Tokyo

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Ich rieche nichts.

Es verblüfft mich, denn ich bin mir sicher, noch niemals in einer geruchlosen Stadt gewesen zu sein. Jede, so glaubte ich, sei geprägt durch ihren eigenen Duft, ebenso individuell wie ihre Bewohner und ihre Architektur. Die Kopfnote durch das Klima und die Herznote durch die lokale Küche geformt, mit einer Basis aus allerhand Sorten Pisse. Zumeist dominieren die Ausscheidungen von Hund, Taube und Mensch. Zumindest was die Städte Europas angeht. In engen Gassen, unter Brücken sticht der Ammoniak in die Nase, treibt Tränen in die Augen. Und doch denkt man kaum mehr darüber nach. Nur selten widert es mich an: Mir bewusst werdend, dass ich über einen unsichtbaren Pissefilm stapfe, ihn mit meinen Sohlen aufsauge und mitschleppe, bin ich zuweilen schockiert darüber, dass ich zu Hause die Schuhe nicht ausziehe.
Im Kopf verweilt länger als alles andere das Aroma einer Stadt. Prag riecht nach Schnee, Sevilla nach vertrockneten Olivenbäumen. London riecht nach Geld, Mode und schimmligen Mauern. Paris riecht nach Zigaretten, Leder, Farbe und Blumen.

Tokyo leuchtet geruchlos.

Drei Tage durchschwimme ich nun Tokyos Straßen. Die Leuchtreklamen weisen mir den Weg. Obwohl ich nicht weiß, wo es schön und wo es hässlich ist, wo gefährlich und wo man als Tourist was erleben kann, bin ich bisher nicht vom Weg abgekommen: Stets gelange ich an Orte, die mir gefallen, die mir gut tun. Hier kann man nichts falsch machen, dessen bin ich mir sicher. Die Stadt breitet sich klar und deutlich vor mir aus; sie ist wunderschön, kunterbunt und öffnet sich mir ohne Hintergedanken.
Der fehlende Geruch allerdings verwirrt mich, lässt mich zweifeln. Es erscheint nicht richtig, als wäre ich gar nicht hier, in der modernsten der Großstädte, sondern säße zu Hause auf der Couch und schaute zu, wie ein Kameramann mir Tokyo weist: Die Restaurants, die Geschäfte und Spielotheken, die buntgekleideten Mädchen, die in Folie eingeschweißtes Toilettenpapier verteilen, anzugtragende Geschäftsmänner, die am Ende des Zebrastreifens durch heftige Verbeugungen voneinander Abschied nehmen, andächtig umherstreifende Frauen in seidenen Kimonos mit zu Paketen gebundenen Obis auf dem Rücken und all die anderen Wunder Tokyos, die sich mir allzu friedlich darbieten. Der Dreck, der Schrecken und die stinkende Aufdringlichkeit mir bekannter Großstädte aber werden ferngehalten, verbergen sich vor meinen Sinnen.

Ich bleibe stehen und atme.

Eine Gruppe junger Frauen in Kimonos zieht an mir vorbei, sie duften köstlich nach parfümierter Seife. Unvermittelt setzte ich ihnen nach: In keiner anderen Stadt, riechen die Menschen so gut wie hier. Die mich umgebende Sauberkeit tut unwahrscheinlich gut, mir kommen die Tränen. Aber sie ist echt. Normalerweise meide ich die Nähe anderer Menschen, besonders in der U-Bahn, im Bus oder an Straßenkreuzungen ertrage ich den Geruch nicht, zusammengesetzt aus kaltem Rauch, zu lange getragener Wäsche und durch billiges Rasierwasser aufgestockte Alkoholfahnen: Er erinnert mich zu sehr an meinen Vater. Hier aber trete ich nah an die Menschen ran, lasse mir ihren seifigen Duft in die Nase wehen. Ein paar mal war ich kurz davor, den Kopf in den Nacken einer Frau zu legen, den seidenen Flaum an meiner Nase spürend ihren Wohlgeruch zu stehlen und damit mein Leben wie einen übelriechenden Geist zu vertreiben. Unter den Menschen Tokyos fühle ich mich wie ein Barbar. Ein haariges, stinkendes, schwitzendendes Ungetüm; ein Wanderer aus einer vergessenen Welt. Die Stadt singt und tanzt um mich herum und ich verstehe nichts, bin ein Analphabet aus der Vergangenheit. Die Ginza hinab zum kaiserlichen Palastgarten treibend genieße ich wie Tokyo um mich herum flirrt und denke: Hier kann mir nichts passieren und stürbe ich jetzt gleich, so wäre es sicherlich ein sauberer, duftiger Tod.

