und Thylda vorgegangen sein, hier, in diesem Zimmer. Vielleicht sogar nur in mir, denn Thylda war wohl auf diese Geschichten auf herzzerbrechende Weise vorbereitet und eingespielt.

Ich sage Ihnen das, weil dieser schroffe Gegensatz zum Villenvorort, in dem sie wohnte, für uns immer ein Grund für Späße war: So eigentlich war Thylda auch. Wer sie noch nicht gesehen hatte und nur ihre Stimme kannte, hielt sie für eine zärtliche, warmherzige sehr intelligente Superfrau. Aber es war nicht nur ihre Stimme allein, es war auch das, was sie sagte, dieses wunderbare, abgewogene sehr stilvolle Deutsch. Kein Wort zuviel, keines zuwenig, alles in ungewohnten, aber nie übertriebenen Wendungen, weich und dunkel, ein aus großen Tiefen kommendes Alt.

Wenn Thylda aber zwischen den Bücherregalen durch den Lesesaal schritt "wackelte die Wand" wie man so schön sagt. Ein Tausendtalerpferd! Ein Bauer von echtem Schrot und Korn. Und: Sie war auch immer in Grau gekleidet, in ein unauffälliges, bäurisches Grau.

Heute bilde ich mir ein, dass Thylda mit Absicht immer in Grau gekleidet war und mit nichts anderem als ihrer Stimme auf sich aufmerksam machen wollte.

Und trotzdem war das erste, was man den neuen Volontären mit auf den Weg gab, eine Warnung:
“Geht ihr aus dem Weg“, sagte der Bereichsleiter, „mit Thylda ist nicht zu spaßen...“
Wir lachten dumm, denn Thylda war nun wirklich die Letzte, nach der wir uns umgesehen hätten.
Jetzt sage ich mir, dass gerade diese Warnung einen gewissen Reiz für mich gehabt haben muss. Und wahrscheinlich nicht nur für mich.

Ich hatte eigentlich mit Thylda nichts zu tun. Wir arbeiteten in getrennten Bereichen. Manchmal hörte ich ihre Stimme hinter einer Wand von Büchern hervor, dann verhielt ich mich unbewußt still, es war einfach ein Erlebnis, ihr zuzuhören. Aber keiner von uns Volontären wollte gern neben ihr gesehen werden, wir gingen ihr aus dem Weg. Hin und wieder aber musste einer von uns mit Thylda eine Betriebsausleihe übernehmen. Wir waren jedesmal gespannt, wen es treffen würde und wie er am nächsten Tag auf Thylda reagierte. Es gab die verschiedensten Varianten. Nur Thylda blieb immer gleich. Sie hat nie einen von uns anders angesehen als die anderen, sie hat überhaupt nie jemanden in dem Sinne angesehen. Es gab überhaupt nichts, was zwischen Thylda und einem von uns hin und her gegangen wäre.

Vielleicht aber war doch alles ganz anders, denn, wenn sie so spurlos an uns vorbeigegangen wäre, wieso war sie dann die Frau, über die ich heute nachdenke? Wieso konnte dieses Etwas damals in diesem Zimmer zwischen Thylda und mir vorgegangen sein?
Alle anderen Frauen aus dieser Zeit, mehr oder weniger jung, mehr oder weniger attraktiv, haben nichts dergleichen hinterlassen, obwohl es eine Reihe kleinerer Abenteuer zwischen mir und ihnen gegeben haben muss, denn schließlich kam ich als „erfahrener“ Mann „unter die Haube“.

Es kann also nicht ganz stimmen, wenn ich mir einbilde, Thylda hätte keine Rolle in meinem Leben gespielt.
Was also war mit Thylda?

Ich nehme an, dass ich mich eine Zeitlang vor der Betriebsausleihe mit Thylda erfolgreich gedrückt hatte, denn es war kurz vor Ende der Volontärzeit, dass ich mit ihr zur Betriebsausleihe musste.
Der Bus mit den Büchern streikte auf der Rückfahrt und Thylda bat mich, ihr die Kiste mit den Büchern hinauf in ihre Wohnung zu bringen. Es war schon Nacht, als ich mit ihr durch das stille Villenviertel den Berg hinaufstieg und sie mir, oben angelangt, den Blick in die erleuchtete Stadt hinunter zeigte. Wir standen in diesem Jugendstil-Treppenhaus, es war sehr still, und diese Stille und dieser Blick in das Tal, ich weiß es nicht, vielleicht aber war es das schon, was mich verführte.
Ich sagte ihr alles mögliche. Ich nehme an, ich war betrunken. Das zumindest habe ich lange Zeit als Entschuldigung vor mir selbst geglaubt.
Thylda hörte sich alles gelassen an. Sie lachte manchmal, es war etwas in darin, dass mich noch mehr anstachelte. Ich glaube, dass sie das wusste.
In dem Treppenhaus mit den bunten Ornamentglasscheiben, dem Geruch nach altem Holz, nach Büchern und süßen Gewürzen- „Es ist Myrrhe“, sagte sie zwischen sehr erfahrenen Küssen- suchte mich eine unbeschreibliche Begierde heim nach großer Schönheit, nach Ruhe, nach Hin- oder Aufgabe, weniger nach Besitz, mehr nach sich verlieren. Ich träumte mich gewissermaßen von Treppenstufe zu Treppenstufe durch das mir aufgetane Lichtermeer der Stadt im Tal hinauf in eine stilisierte Welt, in einen Wunsch, in etwas Verwunschenes. Ich sagte, dass ich sie sehr begehre, dass sie schön sei, weich, sanft und zart. Ihre Hände schimmerten weiß im Dunkel, ihre Augen waren schwarz und groß und sie flüsterte und lachte und küsste und streichelte mich, gab aber keine der Stufen freiwillig her, sie verteidigte jede Handbreit Boden nicht durch Abwehr, eher durch große erfahrene Bereitwilligkeit, eher wie eine Frau, die weiß, dass Verbot nur lockt.
„Jungchen“, flüsterte sie und lachte, „ach Jungchen, du Kleiner...“

