Tobias

Haggard

Mitglied
Laut fiel die massive Holztüre ins Schloss.
Dieses hohle Geräusch, das diese Türe machte, wenn man sie schloss, hatte sich in die
Windungen seines getrübten Bewusstseins eingebrannt.
Eigentlich war es nur die öde, aus dunklem Holz gefertigte, Haustüre einer spießbürgerlichen Doppelhaushälfte in irgendeiner deutschen Neubausiedlung.
Doch für Tobias war sie mehr als das. Für ihn war sie mittlerweile zu einer Art Symbol geworden. Ein zweideutiges Symbol, welches ihn immer an das mit den beiden Masken erinnerte, welches sich auch an der Bühne im Theaterraum des Pfarrhauses befand.
Im Fasching hatte er oft mit anderen Kindern im Publikum gesessen und sich Clowns auf der Bühne angesehen. Doch irgendwann, im Laufe der Vorstellung, war sein Blick immer auf diese Masken gefallen.
Eine der beiden lachte vergnügt, die andere jedoch weinte bittere Tränen.
Konnte er diese Türe von außen schließen, so durfte er sich die lachende Maske aufsetzen und für sich allein sein. An den meisten Nachmittagen, wenn die Schule schon aus war, ging er allein auf den Spielplatz setzte sich in eine der kleinen Holzhütten uns verbrachte dort den
Ganzen Nachmittag. Er saß einfach nur da und dachte nach. Eigentlich fiel Tobias das denken sehr schwer. Doch wenn er so dasaß und die Einsamkeit genießen durfte, flogen ihm die Gedanken wie bunte Schmetterlinge zu.
Doch kam er nach Hause und musste die Türe öffnen, so musste er die lachende Maske ablegen und die andere vom Bügel nehmen. Jene nämlich, die gar nicht so freundlich dreinblickte, sondern vielmehr Tränen der Verzweiflung und Hilflosigkeit weinte.

Wie oft hatte er diese Türe schon geschlossen. Vor allem, wie oft hatte er sie schon geschlossen und sich genau in dem Moment, als sie zufiel und dieses hohle Geräusch verursachte, gewünscht, sie nie wieder öffnen zu müssen und nie wieder nach Hause zurückzukehren.

Konnte es heute so weit sein?

Sein Blick richtete sich nach rechts. Er sah den langgezogenen, mit roten Steinen gepflasterten Weg, welcher zwischen der Garage und dem bepflanzten Teil des Gartens, zum Gartentor führte. Rechts und links säumten ihn Blumenbeete mit bereits verblühten Blumen.. Der Herbstwind fegte verwelkte Blätter über diesen Weg. Die bereits hartgewordenen Blätter gaben hierbei scharrende Geräusche von sich, als sie so ihren Weg über die Pflastersteine machten.
Tobias stand einfach nur da und sah zum Tor. Ein Junge im Grundschulalter, mit strohblonden Haaren, die so lang waren, dass sie ihm vorn schon, bis über die Augen ins Gesicht hingen. Er hatte blaue Augen, die jedoch weder Intelligenz, noch Lebensfreude vermuten ließen. Einem Erwachsenen, der ihn von der Weite betrachtet hätte, wäre als erstes aufgefallen, dass Tobias´ Kopf nicht in richtiger Proportion zum gesamten Körper stand.
Sein Kopf war einfach viel zu groß für den sonst so zierlichen Knaben.

Ein einziger Gedanke hatte die ganze Zeit über schon in Tobias´ vernebelten Denken sein Unwesen getrieben.
War es diesmal wirklich so weit? Hatte er es heute nun endlich geschafft, im Alter von 8 Jahren mit seinen Eltern abzubrechen, die Türe ins Schloss zu werfen und die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen?

Tobias stand gebannt mit dem Rücken zur Türe und blickte immer noch zum Gartentor.
Jede einzelne Faser seines Körpers war zum Zerreißen gespannt und er wartete nur darauf, das die Türe hinter ihm aufgerissen wurde und sein Vater ihn zurück ins Haus ziehen würde.
Sein Vater hatte das schon oft getan. Zu oft. Sein Vater würde ihn dann wieder ins Wohnzimmer bringen und mit dem Schürhaken verprügeln, bis er weinend am Boden lag und ihm schwarz vor Augen wurde.
Vielleicht würde er auch nur den Gürtel zur Hand nehmen.
...Vielleicht würde aber auch das Schlimme passieren, dass sein Vater manchmal machte...
Schürhaken und Gürtel waren schlimm. Ja sogar sehr schlimm. Aber das andere war die Hölle. Nicht nur, dass es an bestimmten Stellen schmerzte, dass man nur noch sterben wollte,
nein, es gab einem das Gefühl von Wertlosigkeit, als sei man ein Stück Schmutz.

Doch so gespannt er auch wartete, die Türe wurde heute nicht geöffnet.