Ich blicke auf und möchte sterben.

Um mich schwillt der kaiserliche Palastgarten. Es ist zermürbend still. Wie kann es dermaßen still sein in einer Stadt, so laut, so bunt, so gewaltig wie diese? In der es nach Fisch, Nudelsuppe, Sake und Algen stinken sollte, die Nase aber vergebens nach Halt schnuppert. Wie kann man sein, in einer Stadt ohne Geruch? Wie kann ich hier sein, die ich stinke und schwitze und alles verpeste? Die Hochhäuser Tokyos umzäunen den Garten und tauchen Abendhimmel in stählernes blau. Die Dämmerung, sie kommt früh und plötzlich, weilt nicht lange und ist gerade deshalb beeindruckend schön. Nie habe ich ein solches Blau gesehen, wie das von den Fensterfronten Tokyos über den Palastgarten gesandte. Tokyo saugt den letzten orange-roten Streifen in sich auf und es ist Abend.

Und meine Zeit in dieser Stadt ist vorbei.

Am dritten Abend, sagte ich, sobald das letzte Abendrot verstrichen ist soll er es tun: So lautete mein Befehl, meine Bitte, mein innigster Wunsch. Mein letzter Blick, nachdem ich mich durch die kunterbunte Shibuya, das blinkende Akihabara und die flimmernde Ginza habe treiben lassen, soll auf die Skyline gerichtet sein. Zuletzt möchte ich das Blau sehen, das man nur dort vom kaiserlichen Garten aus sehen kann, genau dann wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung Tokyos Pracht entblößt. Ich lege den Kopf in den Nacken, hinter mir knirschen feste Schritte im Kies, bleiben stehen. Das letzte, das ich höre, ist das zärtliche Einrasten des Schalldämpfers auf der Mündung.
 

Aligator

Mitglied
Hi K.

Dein Text hat mir außerordentlich gut gefallen. Wie du diese Mischung aus Geruch, Farben, Menschen, Städten hinbekommen hast, also das hat mich regelrecht hineingesogen:)

Tokyo leuchtet geruchlos.
Die Sterilität der Moderne hast du dem geschichtsträchtigem Mief gegenübergestellt. Und schon hatte man diese ganzen Gerüchen im Hirn und dachte sich: stimmt.

Was die Kategorie Kurzgeschichte angeht, da fand ichs ein bisschen fehl am Platz. Eher so Richtung Kurzprosa oder weiß der Kuckuck. Die kleine Handlung mit dem Erschießungskommando im letzten Absatz hat dann eher nur Fragen aufgeworfen, die du uns dann schuldig bleibst. Ich würde darauf verzichten.


Die Kopfnote durch das Klima und die Herznote durch die lokale Küche geformt, mit einer Basis aus allerhand Sorten Pisse.
Geil!

Nur selten widert es mich an: Mir bewusst werdend, dass ich über einen unsichtbaren Pissefilm stapfe, ihn mit meinen Sohlen aufsauge und mitschleppe, bin ich zuweilen schockiert darüber, dass ich zu Hause die Schuhe nicht ausziehe.
Fand ich zu kompliziert: Schuhe aus!

Im Kopf verweilt länger als alles andere das Aroma einer Stadt.
Das Aroma einer Stadt verweilt länger als alles andere im Kopf.

Und meine Zeit in dieser Stadt ist vorbei.
... fänd ich ein gutes Schlusswort.
Und danke, das du mich mitgenommen hast.

Es verbeugt sich,
Aligator
 
Ich rieche nichts.

