Totgeschrieben - 10. Hoffnung

xavia

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10. Hoffnung

Jonas versucht, Rudolf ein neues Zuhause zu verschaffen

Jonas lehnte lässig am Tresen der Rezeption. Tina hatte ihm einen Becher Kaffee angeboten. Erstaunlich, wie Frauen funktionierten. Kaum trat eine andere auf die Bühne, legten sie sich ins Zeug, um diese auszustechen. Er machte sich nichts vor, mit Tina würde nichts laufen. Sie wollte ihn nur als stillen Verehrer nicht verlieren. Das konnte ihm nur recht sein.
[ 5] »Wie geht es denn deinem Vater?« fragte sie gesellig.
[ 5] Jonas wusste, dass Tina es armselig fand, mit Dreißig noch bei seinem Vater zu leben. Vielleicht konnte er menschlich damit punkten, für den sonderbaren alten Mann zu sorgen, aber es schadete eindeutig seinem Ansehen als ›Mann‹ , dass er mit ihm unter einem Dach wohnte. Da sein Ruf bei Tina ohnehin ruiniert war, konnte er entspannt mit ihr plaudern: »Ach, mal so, mal so. Er werkelt vor sich hin, meistens bekomme ich gar nicht mit, was er den ganzen Tag über treibt. Er redet ja nicht viel. Neulich hatten wir Kinder im Garten, die haben eine Scheibe eingeworfen. Dachten wohl, in dem Haus wohnt keiner mehr. Oder es war eine Mutprobe. Sie hatten sich von der Mauer abgeseilt. Nun hoffe ich, dass mein alter Herr eine neue einsetzt, ich bringe sie ihm heute mit. – Seltsam, dass hier so wenig los ist; die Sonne strahlt vom Himmel, da könnte doch der eine oder andere auf die Idee kommen, sich ein Haustier anzuschaffen«, wechselte er abrupt das Thema.
[ 5] »Ich finde, wir sollten Reklame im Internet machen«, schlug Tina vor. »Hab ich bei anderen Tierheimen gesehen. Die haben nicht nur Adresse, Öffnungszeiten, Telefonnummern, Bilder von den Angestellten, sondern oft auch ganz süße Fotos von ihren Tieren auf ihrer Web-Seite. Den Hund des Monats, die Katze der Woche, solche Sachen, und dann schreiben die da Geschichten, aus der Sicht des jeweiligen Tiers erzählt, da kann man eigentlich nur noch loslaufen und es zu sich nehmen, so menschlich kommt es dabei rüber.«
[ 5] »Ja, mag sein, aber wer soll sich darum kümmern? Ich habe in der kargen Freizeit, die mir der Halbtagsjob lässt, keine Zeit dafür«, wandte Jonas ein und nahm noch einen Schluck Kaffee. Sollte sie nur nicht denken, er hätte kein erfülltes Leben.
[ 5] »Na, dein Vater könnte das machen. Der hat doch weiter nichts zu tun. Kann der sowas nicht? Oder kann er es nicht lernen?«
[ 5] »Keine Ahnung, er hat noch nie an einem Computer gesessen, interessiert sich nur für bewegliche Teile, Mechanik. Er kann Sachen bauen. Aber Internet? Ich weiß nicht. Seit meine Mutter gestorben ist, interessiert ihn gar nichts mehr, nicht mal Fernsehen.«
[ 5] Durch die Eingangstür sah Jonas, wie ein roter Mini vorfuhr, der ihm schon sehr vertraut war. Sofort wurden Tina und der Kaffee Vergangenheit. Er wollte hinauseilen, schaffte es im letzten Moment, diesen Impuls zu unterdrücken. Gab ihm dann doch nach, als ihm einfiel, dass er keine Zeugin haben wollte für das Gespräch mit Rudolfs neuem Frauchen.
[ 5] Hin- und hergerissen zwischen lässigem Schlendern und eiligem Spurt stolperte er durch die Tür, warf sie hinter sich zu und guckte die Fahrerin, die hastig aus dem Auto gesprungen war, erwartungsvoll an: »Noch etwas vergessen?«
[ 5] Sie fragte: »Kann Rudolf Fährten lesen?« und wirkte so, als beherrschte sie sich nur mühsam, nicht zu ihm hinzulaufen, ihn zu packen und eine Antwort aus ihm herauszuschütteln. Schließlich stemmte sie die Fäuste in die Hüften und stand breitbeinig neben ihrem Auto. Mit großen Augen sah sie ihn flehend an.
[ 5] »Klar, jeder Hund kann das. Rudolf hat eine gute Nase.« Jonas fragte sich, elcher Schrecken sie erfasst haben könnte, dass sie so aufgeregt war.
[ 5] »Ja, aber kann er jemanden für mich finden?« hakte sie nach, trat näher und gestikulierte mit offenen Händen vor der Brust, als wäre Jonas begriffsstutzig.
[ 5] Er versuchte, gelassen zu bleiben. »Keine Ahnung. Muss man ausprobieren. Wen suchen Sie denn?«
