Totgeschrieben - 12. Suche

xavia

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12. Suche

Toni, Jonas und Rudolf suchen Emma

Es war schwer zu sagen, wer sich mehr freute, Jonas oder Rudolf. Toni sah von einem zum anderen und beide strahlten Zufriedenheit aus. Rudolf lag auf der Rücksitzbank und erwiderte ihren Blick mit einem Schwanzwedeln, ein Kunststück, weil der Schwanz ja auf der Bank lag.
[ 5] Jonas saß neben ihr und strahlte sie an. Dann versuchte er verlegen, sein Strahlen zu mildern. Anscheinend war ihm der Anlass ihres gemeinsamen Ausflugs wieder bewusst geworden. Selbst Toni, die sich eigentlich Sorgen machen sollte, ließ sich von der guten Laune in ihrem Auto anstecken: »Wie gehen wir vor?« fragte sie ihren Beifahrer unternehmungslustig.
[ 5] »Rudolf muss etwas von dem Kind riechen und dann eine Fährte finden, eine Stelle, wo sie gewesen ist. Dann kann er von dort aus ihrem Weg folgen bis dahin, wo sie jetzt ist«, meinte Jonas.
[ 5] »Ich habe der Polizei ihre Jacke gegeben. Dann fahren wir am besten eben zu ihr nach Hause und holen noch ein Kleidungsstück, sie wohnt nicht weit von hier. Vielleicht einen Schuh? – Er soll ja ihre Fußspuren finden.«
[ 5] »Gute Idee, ich glaube, ein Schuh liefert jede Menge Geruchs-Information über einen Menschen«, grinste Jonas.
[ 5] Dieses Mal hatte sie weniger Glück mit der Parklücke, musste in einer Seitenstraße parken. Die drei marschierten gut gelaunt und mit wichtiger Miene zu Tonis Haus. Jonas staunte: »Wir sind ja beinahe Nachbarn! Ich wohne zwei Häuser weiter, Nummer 13.« Er vermied es, seinen Vater zu erwähnen, ließ statt dessen den inzwischen schon ganz aufgeregten Rudolf an Emmas rotem Turnschuh riechen.
[ 5] »Wenn Emma direkt vor der Schule entführt worden ist, finden wir hier aber nichts«, wandte Jonas ein.
[ 5] »Ach«, meinte Toni unbesorgt, »darum soll sich die Polizei kümmern. Die haben schon die Telefonleitung von Ramonas Telefon ins Krankenhaus geschaltet, damit eventuelle Entführer dort mit ihr sprechen und in eine Fang-Schaltung geraten können, während Ramona sie wortreich ablenkt. Die werden einen Entführer, wenn er sich meldet, schon überführen.«
[ 5] »Such!« sagte Jonas. Und Rudolf suchte. Er schnüffelte hier und da und dort, fast so wie beim Spaziergang mit Toni. Die beiden hielten den Atem an vor Spannung: Würde er etwas finden? War die Spur überhaupt noch zu erkennen nach nunmehr vier Stunden? Die Polizei war hier gewesen; deren Schuhe müffelten bestimmt mehr als Emmas Sneaker.
[ 5] Rudolf schnüffelte an der Hauswand, dann am Absatz vor der Haustür, an der Treppe, wieder am Absatz, lief die Treppe hinunter und dann zielstrebig, die Nase am Boden, den Fußweg nach rechts hinunter, zog Jonas an der Leine hinter sich her. Toni folgte den beiden voller Erwartung. Es sah wirklich so aus, als wisse der Hund, was er da tat. Er lief bis zur nächsten Straßenecke und versuchte, die Tür zum Garten aufzubekommen.
[ 5] »Nein, Rudolf, warte!« bremste Jonas seinen Eifer. »Toni« – sie waren inzwischen per Du – »kannst du mal nachfragen, ob wir in den Garten dürfen?«
[ 5] Die Bewohnerin der unteren Etage des Hauses war daheim und sehr verständnisvoll. Gesehen hatte sie Emma nicht, aber sie gab ihnen die Erlaubnis, den Garten zu durchsuchen und beobachtete das Treiben dann äußerst interessiert, stellte viele Fragen, während Rudolf überall herumschnüffelte. An manchen Stellen hatten sie den Eindruck, er hätte seinen Auftrag vergessen. Ganz versunken gab er sich irgendeinem Geruch hin, den wohl nur Hundenasen zu schätzen wussten. Aber dann schien sein Auftrag wieder präsent zu sein und schließlich stand er vor dem ziemlich morschen Holz-Zaun, der die Begenzung zum Nachbargarten darstellte.
[ 5] Toni überlegte. Vorausgesetzt, dieser Hund spielte ihnen nicht gerade ein gekonntes Theater vor: Was konnte Emma in diesem Garten gewollt haben? Hier gab es nichts, was ein kleines Mädchen interessieren konnte. Ein paar Blumenbeete, eine Sitzecke am Haus, ein Stück Rasen mit Wäscheleinen ohne Wäsche. Und dann weiter über den Zaun?
[ 5] Da dämmerte es ihr: Sie wollte in den Garten von Tonis Haus, was immer sie darin vorhatte! Dann konnten sie auch gleich dort im Garten weitersuchen und sie brauchte nicht allen Nachbarn ihre Geschichte zu erzählen. Wahrscheinlich wussten die ohnehin morgen früh schon alle Bescheid, nachdem sie dieser Frau so viel erzählt hatte.
[ 5] Jonas teilte ihre Meinung. Im Garten des Nachbarhauses könnten sie später immer noch weitersuchen. Also zurück zur Nummer 9 und durch das Haus in den Garten. Unterwegs machte Rudolf einen verwirrten Eindruck, folgte nur widerwillig. Sicher wollte er weiterhin der Führer sein. Im Garten durfte er wieder laufen, wohin er wollte, nachdem er an dem Turnschuh gerochen und das Kommando »Such!« gehört hatte.
[ 5] Er lief direkt zum Gebüsch neben der Kellertür und entdeckte darin eine Katze, die eilig floh, und Emmas Rucksack. »Kluger Hund, gut gemacht!«, sagte Toni voller Stolz auf ihren neuen Hausgenossen, der pflichtbewusst und schwanzwedelnd stehenblieb statt die Katze zu verfolgen. Sie ließ Rudolf an dem Rucksack schnuppern und machte es Jonas nach: »Such!«
[ 5] Rudolf suchte den Garten ab und fand Emmas Spur neben dem Schuppen des Nachbarn. Er lief neben dem Schuppen auf und ab, die Nase am Boden.
[ 5] »Ja, das wissen wir doch, dass sie von dort gekommen ist. Wo ist sie denn hingelaufen?« fragte Toni ungeduldig, »Da kann sie doch unmöglich hinaufgeklettert sein, der Schuppen ist viel zu hoch und der rostige Maschendraht wäre verbogen.«
[ 5] »Das kann er doch nicht verstehen. Er findet Spuren, keine Richtungen.« erklärte Jonas ihr. »Kann sie durch den Keller ins Haus?«
[ 5] »Nein, die Tür ist immer abgeschlossen. Da hat schon mal jemand eingebrochen, und im Keller sein Lager aufgeschlagen. Seitdem sind wir vorsichtig geworden.«
[ 5] Jonas zog Rudolf wieder zum Kellereingang und sagte noch einmal: »Such!« Der Hund pflügte mit seiner Nase durch das Gras und fand eine neue Spur, dieses Mal in der anderen Richtung. Sie führte zum Apfelbaum und den beiden wussten sofort, was das bedeutete.
[ 5] »Da müssen wir wohl doch noch einen Nachbarn einweihen.« stellte Toni das Offensichtliche fest.

