Totgeschrieben - 14. List

xavia

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14. List

Sarah überlistet Obermoser

Ein strahlender Morgen, ausgeschlafen, dienstbefreit bis mittags – Sarah war allerbester Laune. Es hatte doch seine Vorteile, wenn die beste Freundin und die Vorgesetzte dieselbe Person waren.
[ 5] Dieser Obermoser, den Toni verdächtigte, ihre Nichte entführt zu haben, der kannte Toni, die beinahe seine Nachbarin war und gestern mit diesem Heini aus dem Tierheim in seinem Garten herumgeschnüffelt hatte. Sarah hingegen hatte er noch nie gesehen. Sie konnte sich problemlos als Vertreterin ausgeben.
[ 5] Neulich hatte sie einen Musterkatalog für Teppiche ausgeliehen. Für ihre eigene Wohnung, die dringend einen erhöhten Gemütlichkeitsindex brauchte. Dieser Katalog würde ihr jetzt gute Dienste leisten.
[ 5] Eine Mappe mit ein paar Formularen hatte sie sich gestern abend noch zusammengestellt. Wenn man einen Computer und einen Drucker besaß, konnte man ja heutzutage problemlos Dinge offiziell aussehen lassen. Sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, hier und da einen Stempel auf ihr Formular zu photoshoppen, wozu hatte sie schließlich an dieser Fortbildung teilgenommen? – Nicht nur, um zu prüfen, ob sich da interessante Typen herumtrieben!
[ 5] Zwar bestand die Gefahr, dass ihr dieser Obermoser sofort die Tür vor der Nase zuknallen würde, weil er, wie viele Menschen, schlechte Erfahrungen mit Geschäften an der Haustür gemacht hatte aber vielleicht waren ihre Jugend und ihr spektakuläres Äußeres doch als ›Eintrittskarte‹ geeignet.
[ 5] Die Natur hatte es gut gemeint mir ihr und sie hatte heute eine Garderobe gewählt, in der sie ›Vatis Liebling‹ sein konnte: Nicht zu formell, aber auch nicht nuttig. Seriös, aber nicht unnahbar: Sie trug ein geblümtes weißes Kleid mit ausgestelltem Rock, flache rote Schuhe und eine fast taillienkurze, figurbetonte rote Jacke, die einen atemberaubenden Kontrast zu ihrer schwarzen Kurzhaarperücke bot, wie sie fand. Ein wenig Make-up und ein passender Lippenstift – ja, sie konnte eine solche Rolle mit Leben füllen, wenn sie wollte!
[ 5] Tatsächlich hatte sie in einem Koffer auf dem Dachboden wühlen müssen, um das Kleid und die Schuhe zu finden, da sie diese längst aussortiert hatte, weil sie ihr zu altbacken aussahen. Ihre rote Jacke passte farblich wunderbar und machte glücklicherweise mit dem Kleid einen ganz anderen Eindruck als zur gewohnten Jeggings.
[ 5] Obermosers Einsamkeit war hoffentlich Grund genug, sie lange genug anzuhören, dass sie ihm ihre wirklich rührende Geschichte würde auftischen können und wenn er die erst einmal gehört hätte, dann gäbe es ohnehin kein Entkommen mehr für den alten Mann, dann musste er sie hineinlassen. Und wenn sie erst mal drinnen war …
[ 5] Ihr Plan ging auf: Obermoser machte große Augen, als er sie vor sich stehen sah, machte die Tür sogleich ganz auf und als sie dann noch näher vor ihm stand, hörte er ihr mit angehaltenem Atem zu, wie sie von ihrem traurigen Schicksal als alleinerziehende Mutter eines herzkranken Kindes berichtete und dass sie, wenn er nur bereit wäre, sich die Proben anzusehen und mit seiner Unterschrift zu bestätigen, dass er sie sich angesehen hätte, bei ihrer Firma Punkte sammeln könnte, die sie, unerfahren wie sie in diesem Beruf noch sei, so dringend brauchte.
[ 5] Wenn er allerdings tatsächlich einen der Teppiche kaufen würde, dann wäre sie ganz und gar glücklich und über die erste Hürde dieses Berufs hinweg und er hätte einen neuen Teppich, der sein Leben ganz und gar anders einfärben würde.
[ 5] Fast merkte er es nicht, dass sie gemeinsam in sein Wohnzimmer gingen, um zu schauen, welche Farbe gut dorthin passen würde. Der jetzige Bodenbelag hatte die Farbe von Beton, ein langweiliges grau.