Als Tobias sich einmal gegen das Schlimme, mit all seiner kindlichen Kraft, gewehrt hatte, da hatte sein Vater erst einmal mit dem Schürhaken seinen Widerstand gebrochen und sich dann, als der Junge so entkräftet am Boden gelegen hatte, dass er sich übergeben musste, eine dicke Zigarre angezündet, die er dann auf Tobias´ Brust ausgedrückt hatte.
Was jedoch dann danach geschah, war das Schlimmste, an das sich der Junge erinnern konnte.
Eigentlich waren all seine Gedanken sehr verschwommen und verworren. Mit den meisten wusste er gar nichts anzufangen, ausgenommen die, die er in der Holzhütte am Spielplatz hatte. Diese eine Erinnerung jedoch befand sich messerscharf an der Oberfläche seines Bewusstseins. Sie war sogar so scharf, dass man sich, wenn man nicht aufpasste, daran schneiden konnte. Nachdem sein Vater die Zigarre ausgedrückt hatte, war er zum Barschrank im Wohnzimmer gegangen und hatte dort eine Pistole herausgeholt. Tobias wusste, dass er sie dort drinnen versteckt hatte, denn sein Vater hatte sie ihm schon einmal gezeigt und sogar einmal halten lassen.
Sein Vater hatte die Pistole dann geholt und Tobias den Lauf in den Mund gesteckt.
„Wenn du nicht willst, dass ich dir deinen beschissenen, behinderten Scheißkopf wegpuste, dann halt in Zukunft lieber still. Ich brauche nur diesen kleinen Abzug hier zu betätigen und es ist aus mit dir“ hatte sein Vater geschriehen. Danach hatte er wieder das Schlimme getan.

Tobias Mutter hatte einmal zu ihm gesagt, dass sie ihn schon hasste, als er noch ihn ihrem Bauch war. Sein Vater hatte ihn scheinbar auch schon damals gehasst, da er der Mutter oft in den Bauch getreten hatte, als er noch ganz klein dort drinnen war.
Vielleicht musste er deshalb auch auf eine andere Schule gehen, als all die anderen Kinder aus der Siedlung. Vielleicht sah er ja auch deshalb im Gesicht so anders aus. Die Frau Greiner von gegenüber hatte mal gesagt, dass seine Mama eine Schnapsdrossel sei und er deshalb ein „Mongo“ geworden sei. Tobais hatte jedoch, wie so oft, nicht verstanden, was sie damit sagen wollte.

Der Junge stand mittlerweile fast 10 Minuten vor der Haustüre und blickte versonnen zum Gartentor.
Seit dem er die Türe geschlossen hatte, hatte er, fast schon verkrampft, darauf gewartet, dass sein Vater herausstürmen würde
Doch das passierte heute nicht.
In Tobias´ beschränkter Gefühlswelt hatte sich mittlerweile ein neues, vorher nie da gewesenes Gefühl hinzugesellt. Es war neu, aber es war gut.
Es war die Gewissheit. Die Gewissheit, diese Türe nie wieder öffnen zu müssen und nie mehr wieder die traurige Maske aufsetzen zu müssen. Dessen war er sich diesmal sicher.
Diese Gewissheit war ein Gefühl, das er schon lange gebraucht hatte. Obwohl er instinktiv verkrampft hatte, als er vor der Türe stand und sich vor dem Herauskommen seines Vaters gefürchtet hatte, war er sich, in seinem bewussten Denken, die ganze Zeit über sicher gewesen, dass es nie mehr passieren würde.

Tobias konnte nicht sagen warum. So plötzlich ihm alles ganz klar gewesen war, so schnell verschwamm alles, bis auf das Gefühl der Gewissheit wieder.
Er konnte sich nun schon nicht einmal mehr daran erinnern, wie und wann er überhaupt vor die Türe gekommen war.
Das letzte, an das er sich jetzt noch erinnern konnte, war das hohle Geräusch der Türe, als diese ins Schloss gefallen war.
Was machte er hier überhaupt? War er auf dem Weg zum Spielplatz gewesen?
Eigentlich war es auch egal, dass einzige, dass zählte war das, immer noch währende Gefühl der Gewissheit. Er konnte gehen. Er musste nie wieder zurückkehren. Weder sein Vater, noch seine Mutter würden ihn aufhalten können.
Fast schon vergnügt setzte er sich in Richtung Gartentor in Bewegung.
Seine Füße schlurften träge über den rot gepflasterten Weg. Die Schlurfgeräusche seiner Füße vermischten sich mit den kratzenden der welken Blätter, die der kalte Herbstwind unablässig über die roten Pflastersteine fegte.
Achtlos warf Tobias die Pistole in das Blumenbett rechts von ihm und ging durch das Gartentor.


Ende



Puuuuhh!! Langes Ding. Ich versuche ja verzweifelt, mich kürzer zu fassen, schaff´s aber irgendwie nicht so richtig. Na ja, sollte sich irgendjemand die Mühe gemacht haben, die ganze Geschichte bis zum Schluss zu lesen, so würde ich mich riesig über einen kleinen Kommentar dazu freuen!!!!!
 

JCC

Mitglied
Hey, das Ende gefällt mir.
Ich befürchtete zuerst, es wäre so eine Geschichte, wo der Protagonist immer nur leidet und leidet und man als Leser ihn gefälligst zu bemitleiden hat, bis die Geschichte zu Ende ist und er allein weiterleidet, aber zum Schluß wird man eines besseren belehrt.

Doch, wirklich gut. :)
 

Haggard

Mitglied
Wow, Danke JCC! Freut mich, daß dir die Geschichte gefallen
hat. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel mir deine
positive Reaktion bedeutet!
 



 
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