Es verblüfft mich, denn ich bin mir sicher, noch niemals in einer geruchlosen Stadt gewesen zu sein. Jede, so glaubte ich, sei geprägt durch ihren eigenen Duft, ebenso individuell wie ihre Bewohner und ihre Architektur. Die Kopfnote durch das Klima und die Herznote durch die lokale Küche geformt, mit einer Basis aus allerhand Sorten Pisse. Zumeist dominieren die Ausscheidungen von Hund, Taube und Mensch. Zumindest was die Städte Europas angeht. Der Ammoniakduft sticht in die Nase, treibt besonders in engen Gassen und unter Brücken die Tränen in die Augen. Und doch denkt man kaum mehr darüber nach. Manchmal wird mir bewusst, dass man ständig über einen unsichtbaren Pissefilm läuft, dann bin ich schockiert darüber, zu Hause die Schuhe nicht auszuziehen.
Das Aram einer Stadt verweilt länger als alles andere im Kopf. Prag riecht nach Schnee, Sevilla nach vertrockneten Olivenbäumen. London riecht nach Geld, Mode und schimmligen Mauern. Paris riecht nach Zigaretten, Leder, Farbe und Blumen.

Tokyo leuchtet geruchlos.

Drei Tage durchschwimme ich jetzt Tokyos Straßen. Die Leuchtreklamen weisen mir den Weg. Obwohl ich nicht weiß, wo es schön und wo es hässlich ist, wo gefährlich und wo man als Tourist was erleben kann, bin ich bisher nicht vom Weg abgekommen: Stets gelange ich an Orte, die mir gefallen, die mir gut tun. Hier kann man nichts falsch machen, dessen bin ich mir sicher. Die Stadt breitet sich klar und deutlich vor mir aus; sie ist wunderschön, kunterbunt und öffnet sich mir ohne Hintergedanken.
Der fehlende Geruch allerdings verwirrt mich, lässt mich zweifeln. Es erscheint nicht richtig, als wäre ich gar nicht hier, in der modernsten der Großstädte, sondern säße zu Hause auf der Couch und schaute zu, wie ein Kameramann mir Tokyo weist: Die Restaurants, die Geschäfte und Spielotheken, die buntgekleideten Mädchen, die in Folie eingeschweißtes Toilettenpapier verteilen, anzugtragende Geschäftsmänner, die am Ende des Zebrastreifens durch heftige Verbeugungen voneinander Abschied nehmen, andächtig umherstreifende Frauen in seidenen Kimonos mit zu Paketen gebundenen Obis auf dem Rücken und all die anderen Wunder Tokyos, die sich mir allzu friedlich darbieten. Der Dreck, der Schrecken und die stinkende Aufdringlichkeit mir bekannter Großstädte aber werden ferngehalten, verbergen sich vor meinen Sinnen.

Ich bleibe stehen und atme.

Eine Gruppe junger Frauen in Kimonos zieht an mir vorbei, sie duften köstlich nach parfümierter Seife. Unvermittelt setzte ich ihnen nach: In keiner anderen Stadt, riechen die Menschen so gut wie hier. Die mich umgebende Sauberkeit tut unwahrscheinlich gut, mir kommen die Tränen. Aber sie ist echt. Normalerweise meide ich die Nähe anderer Menschen, besonders in der U-Bahn, im Bus oder an Straßenkreuzungen ertrage ich den Geruch nicht, zusammengesetzt aus kaltem Rauch, zu lange getragener Wäsche und durch billiges Rasierwasser aufgestockte Alkoholfahnen: Er erinnert mich zu sehr an meinen Vater. Hier aber trete ich nah an die Menschen ran, lasse mir ihren seifigen Duft in die Nase wehen. Ein paar mal war ich kurz davor, den Kopf in den Nacken einer Frau zu legen, den seidenen Flaum an meiner Nase spürend ihren Wohlgeruch zu stehlen und damit mein Leben wie einen übelriechenden Geist zu vertreiben. Unter den Menschen Tokyos fühle ich mich wie ein Barbar. Ein haariges, stinkendes, schwitzendendes Ungetüm; ein Wanderer aus einer vergessenen Welt. Die Stadt singt und tanzt um mich herum und ich verstehe nichts, bin ein Analphabet aus der Vergangenheit. Die Ginza hinab zum kaiserlichen Palastgarten treibend genieße ich wie Tokyo um mich herum flirrt und denke: Hier kann mir nichts passieren und stürbe ich jetzt gleich, so wäre es sicherlich ein sauberer, duftender Tod.