[ 5] »Ja, das passt sehr gut, sieht gediegen aus. Sie haben einen guten Geschmack.« Hoffentlich merkte er nicht, wie dick sie auftrug! »Aber sehen Sie mal, die Vorhänge, die haben diesen Grünton im Muster, ganz dezent. Wenn Sie den nun aufgreifen würden im Bodenbelag, wir haben da ein Grün: Hin-rei-ßend, sage ich Ihnen! Sie gehen wie auf einem wohlgepflegten englischen Rasen, fühlen sich wie in der Natur! Mögen Sie die Natur? Ich mag sie sehr. Es ist eine Schande, dass heutzutage überall Autobahnen gebaut werden, finden Sie nicht auch?«
[ 5] Sie überlegte, wie sie sich eine Gelegenheit verschaffen konnte, die Wohnung dieses Mannes zu durchsuchen. Fünf Zimmer, das hatte sie schon gesehen, und dann gab es ja auch noch den Keller und vielleicht einen Dachboden. Sie redete und redete und hoffte, dass der alte Mann irgendwann auf die Toilette müsste.
[ 5] Als er ihr einen Tee anbot, nahm sie begeistert an: Da war sie, die ersehnte Gelegenheit! Sie hörte ihn in der Küche werkeln und dann über den Flur schlurfen. Ja, er ging zur Toilette. Ach, die konnte sie ja von außen nicht abschließen, blöder Fehler! Also wartete sie, bis er wieder in die Küche ging, folgte ihm und sah, dass der Schlüssel innen steckte. Zu dumm! Sie lenkte ihn mit professionellem Geschwätz über die Schönheit seiner Kücheneinrichtung ab, zog vorsichtig und fast lautlos den Schlüssel ab und wartete, bis er das Tablett mit Tassen, Kanne, Stövchen und Keksdose in den Händen hielt: Die Zeit, bis er sich entschieden hatte, was zu tun sei und es dann getan hätte, würde ausreichen, musste ausreichen – es gab keine zweite Chance.
[ 5] Gut, dass die Küche zum Hof hinausging, sie wusste ja, dass es relativ große Gärten gab, in denen man ungestört herumstöbern konnte. Da musste er sicherlich eine Weile rufen, bis jemand kam. Sie schlüpfte wieselflink durch die Tür, knallte sie zu, steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch und schloss mit derselben Handbewegung ab. Geschafft!
[ 5] Ohne zu zögern und ohne auf sein ungläubiges, nach und nach empörteres, Rufen zu achten, lief sie von Zimmer zu Zimmer, sah in den Schränken und unter den Betten nach. Keine Emma. Sie griff im Hinauseilen nach den Schlüsseln am Brett im Flur, lief nach oben auf den Dachboden. Dort gab es hölzerne Verschläge, in die man hineinsehen konnte. Auch da konnte kein entführtes Kind versteckt sein, sie sah nur sorgsam gestapelte alte Sachen. Also hinunter in den Keller. Inzwischen dröhnte Obermosers Geschrei gedämpft durch die Wände. Immer noch konnte man seine Hilferufe für einen zu laut eingestellten Fernseher halten.
[ 5] Es war leicht, den Kellerschlüssel zu identifizieren: Hier unten gab es große, alte Schlüssel. Nur einer kam dafür in Frage. Aber welcher Kellerraum gehörte Obermoser? Sie musste jeden ausprobieren. Es gab so viele, da konnte es gut sein, dass er über mehr als einen Raum verfügte. Nur schnell, bevor die Nachbarn aufmerksam werden! Ihr Herz klopfte bis zum Hals, nicht nur wegen der Treppen, die sie hinauf- und hinuntergerannt war.
[ 5] Ihre Mappe und den Katalog ließ sie auf der Kellertreppe liegen und versuchte Schloss um Schloss. Beim vierten, als sie schon glaubte, sie mache beim Schließen etwas falsch, hatte sie Erfolg: Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen Raum voller Krempel frei, kleine Teile sorgfältig in durchsichtigen Kästen auf Regalen verpackt. Ausrangierte Möbel mit Bettlaken vor Staub geschützt. Sehr übersichtlich. Keine Emma.
[ 5] Abschließen, weiter. Der Nebenraum ließ sich mit demselben Schlüssel öffnen und diente offensichtlich der Aufberwahrung von Vorräten für eine bevorstehende Belagerung: Es gab Konservendosen, Marmeladengläser, Mehl, Zucker, Salz, Bierkisten, ein gut gefülltes Weinregal und noch so manches mehr und … eine Gefriertruhe!