[ 5] »Meine kleine Nichte. Es ist schlimm, sie ist verschwunden. Meine Schwester gibt mir die Schuld. Ich muss etwas unternehmen.«
[ 5] »Polizei?« schlug Jonas spontan vor.
[ 5] »Da war ich schon. Aber wenn die sie nicht finden …« – ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft, als hätte sie gerade auf einen Nagel getreten.
[ 5] Jonas wog die Möglichkeiten ab: Um diese Zeit konnte er keinen Hund mehr ausleihen. – Andererseits, wenn er ihn selbst mitnehmen würde? – Nein, dann hätte er die Verantwortung und sie würde das ausnutzen. – Oder wenn sie ihn ganz zu sich nähme? – Wenn er sie jetzt wegschickte, wäre die Chance vielleicht vertan, spätestens, wenn die Nichte wieder auftauchte. Wenn er ihr aber Druck machte, würde sie vielleicht einen Rückzieher machen? Er entschied sich dafür, auf ihre Spontaneität zu bauen: »Sie können den Hund jetzt nicht zum Gassigehen ausleihen, aber sie könnten ihn ganz zu sich nehmen. Sie hatten mir doch erzählt, dass Sie immer schon einen Hund haben wollten. Vielleicht ist dieses der Moment? Wir müssten natürlich sehr unbürokratisch vorgehen, aber da Rudolf Sie so sehr mag …«
[ 5] »Huch? Ich? Einen Hund? Jetzt? Ich weiß nicht, da muss ich doch ganz viel planen und er braucht etwas zu fressen und einen Platz zum Schlafen und wo bleibt er tagsüber, wenn ich zur Arbeit muss?« Toni hatte ihre fordernde Haltung aufgegeben, wusste anscheinend nicht, wohin mit ihren Armen und verschränkte sie schließlich vor der Brust, wie um sich vor diesem Angriff auf ihr Privatleben zu schützen.
[ 5] Ja, diese Fragen musste man sich stellen. Jonas staunte, wie schnell diese Frau begann, Verantwortung zu übernehmen. Ganz gegen seine sonstige Überzeugung wiegelte er ab: « Ach, so schlimm ist das gar nicht. Ich kann Ihnen helfen, ich habe Erfahrung mit Hunden. Manche Hundehalterinnen nehmen sich mittags eine Stunde für ihne und dann schafft er es, die übrige Arbeitszeit allein zu bleiben. Ist natürlich auch eine Frage der Eingewöhnung. Aber wenn es einen Hund gibt, der das hinbekommt, dann ist das Rudolf. Wenn wir Ihre Nichte wiedergefunden haben, kann sie ja vielleicht nach der Schule mit ihm Gassi gehen.«
[ 5] »Stimmt. Das findet die sicherlich toll. Okay, ich versuch's. Wo muss ich unterschreiben? Kann ich ihn gleich mitnehmen? Wieviel frisst der so am Tag und wann und was?«
[ 5] Was für eine Frau! Geballte Lebensenergie und so entscheidungsfreudig! Hoffentlich war sie nicht zu sprunghaft und wollte den Hund schon nach einer Woche wieder lossein! Jonas wollte jetzt am Ball bleiben: »Ich könnte heute früher Feierabend machen, muss nur noch meinem Kollegen Bescheid sagen, dass er sich heute abend um alles alleine kümmern muss, dann könnte ich mitkommen und Suchen helfen.«
[ 5] »Super, dann werd' ich diesen Hund mal schnell adoptieren.« freute Toni sich und eilte an ihm vorbei ins Haus, um an der Rezeption die nötigen Formalitäten zu erledigen. Die Empfangsdame guckte mehr als zweifelnd und suchte Blickkontakt mit Jonas, der der quirligen jungen Frau gefolgt war. Der nickte ihr hinter deren Rücken zuversichtlich zu, gestikulierte auffordernd und ließ keinen Raum für Diskussionen. Er war fest davon überzeugt, dass er eine gute Entscheidung getroffen hatte, dass sowohl die Frau als auch der Hund davon profitieren würden.
[ 5] Dann ging er, um sich für den Abend abzumelden und Rudolf zu holen. – Sein Kollege Klaus, der fest im Tierheim arbeitete, ließ ihn, den Praktikanten, oft mit dem ›Abendprogramm‹ allein. Jonas machte das nichts aus, er blieb manchmal sogar noch eine Weile, nachdem er das Heim geschlossen hatte. Er mochte die Gesellschaft der Tiere. Ihre Hintergrundgeräusche, die nichts von ihm forderten, erleichterten es ihm, sich zu konzentrieren, wenn er an seiner Examensarbeit schrieb. Seinem Vater war es ziemlich egal, wann er nach Hause kam. Aber heute, das war ein Notfall. Möglicherweise hing sein Lebensglück davon ab. Er hatte diese Frau auf Anhieb gern gehabt und war gerade dabei, sich zu verlieben.