Ich blicke auf und möchte sterben.

Um mich schwillt der kaiserliche Palastgarten. Es ist zermürbend still. Wie kann es dermaßen still sein in einer Stadt, so laut, so bunt, so gewaltig wie diese? In der es nach Fisch, Nudelsuppe, Sake und Algen stinken sollte, die Nase aber vergebens nach Halt schnuppert. Wie kann man sein, in einer Stadt ohne Geruch? Wie kann ich hier sein, die ich stinke und schwitze und alles verpeste? Die Hochhäuser Tokyos umzäunen den Garten, färben den Himmel stahlblau. Die Dämmerung, sie kommt früh und plötzlich, weilt nicht lange und ist gerade deshalb beeindruckend schön. Tokyo saugt den letzten orange-roten Streifen in sich auf und es ist Abend.
Mein letzter Blick, nachdem ich mich durch die kunterbunte Shibuya, das blinkende Akihabara und die flimmernde Ginza habe treiben lassen, soll auf die Skyline gerichtet sein. Zuletzt möchte ich das Blau sehen, das man nur dort vom kaiserlichen Garten aus sehen kann, genau dann wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung Tokyos Pracht entblößt.

Und meine Zeit in dieser Stadt ist vorbei.
 
Hallo Wipfel und Alligator,

es freut mich, dass euch mein Text gefallen hat. Bei meiner allerersten literarischen Veröffentlichung habe ich überhaupt nicht mit positiver Reaktion gerechnet und freue mich daher umso mehr :)

@Alligator: Ich stimme dir zu, die Kategorie Kurzprosa wäre letztlich passender gewesen. Solche Einordnungen liegen mir nicht besonders, zukünftig werde ich das geneuer überdenken.
Danke auch für die konstruktiven Anmerkungen, habe den Text entsprechend geändert und getreu dem Motto "Kill your Darlings" den Schluss umstrukturiert und jetzt wirkt es wirklich stimmiger.

Es freut mich, dass ich euch beide mitnehmen konnte, besonders, weil genau das mein Ziel war.

Danke K.
 
Ich rieche nichts.

Es verblüfft mich, denn ich bin mir sicher, noch niemals in einer geruchlosen Stadt gewesen zu sein. Jede, so glaubte ich, sei geprägt durch ihren eigenen Duft, ebenso individuell wie ihre Bewohner und ihre Architektur. Die Kopfnote durch das Klima und die Herznote durch die lokale Küche geformt, mit einer Basis aus allerhand Sorten Pisse. Zumindest was die Städte Europas angeht. Das Aroma einer Stadt verweilt länger als alles andere im Kopf. Prag riecht nach Schnee, Sevilla nach vertrockneten Olivenbäumen. London riecht nach Geld, Mode und schimmligen Mauern. Paris riecht nach Zigaretten, Leder, Farbe und Blumen.

Tokyo leuchtet geruchlos.

Drei Tage durchschwimme ich jetzt Tokyos Straßen. Die Leuchtreklamen weisen mir den Weg. Obwohl ich nicht weiß, wo es schön und wo es hässlich ist, wo gefährlich und wo man als Tourist was erleben kann, bin ich bisher nicht vom Weg abgekommen: Stets gelange ich an Orte, die mir gefallen, die mir gut tun. Hier kann man nichts falsch machen, dessen bin ich mir sicher. Die Stadt breitet sich klar und deutlich vor mir aus; sie ist wunderschön, kunterbunt und öffnet sich mir ohne Hintergedanken.
Der fehlende Geruch allerdings verwirrt mich, lässt mich zweifeln. Es erscheint nicht richtig, als wäre ich gar nicht hier, in der modernsten der Großstädte, sondern säße zu Hause auf der Couch und schaute zu, wie ein Kameramann mir Tokyo weist: Die Restaurants, die Geschäfte und Spielotheken, die buntgekleideten Mädchen, die in Folie eingeschweißtes Toilettenpapier verteilen; anzugtragende Geschäftsmänner, die am Ende des Zebrastreifens durch heftige Verbeugungen voneinander Abschied nehmen; andächtig umherstreifende Frauen in seidenen Kimonos mit zu Paketen gebundenen Obis auf dem Rücken und all die anderen Wunder Tokyos, die sich mir allzu friedlich darbieten. Der Dreck, der Schrecken und die stinkende Aufdringlichkeit mir bekannter Großstädte aber werden ferngehalten, verbergen sich vor meinen Sinnen.