In der Schwalbengasse 11 mussten sie viele Klingeln ausprobieren, bis schließlich Herr Obermoser, einer der Bewohner im dritten Stock, öffnete. Er war ebenfalls gerne bereit zu helfen und natürlich stellte er ebenso neugierige Fragen wie die Frau aus dem Eckhaus, wollte die ganze Geschichte wissen. Zwei Polizisten seien bei ihm gewesen, hätten ihn befragt, aber kaum etwas verraten. Er freute sich, dass die neuen Besucher auf seine Hilfe angewiesen waren und horchte sie aus, so gut er konnte, während er sie mit ihrem Hund durch den Keller in seinen Garten führte.
[ 5] »Aber dass mir der Hund nicht mein Frühbeet zertrampelt. Es ist zwar noch nichts gesät, aber schon umgegraben und geharkt. Ich will die ganze Arbeit nicht noch einmal machen müssen.«
[ 5] Die beiden versprachen, den Hund nicht von der Leine zu lassen. Rudolf interessierte sich gar nicht für das Frühbeet des Herrn Obermoser, denn auch Emma hatte es nicht betreten, sondern war schnurstracks vom Apfelbaum zur Kompostkiste gelaufen und das tat Rudolf auch.
[ 5] Damit war die Sache klar: Sie mussten in Jonas' eigenem Garten weitersuchen. Für den besaßen sie wenigstens einen Schlüssel. Sie bedankten sich bei Herrn Obermoser und Rudolf nahm die Spur auf der anderen Seite der Mauer wieder auf. Herr Obermoser schaute aus dem Dachfenster des Nachbarhauses zu.
[ 5] In Jonas' Garten verlief ihre Suche allerdings ergebnislos. Rudolf fand anscheinend allerlei interessante Gerüche, aber die waren überall und nirgends. Er schnüffelte an jedem Kellerfenster, an den Mauern ringsum, an der Kellertür, alles schien er gleichermaßen interessant zu finden. Sackgasse. Sie riefen nach Emma. Keine Antwort.
[ 5] »Oh, schon viertel nach sieben! Ich sag' mal eben meiner Freundin, dass ich später komme.« Toni rief Sarah an und bat sie um Geduld: »Du wirst es nicht bereuen, ich werde dich mit einer Geschichte entschädigen, die glaubst du nicht! Es kann aber noch dauern. – Wo? – Auch gut, dann komme ich nachher zu dir.«

