Tod einer Ikone

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Amélie Fournault war berühmt ... - und berüchtigt, wurde geliebt, ihrer engelhaften Erscheinung wegen, und von Herzen gehasst - und das lag an ihrer Tätigkeit. Wurde sie tätig, dann flogen die Fetzen, blieb kein Stein auf dem anderen und kein Auge trocken. Doch genug der Nettigkeiten, sie war: bildhübsch, hochgebildet, intelligent, wortgewandt ... und extrem scharfzüngig.
Sie war der absolute Star ... unter den Literaturkritikern.

Es war ein ruhiger Abend. Amélie saß mit einem Buch in ihrem Lieblingssessel, gleich neben dem Kamin, in dem einige große Holzkloben loderten und den Raum angenehm erwärmten. Die Glut war so stark, dass man es nur neben der Feuerstelle aushielt. Mancher Chevalier, der es in den Dunstkreis der jungen Dame geschafft hatte, würde beteuern, dass es die gleiche Glut sei, die in ihrem Herzen tobte. - Hörte Amélie solcherlei Geschwätz, hob sie verschmitzt eine Augenbraue, rümpfte das feine Näschen und lächelte. - Bezaubernd!
Es war hingegen klar, dass die Autorin, deren Werk eben der Begutachtung unterzogen wurde, mit solcherlei Koketterie nicht zu rechnen hatte. Nadelspitz und scharf war die Feder der Kritikerin, die kein Blatt vor den Mund nahm, hatte sie erst einmal ein solches bereit gelegt und begonnen, ihr Verdikt zu formulieren. Dasjenige, das sie der heutigen Lektüre angedeihen lassen würde, begann schon ... ernst:
"Die Geschichte, die uns die Autorin hier glaubhaft machen will, ist nicht nur farblos und platt, sondern obendrein so ungeschickt zusammengebastelt, dass ich mich bereits im ersten Kapitel mit der Entscheidung konfrontiert sah, statt des gepflegten Glases Sherry die gesamte Flasche zu leeren oder aber das Machwerk dem - der Gemütlichkeit halber - lohenden Kaminfeuer anzuvertrauen.
Selbst wenn ich das Holz nicht entzündet hätte, so wäre dem doch mehr Herzenswärme und Lebendigkeit zueigen gewesen, als der Farce, welche Mademoiselle de Berger ihre armen Romanfiguren hier dahin dilettieren lässt. ..."

In diesem Stil sezierte Amélie das Buch der jungen Autorin und ließ mit ihrem Fazit nur graues Konfetti zurück: "Man möge die Dame torturieren und dann, nach Abnahme eines Schweigegelübdes, der Obhut einer möglichst abgelegenen Eremitage übergeben, auf dass sie nicht unsere ohnehin schon so trauervolle Welt ein weiteres Mal mit solchem Unrat zu verschandeln vermag."

Gerade als sie ihre Feder beiseite legte, läutete die Glocke. Jeróme, ihr Hausdiener, eilte zur Tür. Nach wenigen Momenten kehrte er zurück und überreichte mit ehrfürchtiger Verbeugung ein kleines Silbertablett, auf dem sich eine goldgerahmte "Carte de visite" befand, nebst einem gefalteten und gesiegelten Brief. Sie ergriff das Tablett mit feenweißer Hand und betrachtete die Carte.
"Vicomte Arvide de Châtiment", las sie laut vor, kicherte kurz und ließ die Avise mit großer Geste ins Feuer segeln.
Von diesem Herren hatte sie noch nie etwas gehört. Das bekümmerte sie aber nicht weiter. Sie kannte so viele Herren ...
"Wollen wir doch einmal sehen, was der Herr Vicomte uns mitzuteilen gedenkt!"
Sie erbrach das Siegel und faltete das Blatt feinen Büttenpapiers auf.
"Höchst verehrte Mademoiselle Amélie!", stand da.
"Bitte verzeihen Sie, dass ich in so frechlicher Art und Weise wage, ein paar Momente Ihrer kostbaren Zeit an mich zu reißen! Die Angelegenheit, in der ich Sie zu kontaktieren gehalten bin, verlangt jedoch höchste Eile und größte Diskretion, sodass ich Sie inständig ersuche, von dem Inhalt dieses Schreibens, ja, selbst von dessen Erhalt, nichts zu verlautbaren.
So bitte ich Sie nun weiterhin, mir die Ehre zu gewähren, mein kleines Anwesen, welches sich auf dem Lande, in himmlischer Umgebung befindet, mit Ihrer Gegenwart beehren zu wollen. Dies, ich betonte es Eingangs des Schreibens bereits, duldet keinen Aufschub, weshalb ich als Zeitpunkt den heutigen Abend, gegen zehn Uhr, vorzuschlagen mich erkühne.
Die Adresse findet sich auf dem kleinen Beilageblatt, welches ihrem Cocher den Weg weisen möge.
In freudiger Erwartung Ihrer geschätzten Gesellschaft verbleibe ich,
untertänigst
A. de Châtiment"

