Besançon, den 16. September 1950.
Die Tür ist noch geschlossen. Tinu Ruscello steht davor und wartet, er ist noch nicht bereit. Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt; hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Gewiss, sein Auftritt wird sie begeistern. Seine Konzerte sind stets ausverkauft, nach jedem letzten Ton springen sie auf, skandieren Bravo um Bravo und fordern Zugaben. Ein Konzert, nur ein Konzert, eins wie hundert andere zuvor. Er spielt das Klavier nicht, er baut Mirakel. Zu seinem Publikum spricht er aus Geistermunde, treibt jeden ihrer Dämonen gottwärts, macht ihre Herzen zu seinem Priesterchor.
Seit einiger Zeit aber lasten ihre Blicke auf ihm, und sie werden schwerer. Er ist krank. Leukämie, eine bislang unbekannte Form, so einzig und unheilbar wie sein Brennen zum Spiel. Er müsse immer nur an Myra denken, redet er sich ein. Dann würde er es überstehen. Myra, sie begleitet ihn, nicht mehr am Klavier, nur noch in seinem Leben. Sie ist bei ihm, auch heute.
Tinu versucht, sich zu fassen; er wähnt sich bereit. Der Einweiser öffnet ihm die Tür, sie führt in eine Höhle aus verbrauchter Luft. Die Elektrizität darin kocht ihm die Wangen rot. Am Ende des Tunnels bricht ein Wasserfall von den Rängen, es rollen Steine auf ihn herab im Takt des Marche Funèbre. Seine Augen suchen den Leitstern; ohne Myra im Publikum verliefe er sich, diese Tournee stünde er ohne sie nicht durch. Verschwommen sieht er die Bühne, in ihrer Mitte klafft ein dunkles Loch. Der Sarg ist ein einsamer Flügel, ein Steinway, ganz in schwarz. Meisterspiel öffnet heimliche Pfade zu Himmelspforten, und nur er kennt diesen einen Weg. Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe. Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir; dann fängt er an; Walzer, Chopin.
Hastige Finger, wie Taranteln jagen sie Töne über die Klaviatur, schlagen kristallene Splitter aus Elfenbeintürmen und werfen sie in die Glut aus Ebenholz. Die Reihen baden in heißem Äther aus Dur.
Tinu pausiert, lauscht ihren Herzen. Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reisst die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden. Tinu wird zäh, und zäh, und zäher; er härtet aus. Mit letzter Kraft biegt er sich zu Ende - und bricht zusammen.
Seitwärts kippt er vom Schemel, regungslos liegt er da. Scherben in Asche.
Myra eilt zu ihm. Er flüstert ihren Namen, hebt leicht den Arm. Es würde gehen, ganz langsam, man hilft ihm, hebt ihn hoch, stützt ihn ab und schleppt seinen Körper nach draussen. Man setzt ihn auf einen Stuhl, bringt ihm Wasser. Um ihn wimmelt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal. Der Konzertleiter solle das Publikum um Verzeihung bitten, und um etwas Geduld. Er würde kommen. Der Gong ertönt zur Pause.
Tinu erhebt sich. Die Kraft wird reichen, nur dieser eine Gang noch. Myra, sagt er, sie müsse ihm auf die Bühne helfen, alleine schaffe er es nicht. Sie solle ihn begleiten, nicht am Klavier, nur auf die Bühne, zurück, in den Rest seines Lebens. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie taumeln in den Tunnel. Kein Platz ist leer, das Publikum erhebt sich in Schweigen. Sie setzt ihn an den Flügel, und verlässt die Bühne tränenblind.
Er blickt ins Publikum, alle stehen noch, keiner rührt sich, kein Räuspern. Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten, dann beginnt er zu spielen, ein Recital von Bach, Jesu bleibet meine Freude. Nur dieses eine Stück, ganz leise.
Dann zieht er sich am Flügel hoch, hangelt sich am Kasten entlang, greift nach dem Steg, klappt ihn um – und der Deckel fällt. Sechs Einweiser eilen zu ihm und bringen ihn aus dem Saal.
Ende
Die Tür ist noch geschlossen. Tinu Ruscello steht davor und wartet, er ist noch nicht bereit. Der Einweiser hält die Klinke in der Hand. Ein Nicken, und er würde dem Meister öffnen. Diese letzten Momente, dieses Verharren vor dem Auftritt; hier draußen ist er allein, und von drinnen drängt ihn stilles Erwarten.
Gewiss, sein Auftritt wird sie begeistern. Seine Konzerte sind stets ausverkauft, nach jedem letzten Ton springen sie auf, skandieren Bravo um Bravo und fordern Zugaben. Ein Konzert, nur ein Konzert, eins wie hundert andere zuvor. Er spielt das Klavier nicht, er baut Mirakel. Zu seinem Publikum spricht er aus Geistermunde, treibt jeden ihrer Dämonen gottwärts, macht ihre Herzen zu seinem Priesterchor.