»Jonas, lass uns nachdenken! Wie kann es gewesen sein? Das Haus ist verschlossen. Alle Fenster sind zu. Die Mauer ist sehr hoch. Wenn Emma hier gewesen wäre, dann wäre sie immer noch hier. Ist sie aber nicht.
[ 5] Sie wird wieder zurückgegangen sein, als sie die hohe Mauer gesehen hat. Das wäre das Vernünftigste und sie ist ja ein kluges Mädchen, springt nicht einfach von einer Mauer, auf die sie nicht wieder hinaufklettern kann. Wäre sie länger in Herrn Obermosers Garten gewesen, hätte er sie sicherlich gesehen. Von dort kommt sie nur über den Maschendraht aus dem Garten raus. Der sieht aber nicht verbeult aus.
[ 5] Also: Herr Obermoser muss sie eingesperrt haben und er hat gelogen, als er gesagt hat, dass er sie nicht gesehen hat. Deshalb wollte er auch alles ganz genau wissen. Der war mir noch nie so ganz geheuer, so ein neugieriger Mensch. Sitzt den ganzen Tag alleine zu Hause rum, da muss man ja komisch werden.«
[ 5] »Und wie überführen wir ihn?« Jonas war nicht überzeugt von Herrn Obermosers Schuld, aber diese Version der Geschichte verschaffte ihm Aufschub. In seinem Hinterkopf spielten sich gerade ganz andere Gedanken ab, denn er kannte noch einen anderen einsamen, seltsamen Mann. Er musste schnellstens klären, ob sein Vater irgendetwas mit Emmas Verschwinden zu tun hatte, wollte Toni aber nicht ohne Not einweihen in seine un-coolen Wohnverhältnisse. Wenigstens jetzt noch nicht.
[ 5] »Ich habe keine Ahnung«, gab Toni zu, »noch nicht. Aber jetzt muss ich erst einmal der Polizei und meiner Schwester von unserem Fund berichten. Dann muss ich Sarah aufsuchen, die wartet ja schon seit einer Stunde auf mich.«
[ 5] Es setzte ein unbehagliches Schweigen ein. Jonas brach es schließlich: »Ja, dann gehe ich jetzt wohl mal, wird ja auch Zeit …« – Ihm fiel beim besten Willen keine immens wichtige fiktive Angelegenheit ein, zu der er nun eilen musste und das war ihm peinlich.
[ 5] »Ja, dann erst mal vielen Dank. Ich habe bestimmt noch viele Fragen wegen Rudolf und wir können ja noch mal telefonieren wegen der Überführung von Herrn Obermoser und so.« Toni hoffte, ihren Begleiter damit vertrösten und auf ungewisse Zeit loswerden zu können. Weil sie kein Unmensch sein wollte, schlug sie allerdings vor, ihre Handy-Nummern auszutauschen, bevor sie sich verabschiedeten.

