Tiegelgas

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Asbest

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Wie jeden Tag ging er vom Parkplatz durch das blaue Drehkreuz in das außen spärlich beleuchtete Ziegelgebäude.
Er zog sich zuerst die lange Unterwäsche, die er als seine Anstaltsbekleidung bezeichnete, anschließend die Schwarz-blau-graue Jacke und Hose an. Nachdem er in die einst schwarz glänzenden, mittlerweile staubgrauen Stahlkappenschuhe geschlüpft war, setzte er bereits im Gehen seinen Helm auf. Unter dem einen Arm klemmte er seine silbernen Asbesthandschuhe ein, unter dem anderen seine warme Winterarbeitsjacke.
Zwei Stockwerke höher ging es noch durch die lange Glasbrücke und dann vorbei an Strangguss und Sekundärmetallurgie, schließlich war er endlich angekommen.

Wie immer warf er einen kurzen Blick auf die blaue Anzeigetafel, ging bis nach hinten zum 7er Tiegel und setzte sich in den Steuerstand.
Doch heute hängte er nicht nur seinen Rucksack auf den Haken.
Auf den Steuerpult legte er noch einen Brief und eilte geschwind zum Aufzug, darauf achtend, nicht gesehen zu werden.
Schnell drückte er den Knopf und betrat die kleine, alte Kabine. Drückte den 54m Knopf und wartete, dass sich der Aufzug rasselnd in Bewegung setzte. Mangels einer Kabinentür konnte er die Türen der anderen Ebene sowie den Aufzugsschacht langsam an sich vorbeiziehen sehen.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit kam die richtige Tür mit dem 54m Schild zum Vorschein. Nur nicht zu früh dagegen drücken, sonst bleibt er wieder stehn und es dauert noch länger.

Nun war er, wo er hin wollte.
Dort, wo die vor Staub flimmernde Luft noch stickiger und beißender war als unten und die spärliche Beleuchtung durch eine geöffnete Tür zu einer Plattform an der Außenseite des Gebäudes ergänzt wurde.
Diese Plattform betrat er kurz, genoss die frische, saubere, kalte Luft und die schöne Aussicht auf das Werksgelände und die Stadt.
Im Nieselregen wirkte das Werk noch spektakulärer, von den längst kaum mehr rauchenden Schornsteinen sah man nun Dampf aufsteigen.

Seufzend nahm er den Helm ab und zog eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug hervor.
Er rauchte zwar nicht, doch diese eine Zigarette musste sein. Der Mitarbeiter, der ihm diesen Teil des Werks gezeigt hatte, hatte es einst auch getan. Mit der Zigarette war er dann sogar zurück ins Gebäude gegangen, trotz der Explosionsgefahr.
Diese Zigarette ging an ihn.
An ihn und an viele andere.
An seine kettenrauchenden Großeltern. Seine gelegentlich rauchende Mutter.
Was die wohl gerade machten? Was die wohl denken werden?
An das Mädchen, das er für seine Seelenverwandte hielt. Sie hatte sich vor nicht all zu langer Zeit das Rauchen abgewöhnt, auch durch seine Hilfe.
An den Schulfreund, der sich eine Zigarettenschachtel tätowieren ließ und gerne ein Marlboro-T-Shirt trug.
Was die wohl sagen, wenn sie es lesen?

Bald war die Zigarette nur mehr ein kurzer Stummel, den er hustend und vom für ihn ungewohnten Rauch etwas benebelt hinunterwarf.
Noch einmal atmete er frische Luft und betrat dann wieder das Gebäude.
Ein paar Schritte weiter setzte er sich auf eine kleine Treppe in einem kaum beleuchteten Bereich.

Schon war es so weit, die Lanze ging nach unten und es war ein Zischen zu hören.
Der Lärm wurde lauter, der aufsteigende Rauch, der die Luft rotbraun färbte, brannte in seinen Augen und seiner Nase.
Er begann, zu husten, zu keuchen, zu röcheln, schlimmer, als noch wenige Minuten zuvor, als er seine letzte Zigarette geraucht hatte.
Schon bald setzte ein eigentümliches Gefühl ein, sein Kopf wurde immer schwerer, langsam schien sich alles zu drehen. Er wurde müde, die ohnehin schon vom Staub und der Hitze flimmernde Luft immer verschwommener. Nach einigen weiteren tiefen Atemzügen wurde es leiser in der Halle. Bald hörte er nur noch ein leises rauschen.

Irgendwann, kurz bevor ihm die Augen zufielen, sah er in der Ferne eine kleine Gestalt auf ihn zugehen. Trotz Rauchs und des Staubs, der in der Luft lag, erkannte er sofort, dass es sich um keinen Mitarbeiter handeln konnte. Statt dem Helm trug sie eine weiße Kappe, statt der Stahlkappenschuhe Sandalen, statt der dreckigen Arbeitskleidung eine glänzende Jacke, die ebenfalls weiß war.
Die Jacke, die sie einst mit ihm am Flohmarkt gekauft hatte.

Sie stand nun direkt vor ihm, streckte ihren Arm nach ihm aus und lächelte ihn an. Und wirkte dennoch traurig.

Er begann, Lili Marleen zu pfeifen, das Lied, das sie immer gemeinsam sangen. Es war eines seiner Lieblingslieder und auch ihr gefiel es.

Was Mehmet wohl denken wird, wenn er der erste ist, der davon erfährt. Ausgerechnet am Arbeitsplatz, wo er immer versucht hatte, ihn aufzumuntern.
Ausgerechnet wegen der Person, ohne der er es bereits viel früher getan hatte, im Sommer auf der Strangguss. Das wär ein schönes Feuerwerk geworden. Und es wär auch schneller gegangen.

„...und sollte mir ein Leid geschehn, wer wird bei der Laterne stehn, mit dir, Lili Marleen, mit dir, Lili-... Mit dir, Livia?“ sang er leise, während ihm langsam die Augen zufielen und er außer der zarten Hand, die sich auf seine Schulter legte, nichts mehr spüren konnte.
 
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petrasmiles

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Lieber Asbest,

ich habe diesen Text schon letztens gelesen, und er ging mir nicht aus dem Kopf.
Und dann wusste ich, warum: Dein Protagonist ist eigentlich eine zutiefst romantische Person. Ein Empfindsamer, den man als Helden eines Gedichtes aus der Romantik kennt und dort verorten würde.
Um so krasser dieses Setup, das diesen Typus, den es zu verschlingen droht, um so strahlender aufleuchten lässt.

Das ist hier gleichzeitg so alt und so neu. Ich bin beeindruckt!

Liebe Grüße
Petra
 

Asbest

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Hallo Petra,

Freut mich, dass dir auch diese Geschichte gefällt. Damals hab ich noch im Stahlwerk gearbeitet, nicht am Hochofen wie später.
Heute würd ich so eine Geschichte nicht mehr schreiben, da hab reale Erlebnisse verarbeitet, aber so schlecht wie dem Protagonisten ging es mir zum Glück nicht.
Interessanter weise hatte ich später tatsächlich im Stahlwerk eine Kohlenmonoxidvergiftung, die aber harmlos war.
 



 
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