Amélie nahm das Beiblatt an sich und ließ den Brief der Carte folgen. Sie griff nach dem Glas und trank einen Schluck Sherry, dann schaute sie zur Uhr und rief nach Pierre, ihrem Kutscher.
"Ich werde heute abend zu dieser Adresse fahren.", verkündete die Dame. "Verinnerliche er die Adresse und gebe er mir den Zettel zurück, wenn er sie sicher gemerkt hat!"
Der muskulöse Mann deutete eine Verbeugung an und nahm das Blatt entgegen. Im Licht der Öllampe, die auf dem kleinen Beistelltischchen stand, entzifferte er die Angaben und reichte seiner Herrin das Papier zurück.
Er verbeugte sich etwas tiefer als bei seiner Ankunft und verließ den Raum.

Es war gegen Acht, als Pierre wieder eintrat und ohne Umschweife verkündete, dass die Kutsche bereit sei. Madame möge bedenken, dass die Reisezeit etwa eine und eine weitere halbe Stunde betragen würde, sagte er.
Amélie begab sich sofort in ihre Gemächer, wo sie, mithilfe der kleinen Alma, ihrer Lieblingszofe, sich in einen schillernden Schmetterling verwandelte. Die Kleine gab sich alle Mühe, dennoch zeigte die Uhr bereits sechsunddreißig Minuten nach Acht, als die Hausherrin die Kutsche bestieg, diese ratternd die Auffahrt hinab fuhr und im Nebel des Abends verschwand.

Die Reise war wenig kurzweilig, zumal die ausgefahrenen Wege und später die holprigen Landstraßen nichts für zarte Gemüter und empfindliche Hinterteile waren. Als die Kutsche das Anwesen erreichte, war der Abend bereits einer klaren, kühlen Nacht gewichen. Bei der Annäherung an das Chalet des Vicomte schaute Amélie aus der Kutsche hinaus.
Im fahlen Mondlicht erkannte sie den Umriss eines Mannes mit Zylinder.
Für einen Moment fühlte sich die junge Dame versucht, der Gestalt zuzuwinken, enthielt sich aber dann und schüttelte, über sich selbst erstaunt, den Kopf und zog sich in die Kabine zurück.

Als sie den Eingang des weitläufigen Hauses erreichten, war der Zylindermann verschwunden, stattdessen erschien ein gepflegt gekleideter, sehr distinguiert wirkender Bediensteter, der ihr beim Aussteigen beisprang und sie sicher zum Eingang geleitete.
Sie betraten das Haus und Amélie wollte der Atem stocken. Die gesamte Einrichtung, inklusive der Möbel, Tapeten, Teppiche, ... bestand aus beschriebenem Papier.
"Erstaunlich, nicht wahr, welche Menge von Blättern eine einzige Familie zu beschreiben in der Lage ist?", ertönte eine sehr angenehme, sonore Baßstimme, deren Besitzer elegant aus Richtung eines der Zimmer herüber schritt. An dieser Person, das war schon beim ersten Blick klar, den Amélie auf den Hausherren warf, gab es keinen Makel.
Noch während der Musterung hatte der Vicomte, denn niemand anders konnte es sein, ihre Position erreicht und nahm ihre Hand zu einem perfekten Handkuss.
"Mademoiselle!" er verstummte und tupfte verschämt mit seinem weißen Handschuh, den er extra für die Begrüßung ausgezogen hatte, an seine Lippe. Dann erhob er neuerlich seine Stimme:
"Madame! Ich bin erfreut, dass Sie meiner Einladung doch Folge leisten konnten und mochten. Und ich verspreche, nein, ich schwöre Ihnen, dass das, was sie hier erwartet, einmalig sein wird. Niemals zuvor und sehr wahrscheinlich auch in der Zukunft wird sich dieses Erlebnis", Er unterbrach sich, um ihr mit einer gekonnten Verbeugung den Weg zu weisen, ihr den Mantel abzunehmen und, beinahe unbemerkt, dem Diener zu überlassen.
"... wiederholen."