Ich bleibe stehen und atme.

Eine Gruppe junger Frauen in Kimonos zieht an mir vorbei, sie duften köstlich nach parfümierter Seife. Unvermittelt setzte ich ihnen nach: In keiner anderen Stadt, riechen die Menschen so gut wie hier. Die mich umgebende Sauberkeit tut unwahrscheinlich gut, mir kommen die Tränen. Aber sie ist echt. Normalerweise meide ich die Nähe anderer Menschen, besonders in der U-Bahn, im Bus oder an Straßenkreuzungen ertrage ich den Geruch nicht, zusammengesetzt aus kaltem Rauch, zu lange getragener Wäsche und durch billiges Rasierwasser aufgestockte Alkoholfahnen: Er erinnert mich zu sehr an meinen Vater. Hier aber trete ich nah an die Menschen ran, lasse mir ihren seifigen Duft in die Nase wehen. Ein paar Mal war ich kurz davor, den Kopf in den Nacken einer Frau zu legen, den seidenen Flaum an meiner Nase spürend ihren Wohlgeruch zu stehlen und damit mein altes Leben wie einen übelriechenden Geist zu vertreiben. Unter den Menschen Tokyos fühle ich mich wie ein Barbar. Ein haariges, stinkendes, schwitzendendes Ungetüm; ein Wanderer aus einer vergessenen Welt. Die Stadt singt und tanzt um mich herum und ich verstehe nichts, bin ein Analphabet aus der Vergangenheit. Die Ginza hinab zum kaiserlichen Palastgarten treibend genieße ich wie Tokyo um mich herum flirrt und denke: Hier kann mir nichts passieren und stürbe ich jetzt gleich, so wäre es sicherlich ein sauberer, duftender Tod.

Ich blicke auf und möchte sterben.

Um mich schwillt der kaiserliche Palastgarten. Es ist zermürbend still. Wie kann es dermaßen still sein in einer Stadt, so laut, so bunt, so gewaltig wie diese? In der es nach Fisch, Nudelsuppe, Sake und Algen stinken sollte, die Nase aber vergebens nach Halt schnuppert. Wie kann man sein, in einer Stadt ohne Geruch? Wie kann ich hier sein, die ich stinke und schwitze und alles verpeste? Die Hochhäuser Tokyos umzäunen den Garten, färben den Himmel stahlblau. Die Dämmerung, sie kommt früh und plötzlich, weilt nicht lange und ist gerade deshalb beeindruckend schön. Tokyo saugt den letzten orange-roten Streifen in sich auf und es ist Abend.
Mein letzter Blick, nachdem ich mich durch die kunterbunte Shibuya, das blinkende Akihabara und die flimmernde Ginza habe treiben lassen, soll auf die Skyline gerichtet sein. Zuletzt möchte ich das Blau sehen, das man nur dort vom kaiserlichen Garten aus sehen kann, genau dann wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung Tokyos Pracht entblößt.

Und meine Zeit in dieser Stadt ist vorbei.



Tokyo leuchtet geruchlos.

