Totgeschrieben - 15. Einladung

xavia

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15. Einladung

Toni bekommt einen Brief

Ungeduldig trommelte Toni auf den Tisch in der Kantine. Sie hatte heute den Vormittagsdienst ihrer Freundin Sarah übernommen. Die Stunden waren nur so dahingeschlichen, abgesehen von einem sehr seltsamen Anruf von der Polizei. Erst fragte die Beamtin, ob sie wirklich sie selbst sei, ließ sich ihren Namen buchstabieren und dann, als sie wissen wollte, ob sie etwas herausgefunden hätten, stellte sie sich plötzlich dumm und meinte, darüber könne sie keine Auskunft am Telefon geben. – Wieso hatte die überhaupt angerufen? – Und wieso rief Sarah nicht an? Die Freundin hatte versprochen, sofort anzurufen. Sofort! Und nun war schon Mittag. Hier wollten sie sich treffen, zusammen essen. Wie konnte sie gestern abend nur glauben, dass sie heute mittag etwas würde essen können? Sie hatte sich einen Joghurt geholt, bekam aber selbst davon keinen Bissen herunter. – Würde sie ihre Freundin jemals wiedersehen? Hatte sie sie in ihr Verderben geschickt, zu einem Frauenmörder, der nur darauf wartete, sein nächstes Opfer zu quälen, zu töten, zu zerlegen? Ihre Phantasie schlug Purzelbäume. Zu der Angst um ihre Nichte Emma kam nun auch noch die Angst um Sarah: Es war nicht zum Aushalten!
[ 5] Zwei Kollegen setzten sich an ihren Tisch. »Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.«
[ 5] »Es geht schon. Frauensache.« Sie blickte demonstrativ aus dem Fenster, um zu signalisieren, dass sie keine Unterhaltung wünschte und die beiden verstanden, wandten sich den aktuellen Sport-Ereignissen und ihren Jägerschnitzeln mit Pilzrahmsoße und Pommes zu.
[ 5] Toni wurde immer ungeduldiger, zappelte auf ihrem Sitz herum und rührte wieder und wieder den Joghurt um, ohne davon zu essen. Schließlich gab sie es auf und ging wieder nach oben. Da sie keinen klaren Gedanken fassen und erst recht nicht arbeiten konnte, beschloss sie, die Bibliothek für heute zu verlassen. Anita, eine ältere Kollegin lächelte verständnisvoll, als Toni dieselbe Ausrede wie vorhin auch hier verwendete: »Nach dem ersten Kind wird es besser, meine Liebe. Bis dahin helfen Kaffee und eine Wärmflasche. Gute Besserung.« Sie schenkte ihr ein mattes lächeln und machte sich auf den Heimweg.

Zu Hause gab es Post von einer unbekannten Person mit dekorativer Handschrift im Briefkasten und einen Hund in der Wohnung, der sie, offensichtlich begeistert, empfing. Wie so ein Hund das schafft, so viel Freude auszustrahlen! Diese kleinen wilden, die springen an einem hoch, aber Rudolf hatte solche Aufdringlichkeiten nicht nötig. Er winselte ein wenig, sein Schwanz wedelte wie verrückt, er lief auf und ab und guckte sie immer wieder so glücklich an. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ein Hundegesicht Emotion ausdrücken konnte. Manchmal hatten ja sogar Menschengesichter ihre liebe Not damit: Es gab Filmschauspieler, die mit genau einem Gesichtsausdruck durch all ihre Filme kamen und dann auch noch Oskars gewannen. Sie kraulte Rudolf hinter den Ohren und freute sich, dass er diese Gelegenheit nicht dazu ausnutzte, ihr Gesicht abzulecken: Er war wirklich der perfekte Hund für sie! Als er zur Tür lief und sie leidend ansah und winselte, besann sie sich darauf, dass sie erst einmal mit ihm vor die Tür musste.
[ 5] Draußen überlegte sie, ob sie die Polizei anrufen sollte. Melden, dass Obermoser ihre Freundin kassiert hatte, als die ihre Nichte retten wollte. Als sie sich die Fragen des Polizisten am anderen Ende der Leitung vorstellte, kam ihr blitzartig in den Sinn, dass sie Sarah anrufen konnte. Wieso hatte sie nicht daran gedacht? Stress, ganz klar. Sie wählte ›Sarah‹ und bekam eine fröhliche Stimme zu hören: »Ich hab grad Besseres zu tun, versuch's doch später noch mal!« – Na, immerhin war das Handy an und die Polizei würde es orten können. Nun also der Anruf an offizieller Stelle. Die Durchwahl der Polizei stand auf einer Karte, die oben in der Wohnung lag. Na, toll. Der Beamte hatte sie ihr überreicht für den Fall, dass sie \glq sachdienliche Hinweise‹ haben würde. Während Rudolf sein Geschäft erledigte und sie dieses in einem Plastiktütchen verstaute, fiel ihr ein, dass sie in einem Dilemma steckte: Wenn Obermoser Sarah gefangen hielt, kam es auf jede Minute an und sie musste umgehend die Polizei verständigen. War das allerdings nicht der Fall, würde sie die Freundin, die verkleidet bei Obermoser eingedrungen war, bei der Polizei verraten. Gut, dass sie die Nummer nicht dabeigehabt hatte und Zeit zum Nachdenken geblieben war. Aber was sollte sie tun?
[ 5] In ihrer Ratlosigkeit kehrten ihre Gedanken zu dem geheimnisvollen Brief zurück. Sie sagte sich, dass sie ihn jetzt sofort lesen müsse, weil er ja von Entführern stammen könnte. Tatsächlich glaubte sie nicht daran, war einfach neugierig. Also schob sie die Sorge um Emma und die um Sarah beiseite, hoffte, dass Rudolfs Blase hinreichend entleert war und eilte mit ihm hinauf in die Wohnung, wo der Brief auf dem Wohnzimmertisch auf sie wartete. Sie holte ihren Lieblings-Brieföffner, einen Dolch aus dem Herrn der Ringe. Auf dem Brief stand nur ihre Adresse, handschriftlich, kein Absender, keine Briefmarke, kein Poststempel. Die Schrift sah aus, als gehörte sie einer Frau. Einer recht kraftvollen und eigenwilligen Person. Oder einem Mann mit ungewöhnlichem Sinn für das Dekorative. Sie öffnete das Kuvert sorgfältig und fand darin ein Blatt Papier, beschrieben mit derselben schönen Handschrift:

Hochverehrte, liebste Antonia,
[ 5] seit unserer ersten, schicksalhaften Begegnung gehen Sie mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich sehe Sie in jedem Menschen, dem ich begegne und immer, immer sehne ich mich nach Ihnen, denn jede andere Person erinnert mich nur daran, wie schmerzhaft ich Sie vermisse. Sie, um die sich meine Träume drehen, der mein ganzes weiteres Leben gewidmet ist.
[ 5] Ich wage nicht zu hoffen, dass es Ihnen auch so geht, kann mir aber auch nicht vorstellen, dass unser Zusammentreffen ganz spurlos an Ihnen vorübergegangen ist. – So grausam können die Götter nicht sein!
[ 5] In aller Bescheidenheit bitte ich Sie um ein Treffen, damit wir einander näher kennenlernen können, damit wir herausfinden können, auf welcher Ebene unsere Leben eine Gemeinsamkeit finden können, die für uns beide, davon bin ich überzeugt, beglückend und inspirierend sein wird.
[ 5] Bitte verurteilen Sie mich nicht als aufdringlich. Was ich hier tue, ist ganz und gar untypisch für mich. Aber ich könnte nicht weiterleben mit dem Wissen, es nicht wenigstens versucht zu haben.
[ 5] Wenn Sie nicht völlig abgeneigt sind, dann treffen Sie mich bitte am Samstag nachmittag um 15 Uhr in Petes Bistro. Da können wir ganz unverfänglich einen Cappuccino oder Tee zusammen trinken. Ich werde dort sein und auf Sie warten.
[ 5] In banger Hoffnung
[ 5] Ihr ergebenster
[ 5] Dr. Dirk Hansen.


Toni war sprachlos. Sie wusste sofort, von wem der Brief stammte. Wie konnte er wissen, wie ihr Name war, wo sie wohnte? Wie hatte er sie gefunden, wenn es ihr nicht einmal gelungen war, ihn zu finden, wo sie doch alles über ihn wusste?
[ 5] Nach all der Aufregung um Emma konnte sie gar nicht fassen, dass sich ihr Liebesleben auf so wundersam einfache Weise in der gewünschten Richtung entwickeln würde. Sie hatte sich so viele Pläne ausgemalt, wie sie ihn umgarnen und einwickeln wollte und nun das: Er war ihr längst verfallen!
[ 5] Was sollte sie anziehen? Das Treffen war schon morgen! Oder durfte sie nicht hingehen, war das herzlos, so lange Emma nicht gefunden war. Ach, bis morgen würde ihre Nichte auf jeden Fall wieder da sein. Sie hatte keine andere Möglichkeit, ihren Traum-Mann zu treffen, sie kannte ja seine Adresse nicht. Sie musste mit Sarah sprechen! Wenn sie niemandem davon erzählen konnte, würde sie platzen. Sie rannte über den Flur, ergriff im Vorbeilaufen ihre Jacke und schaffte es, die Tür hinter sich zuzuknallen, bevor Rudolf ihr folgen konnte.
 



 
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