Sarah wehrte sich dagegen, den Gedanken zu Ende zu denken, zwang sich aber dazu, die Gefriertruhe zu öffnen und die oberen Schichten von Fertig-Menüs, Fleisch und Fisch auszuräumen. Argwöhnisch betrachtete sie jede Fleisch-Packung und schauderte bei dem Gedanken, warum sie das tat. Ihre Hände wurden kälter und kälter, sie hatte kein Gefühl mehr darin, konnte sie kaum noch bewegen, als sie endlich sicher wusste, dass in dieser Truhe kein Platz mehr blieb für ein elfjähriges Mädchen oder Teile davon.
[ 5] Sie schwenkte die Arme, rieb ihre Hände, blies hinein. Dann lauschte sie. Stille. Erfreuliche Stille. Obermossers Geschrei würde sie hier unten ohnehin nicht hören können, aber aufgeregte Nachbarn im Treppenhaus, die würde sie bemerken. Das Gefühl in ihren Händen kehrte allmählich zurück, sie schwollen an und wurden rot, begannen zu prickeln wie früher beim Schneemann-Bauen. Dann konnte sie die Sachen auch wieder in die Truhe räumen, die Kälte machte ihren Händen jetzt nichts mehr aus und wenn eine Hungersnot ausbrach, wollte sie nicht Schuld daran sein, wenn der arme Obermoser nichts zu essen hatte. Sie betrachtete ihr Werk und stellte sich grinsend, mit wiegendem Kopf, vor, wie der Alte zetern würde angesichts dieser Unordnung. Der Deckel ließ sich gerade noch schließen.
[ 5] Schnell probierte sie die restlichen Kellertüren, aber die anderen konnte sie nicht aufschließen. Sie rief: »Emma? Bist du hier? Emma!« – Nichts. Damit war ihre Aufgabe erledigt. Da immer noch niemand dem alten Mann zur Hilfe eilen wollte, schnappte sie sich Mappe und Katalog, rannte noch einmal nach oben, schloss die Haustür auf und warf die Schlüssel in den Flur. Mehr konnte sie im Moment nicht für ihn tun, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sie eilte die Treppen hinunter und aus dem Haus, schwang sich auf ihr Fahrrad und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.
[ 5] Erst als sie mehrere Straßen zwischen sich und ihr schändliches Tun gebracht hatte, gönnte sie sich eine Verschnaufpause, um die lästigen Kontaktlinsen aus ihren Augen zu nehmen. Sie hatte damit braune Augen gehabt, was ihr sehr gut stand, aber leider eine Qual für ihre Augen war. Sie hatte diese Kontaktlinsen mal zusammen mit der Perücke für einen Streich gebraucht und aufbewahrt, glücklicherweise. Damals hatte man sie kaum wiedererkannt, selbst gute Freunde nicht, da sie normalerweise platinblond und blauäugig durch das Leben ging.
[ 5] Zufrieden schüttelte sie ihr halblanges Haar, steckte die Linsen in eine kleine Dose, verstaute Dose, Perücke und Unterlagen in ihrer Tasche und fuhr nach Hause, um sich umzuziehen. Vorsichtshalber würde sie das Kleid in einen Sammelbehälter entsorgen, das hatte sie ja schon längst tun wollen. Die anderen Sachen wollte sie behalten, schließlich bestand kaum eine Gefahr, dass sie in Verdacht geraten würde. Und wenn schon? Was hatte sie schließlich Schlimmes getan? Einen alten Mann ein wenig geärgert im Interesse der Wahrheitsfindung. – Trotz ihres nur mäßig schlechten Gewissens schreckte sie zusammen, als sie eine große, starke Hand auf ihrer Schulter fühlte.
 



 
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