Drei Tage durchschwimme ich jetzt Tokyos Straßen. Die Leuchtreklamen weisen mir den Weg. Obwohl ich nicht weiß, wo es schön und wo es hässlich ist, wo gefährlich und wo man als Tourist was erleben kann, bin ich bisher nicht vom Weg abgekommen: Stets gelange ich an Orte, die mir gefallen, die mir gut tun. Hier kann man nichts falsch machen, dessen bin ich mir sicher. Die Stadt breitet sich klar und deutlich vor mir aus; sie ist wunderschön, kunterbunt und öffnet sich mir ohne Hintergedanken.
Der fehlende Geruch allerdings verwirrt mich, lässt mich zweifeln. Es erscheint nicht richtig, als wäre ich gar nicht hier, in der modernsten der Großstädte, sondern säße zu Hause auf der Couch und schaute zu, wie ein Kameramann mir Tokyo weist: Die Restaurants, die Geschäfte und Spielotheken, die buntgekleideten Mädchen, die in Folie eingeschweißtes Toilettenpapier verteilen, anzugtragende Geschäftsmänner, die am Ende des Zebrastreifens durch heftige Verbeugungen voneinander Abschied nehmen, andächtig umherstreifende Frauen in seidenen Kimonos mit zu Paketen gebundenen Obis auf dem Rücken und all die anderen Wunder Tokyos, die sich mir allzu friedlich darbieten. Der Dreck, der Schrecken und die stinkende Aufdringlichkeit mir bekannter Großstädte aber werden ferngehalten, verbergen sich vor meinen Sinnen.

Ich bleibe stehen und atme.

Eine Gruppe junger Frauen in Kimonos zieht an mir vorbei, sie duften köstlich nach parfümierter Seife. Unvermittelt setzte ich ihnen nach: In keiner anderen Stadt, riechen die Menschen so gut wie hier. Die mich umgebende Sauberkeit tut unwahrscheinlich gut, mir kommen die Tränen. Aber sie ist echt. Normalerweise meide ich die Nähe anderer Menschen, besonders in der U-Bahn, im Bus oder an Straßenkreuzungen ertrage ich den Geruch nicht, zusammengesetzt aus kaltem Rauch, zu lange getragener Wäsche und durch billiges Rasierwasser aufgestockte Alkoholfahnen: Er erinnert mich zu sehr an meinen Vater. Hier aber trete ich nah an die Menschen ran, lasse mir ihren seifigen Duft in die Nase wehen. Ein paar mal war ich kurz davor, den Kopf in den Nacken einer Frau zu legen, den seidenen Flaum an meiner Nase spürend ihren Wohlgeruch zu stehlen und damit mein Leben wie einen übelriechenden Geist zu vertreiben. Unter den Menschen Tokyos fühle ich mich wie ein Barbar. Ein haariges, stinkendes, schwitzendendes Ungetüm; ein Wanderer aus einer vergessenen Welt. Die Stadt singt und tanzt um mich herum und ich verstehe nichts, bin ein Analphabet aus der Vergangenheit. Die Ginza hinab zum kaiserlichen Palastgarten treibend genieße ich wie Tokyo um mich herum flirrt und denke: Hier kann mir nichts passieren und stürbe ich jetzt gleich, so wäre es sicherlich ein sauberer, duftender Tod.

Ich blicke auf und möchte sterben.

Um mich schwillt der kaiserliche Palastgarten. Es ist zermürbend still. Wie kann es dermaßen still sein in einer Stadt, so laut, so bunt, so gewaltig wie diese? In der es nach Fisch, Nudelsuppe, Sake und Algen stinken sollte, die Nase aber vergebens nach Halt schnuppert. Wie kann man sein, in einer Stadt ohne Geruch? Wie kann ich hier sein, die ich stinke und schwitze und alles verpeste? Die Hochhäuser Tokyos umzäunen den Garten, färben den Himmel stahlblau. Die Dämmerung, sie kommt früh und plötzlich, weilt nicht lange und ist gerade deshalb beeindruckend schön. Tokyo saugt den letzten orange-roten Streifen in sich auf und es ist Abend.
Mein letzter Blick, nachdem ich mich durch die kunterbunte Shibuya, das blinkende Akihabara und die flimmernde Ginza habe treiben lassen, soll auf die Skyline gerichtet sein. Zuletzt möchte ich das Blau sehen, das man nur dort vom kaiserlichen Garten aus sehen kann, genau dann wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung Tokyos Pracht entblößt.

Und meine Zeit in dieser Stadt ist vorbei.
 



 
Oben Unten