Amélie war gespannt. Aber das lag nicht an der Neugier auf das so theatralisch angekündigte Ereignis, sondern an dem seltsamen Gefühl, das sie beschlichen hatte, als sie das Haus betrat und das sich seitdem ständig verstärkte. Es war wie ein Deja Vú. Eine Beklemmung saß ihr im Genick und schnürte den Hals zu.
Der Hausherr lief, unbekümmert daher plappernd, vor ihr her. Er führte sie in die riesige Bibliothek, wo schon ein frischer Tee, etwas Gebäck und ein Glas Sherry ihrer harrten.
"Sehr aufmerksam", merkte sie mit kokettem Augenaufschlag und kratziger Stimme an.
"Aber das ist noch gar nichts!", beteuerte Vicomte Arvide. Warten Sie es nur ab, sie werden ... erstaunt ...", seine Stimme schien in den papiernen Buchregalen zu verebben, die jeglichen Hall schluckten. "...sein ".
Sie nahmen vor dem großen, leicht rußig duftenden Kamin Platz, in dem das Feuer bereits in den letzten Zügen war. Es verbreitete dennoch eine wohlige Wärme, die die Besucherin schläfrig machte. Der Hausherr bemerkte das wohl und sagte:
"Sie wirken ermüdet, Mad ... ame. Ich schlage vor, die Heimreise zu verschieben. Mein Kutscher" Sie stutzte bei diesem rohen deutschen Wort, das in ihren Kreisen beinahe verpönt war. Er fuhr fort:
"Mein Kutscher kann Sie morgen gern transportieren. Ich schlage vor, dass der Ihrige nun seinen Heimweg antritt."
Amélie war wirklich ein wenig matt, was sie verwunderte, denn normalerweise machten ihr selbst Bälle und Feste bis in die frühen Morgenstunden keine Schwierigkeiten. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, das Ganze könne an der schrecklichen Lektüre liegen, die sie am Nachmittag so verärgert hatte.
So saß sie also gemütlich am warmen Feuer und leerte, in Gesellschaft dieses bemerkenswerten Adligen, inzwischen ihr drittes Glas.
"Sie haben wohl Recht", stimmte sie zu. "Bitte lassen Sie Pierre ausrichten, dass ich gedenke, hier zu nächtigen! Er soll nach Hause fahren und Alma daran erinnern, dass morgen der große Festball stattfindet. Sie wird wissen, was zu tun ist."
"Gutes Mädchen", fügte sie in Gedanken hinzu.

Als der Hausdiener zurück kam und der Vicomte gerade nach der Flasche griff, um ihr nachzuschenken, richtete sich Amélie hoch auf und sagte: "Bevor wir dieses Glas leeren, wäre ich durchaus interessiert, was denn die Attraktion sei, mit welcher Sie mich hierher lockten."
Ihr Gastgeber warf ihr einen kristallblauen Blick zu, blinzelte kurz und lächelte dann geheimnisvoll.
"Gewiss doch, gewiss."
Er erhob sich, ließ sich von seinem Diener eine Kerze geben und reichte ihr galant die Hand.
"Folgen Sie mir, holde Dame!"

Im flackernden Schein der rußenden, blakenden Kerze stiegen sie eine steinerne Treppe hinab, die zu einem Gang führte, der sicher mehrere Fuß tief unter der Erde sein musste. Das Gefühl, diesen Ort zu kennen, wurde immer mächtiger. Dabei wusste sie genau, dass sie hier in ihrem Leben noch niemals gewesen war.
Arvide, der ihre Hand losgelassen hatte, als er die schwere Eichentür aufschloss, hinter der die Treppe begann, lief flink vor ihr her, wandte sich zu ihr um und drängte:
"Kommen Sie, Made ... dam!"
Der Gang, der unterirdisch einen großen Bogen beschrieben hatte, endete abrupt vor einer uralten, mit Stahl beschlagenen Holztür, die im Laufe der Jahre so nachgedunkelt war, dass sie beinahe wie schwarzer Stein wirkte, der im matten Kerzenlicht glänzte.
"Hier herein, Mademoiselle! Schnell! Es lohnt sich!"
Als der Vicomte die Tür öffnete, vergaß Amélie alle Bedenken. Dahinter lag ein Raum, angefüllt mit alten Büchern, mit Pergamenten und hoch gestapelten Manuskripten. Der Vicomte ließ ihr den Vortritt und blieb, die Kerze hoch erhoben, in der Tür stehen.
"Was ... was ist das?", hauchte Amélie atemlos. Ihr war, als könne sie im trüben Funzellicht Menschen, Tiere, Drachen und andere Fabelwesen sehen, die sich im tanzenden Staub bewegten und zu sprechen schienen.
"Das, Mademoiselle", schnarrte der Vicomte mit einem beängstigendenUnterton und trat auf sie zu.
"Das ist die Essenz aller Gedichte und Geschichten."
"Aller?" fragte die junge Dame verträumt, als sei sie hypnotisiert. Sie schien die Veränderung im Tonfall ihres Gastgebers nicht zu bemerken.

"Nein", bellte Arvide de Châtiment. "Haben Sie sich nicht gefragt, wer denn das sein könnte, 'Arvide von VERGELTUNG'?"
Amélie erschrak. Natürlich! Vicomte "de Châtiment"!
Der Adlige griff in seine kunstreich bestickte Weste.
"Es ist die Essenz aller Bücher, die Sie getötet haben!", brüllte er und erstach seine Besucherin ...
... mit einem Dolch aus Papier.
 



 
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