Seit einiger Zeit aber lasten ihre Blicke auf ihm, und sie werden schwerer. Er ist krank. Leukämie, eine bislang unbekannte Form, so einzig und unheilbar wie sein Brennen zum Spiel. Er müsse immer nur an Myra denken, redet er sich ein. Dann würde er es überstehen. Myra, sie begleitet ihn, nicht mehr am Klavier, nur noch in seinem Leben. Sie ist bei ihm, auch heute.
Tinu versucht, sich zu fassen; er wähnt sich bereit. Der Einweiser öffnet ihm die Tür, sie führt in eine Höhle aus verbrauchter Luft. Die Elektrizität darin kocht ihm die Wangen rot. Am Ende des Tunnels bricht ein Wasserfall von den Rängen, es rollen Steine auf ihn herab im Takt des Marche Funèbre. Seine Augen suchen den Leitstern; ohne Myra im Publikum verliefe er sich, diese Tournee stünde er ohne sie nicht durch. Verschwommen sieht er die Bühne, in ihrer Mitte klafft ein dunkles Loch. Der Sarg ist ein einsamer Flügel, ein Steinway, ganz in schwarz. Meisterspiel öffnet heimliche Pfade zu Himmelspforten, und nur er kennt diesen einen Weg. Er ist angekommen, verbeugt sich, nimmt auf dem Schemel platz und erwartet Ruhe. Noch ist er gehäutet, wie Noten auf zu dünnem Papier. Er versinkt in sich, ein sammelnder Geysir; dann fängt er an; Walzer, Chopin.
Hastige Finger, wie Taranteln jagen sie Töne über die Klaviatur, schlagen kristallene Splitter aus Elfenbeintürmen und werfen sie in die Glut aus Ebenholz. Die Reihen baden in heißem Äther aus Dur.
Tinu pausiert, lauscht ihren Herzen. Dann, wie eine Fontäne schießt er in das nächste Rondeau, und noch eine Phantasie. Variation! Variation! Er bäumt sich auf, seine Augen rasen, er reisst die Klänge mit sich in einen Wirbel aus Funkentanz, schmeisst die Arme hoch, den einen, den anderen, alles dreht sich und klirrt und zieht sich zusammen, die Kuppel spannt, ihre Sehnen schwirren, sie hält kaum stand, gleich wird sie bersten, alle Münder offen, keine Luft, alles brennt, doch endlich - das Feuerwerk brüllt, Blitz und Donner prasseln hernieder an den Wänden. Tinu wird zäh, und zäh, und zäher; er härtet aus. Mit letzter Kraft biegt er sich zu Ende - und bricht zusammen.
Seitwärts kippt er vom Schemel, regungslos liegt er da. Scherben in Asche.
Myra eilt zu ihm. Er flüstert ihren Namen, hebt leicht den Arm. Es würde gehen, ganz langsam, man hilft ihm, hebt ihn hoch, stützt ihn ab und schleppt seinen Körper nach draussen. Man setzt ihn auf einen Stuhl, bringt ihm Wasser. Um ihn wimmelt der Konzertleiter, man breche ab, hechelt er. Tinu winkt ihn herbei, fasst ihn am Arm, zögert, und spricht: er wolle raus, noch einmal, ein letztes Mal. Der Konzertleiter solle das Publikum um Verzeihung bitten, und um etwas Geduld. Er würde kommen. Der Gong ertönt zur Pause.
Tinu erhebt sich. Die Kraft wird reichen, nur dieser eine Gang noch. Myra, sagt er, sie müsse ihm auf die Bühne helfen, alleine schaffe er es nicht. Sie solle ihn begleiten, nicht am Klavier, nur auf die Bühne, zurück, in den Rest seines Lebens. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie taumeln in den Tunnel. Kein Platz ist leer, das Publikum erhebt sich in Schweigen. Sie setzt ihn an den Flügel, und verlässt die Bühne tränenblind.
Er blickt ins Publikum, alle stehen noch, keiner rührt sich, kein Räuspern. Seine Finger schweben wie Federn auf die Tasten, dann beginnt er zu spielen, ein Recital von Bach, Jesu bleibet meine Freude. Nur dieses eine Stück, ganz leise.
Dann zieht er sich am Flügel hoch, hangelt sich am Kasten entlang, greift nach dem Steg, klappt ihn um – und der Deckel fällt. Sechs Einweiser eilen zu ihm und bringen ihn aus dem Saal.
Ende