Toni musste noch allerhand erledigen, bevor sie Sarah den angekündigten Besuch abstatten konnte: Das Telefonat mit der Polizei brachte ihr sogleich einen erneuten Besuch zweier Polizisten ein, die den Rucksack mitnehmen wollten, um ihn untersuchen zu lassen und denen sie den genauen Weg zeigen musste, den Rudolf gefunden hatte.
[ 5] Die schienen sich gar nicht dafür zu schämen, dass sie diese Entdeckungen nicht selbst gemacht hatten. Einer schrieb allerlei auf einen Block, der andere stellte jede Menge Fragen.
[ 5] Nach diesem Verhör musste sie Ramona per Telefon berichten, die wahrscheinlich völlig entnervt in ihrem Krankenbett saß. Das Gespräch war ebenfalls anstrengend. Die besorgte Mutter machte anscheinend nur deswegen Pausen in ihrem Jammern und Klagen, um mehr Informationen sammeln zu können; es gelang ihr aber, Toni zwischendurch immer wieder bittere Vorwürfe zu machen. Jetzt wussten sie immerhin, dass Emma nach der Schule vor ihrer Tür gewesen war und wenn sie zu Hause gewesen wäre, dann wäre das alles nicht passiert.
[ 5] ›Wenn du nicht Volleyball gespielt hättest, wäre es auch nicht passiert‹, dachte Toni, schluckte die Bemerkung aber tapfer hinunter und ertrug es, alle Schuld auf ihre Schultern geladen zu bekommen. Ramona tat ihr leid. Es musste furchtbar sein, nichts anderes tun zu können als zu warten.
[ 5] Endlich hatte sie auch dieses Gespräch überstanden und sie durfte auflegen, nicht ohne mehrfach versprochen zu haben, dass sie berichten würde, sobald sich etwas änderte und dass sie alles menschenmögliche unternehmen würde, um Emma zu finden.
[ 5] Danach holte sie Rudolfs Karton aus dem Auto. Elende Schlepperei, hätte sie das nur Jonas erledigen lassen! Sie stellte die beiden Näpfe in die Küche und Rudolf sah sie erwartungsvoll an. Ach ja, sie hatte den Hund direkt vor der Fütterung abgeholt, der musste ja hungrig sein! Sie füllte Wasser in den einen Napf und während Rudolf gierig schlabberte, kippte sie Trockenfutter mit Wasser in den anderen. Er verschlang alles mit großem Appetit.
[ 5] Auf dem Flur gab es eine gemütliche Nische. Dort bereitete sie ihm ein Lager mit der Hundedecke aus dem Karton. Als sie losgehen wollte, stand Rudolf aber sofort neben ihr. Offensichtlich keine Chance, ihn hierzulassen.
[ 5] »Na gut, dann kommst du eben mit.«

Sarah nörgelte: »Ich dachte, es würde nicht lange dauern, jetzt ist es neun! Zuerst wollte ich etwas essen, dann dachte ich, ich kann auf dich warten und je später es wurde, desto mehr dachte ich, es lohne sich nicht, mir nun noch etwas zu kochen. Jetzt aber los, ich verhungere gleich! Wen hast du denn da mitgebracht? Ist das die Riesenüberraschung, die du mir angekündigt hast? Der ist ja ganz niedlich, aber – sei mir nicht böse – so eine Sensation ist er nun auch wieder nicht, dass er solch ein Theater rechtfertigt.«
[ 5] »Würden dich eine fleischgewordene Romanfigur und eine Kindesentführung für die Warterei entschädigen? Und ein Sack voller Indizien, mit denen wir Detektiv spielen können, um das verschwundene Kind wiederzufinden und die Romanfigur aufzutreiben?« fasste Toni ihre Neuigkeiten kurzerhand zusammen.
[ 5] »Is' nicht dein Ernst, oder?« Jetzt war Sarah ganz Ohr und während sie sich auf den Weg zu Petes Bistro machten, begann Toni ihren Bericht, der erst nach leckeren Nudel-Aufläufen und Cocktails endete und immer wieder von Sarahs ungläubigen Ausrufen des Staunens unterbrochen wurde.
[ 5] Als Toni schwieg, damit Sarah das alles verdauen konnte, brandete Gelächter von zwei Frauen herüber, beide um die Fünfzig, die zwei Tische weiter saßen und sich offenbar prächtig amüsierten. Angesichts der Dramatik ihres Berichts fand sie es sehr unpassend, dass die beiden sich so lautstark amüsierten:
[ 5] »Die haben ja ordentlich Spaß. Die scheinen etwas auszuhecken. Vielleicht sollten wir sie um Hilfe bitten bei unserem Plan, den Obermoser in eine Falle zu locken? Die haben sogar etwas zum Schreiben dabei. An sowas denke ich nie!«
[ 5] »Ach, ich glaube, für solch kriminelle Angelegenheiten, wie wir sie vorhaben, sind die beiden zu alt. Da bekommen die bestimmt Angst und verderben alles« wehrte Sarah ab. »Und aufschreiben müssen wir das gar nicht erst. Pass auf, ich schlage Folgendes vor …«
 



 
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