„Ich liebe dich...“, sagte ich in Ekstase immer wieder in alle Falten ihres grauen Kleides, in ihr Haar, in die Beuge ihrer entblößten Arme, in ihren Nacken, überall hin, wohin mein Mund mich trieb.

Und zwischen ihren Küssen flüsterte sie:
„Ja, mein Kleiner, alle Jungens lieben mich, auch du, bis du mich am Morgen mit meinem dicken Hintern in der Küche stehen siehst, wenn ich dir das Frühstück mache...“

Und sie lachte auf ihre resignierte und erfahrene Art und ich hatte schon meinen Fuß in ihrer Tür und meine Hand in ihrem Kleid...

In der Nacht, auf das zerwühlte Bett fiel hin und wieder ein Strahl vom Mondlicht, das durch dunkle Wolken seinen Weg gefunden hatte, zerrann etwas von meiner Gier nach ihren Küssen. Etwas drängte mich, abzulassen von ihr. Ich fühlte mich wie gefangen, eingesperrt, wie festgehalten, oder gebunden. Ihre weiche Haut, deren makelloses Weiß im Mondlicht schimmerte, schien mir kalt, wie aus Eis, obwohl sie doch gerade noch heiß und lockend gewesen war. Ihr Haar, dass ungebunden in langen Wellen seinen zarten Duft um mich verströmte, schien mir wie ein Gespinst aus Polypenarmen, die mich zu zerreißen drohten, und der so verlockende, gerade noch ersehnte Eingang in ihr Inneres, den ich mit meinen Fingern, mit Lippen und Mund so sehr erkundet hatte, schien mich auszuspeien und wegzudrängen, hinauszuschleudern in eine für mich vermauerte Welt.

Urplötzlich machte ich mich los von Thylda, entwand mich dem Spinnennetz ihres Haares, stieß ihre weiß schimmernden Arme fort von meinem Leib und entriss mich ihren klammernden Beinen und Füßen, die sie um meine Beine und Füße geschlungen hatte wie die Arme einer Krake.

Ich stürzte aus dem Bett, verletzte mir die rechte Hand, glitt von dem Bettvorleger aus und aus dem Raum hinaus in den Flur. Ich raffte meine Sachen zusammen, die weit verstreut herumlagen und rannte halb bekleidet durch dieses sagenhafte Treppenhaus, dass mir nun wirklich ganz einerlei war.

Zwei Tage später hatte ich Dresden verlassen. Eine Erinnerung an die Nacht mit Thylda versenkte ich tief in den hintersten Winkel meines Herzens.
Irgendeinmal hörte ich über die internen Bibliotheksnachrichten, dass Thylda die Bibliothek in Dresden verlassen hatte, nachdem ein junger Volontär sich nach einer Betriebsausleihe mit ihr das Leben genommen hatte.

Jetzt stehe ich in diesem Zimmer und betrachte den hellen Fleck auf der ockerfarbenen Wand. An das Bild, das da gehangen hatte, erinnere ich mich nicht. Und sicher ist es vermessen zu behaupten, dass es genau das Bild ist, was mich jetzt drängt, mir einzugestehen, dass ich Thylda geliebt habe, aufrichtig, das es ihr Wesen war, diese durch Verlust erfahrene Frau, diese Resignation in ihr, diese Absage an wirkliche Liebe.

Jetzt, unter diesem leeren Fleck, hätte ich sie nehmen wollen wie sie war, trotz ihrem dicken Hintern, trotz ihrem bäurischem Gehabe. Im hellsten Tageslicht hätte ich sie umfangen, ins aufgeschlagene Bett getragen,
ihre Blöße mit meiner Blöße bedeckt und mich in sie versenken wollen wie in ein Meer aus all der sinnlos verschenkten Liebe...
 



 
Oben Unten