Es war keine einfache Angelegenheit, Klaus davon zu überzeugen, heute die ganze Arbeit allein zu machen; er hatte sich schon etwas vorgenommen für den Feierabend und protestierte erst einmal gegen diese plötzliche Änderung. Jonas staunte selbst über seine Durchsetzungskraft. Die hatte er noch nie so bewusst eingesetzt, dachte bisher, jeder könne alles mit ihm machen, er sei eben gutmütig. Aber diese Angelegenheit war ihm zutiefst wichtig. Klaus merkte das anscheinend und gab schließlich murrend nach. Zufrieden mit sich und der Welt ließ Jonas den überrumpelten Kollegen zurück, der ihm seinen Segen gegeben hatte für diese Aktion und der ihm sogar noch einen ›Starter-Karton‹ überreicht hatte mit Trockenfutter, Fress- und Wassernapf und einer Hundedecke.
[ 5] »Nur leihweise, für den Übergang!«
[ 5] »Ja, klar, das sag' ich ihr«, versicherte Jonas.
[ 5] Rudolf wusste sofort, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Um diese Zeit gab es eigentlich erst Futter und dann Nachtruhe. Wenn er aus dem Zwinger geholt wurde, konnte das nur Abwechslung bedeuten und Abwechslung mochte er. Er brauchte keine Leine, lief brav neben Jonas her, bis er Toni an der Rezeption stehen sah. Wie ein echter Gentleman lief er gemessenen Schrittes, aber doch deutlich schneller als Jonas mit dem Karton, zu ihr und begrüßte sie schwanzwedelnd, aber nicht zu stürmisch.
[ 5] »Genau die richtige Dosierung von Zuneigung«, dachte Jonas, »sie merkt, dass er sie wiedererkennt, aber er ist nicht aufdringlich.«
[ 5] Toni schien ebenfalls erfreut zu sein. Sie tätschelte zärtlich seinen Hals und sprach mit freundlicher Stimme: »Na, da bist du ja wieder. Kennst du mich noch? Jaaa, du erinnerst dich. Hast du eine gute Nase? Jaaa, die hast du. Die brauche ich jetzt, deine gute Nase, du sollst Emma finden. Kommst du mit? Ja? Freust du dich?«
[ 5] Rudolf blickte ihr die ganze Zeit in die Augen und als ihr Tonfall auffordernder wurde, machte er »wuff« und sah aus, als könne er es gar nicht erwarten, sich auf die Suche zu machen.
[ 5] Mit dem Starter-Karton vor dem Bauch stand Jonas daneben und beobachtete zufrieden lächelnd die Vertraulichkeit zwischen den beiden.
 



 
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