Totgeschrieben - 16. Argwohn

xavia

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16. Argwohn

Jonas verdächtigt seinen Vater

Jonas hatte eine schlaflose Nacht gehabt. Seine Augen lagen in dunklen Höhlen, er sah noch blasser aus und konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Am Vorabend hatte er versucht, mit seinem Vater zu reden, aber der war unzugänglich geblieben, wie es eben seine Art war.
[ 5] Daraufhin hatte er die Wohnung des alten Mannes durchsucht unter dem Vorwand, nachsehen zu müssen, ob dort mal wieder geputzt werden sollte und sein alter Herr hatte wie gewöhnlich gezetert und genörgelt, er habe ein Recht auf Privatsphäre. In der Wohnung fand er die übliche Unordnung vor, aber mit den bescheidenen Ansprüche der beiden Männer konnte man sie ›sauber‹ nennen.
[ 5] Jonas hatte auch im Keller nachgesehen; da sah alles aus wie gewohnt: Der ›Bastelraum‹ seines Vaters enthielt allerlei Werkzeug und Material, sorgsam aufgeräumt. Es war ihm ein Rätsel, wieso sein Vater den Keller so in Ordnung hielt, wenn er seine Wohnung so verwahrlosen ließ. Es sah aus, als wenn er dort unten mehr Zeit verbrachte als oben, aber er konnte dort nichts Interessantes entdecken, nichts, was der alte Herr gebastelt oder repariert hatte.
[ 5] Manchmal ließ er sich von Jonas Sachen mitbringen, Bastelmaterial, Holz, Scharniere, manchmal auch chemische Substanzen – Jonas hatte keine Idee, was er mit all dem Zeug anfing, wahrscheinlich sortierte er es in die Regale im Bastelraum. Jedenfalls weigerte er sich standhaft, Auskunft zu geben und schien keinerlei Neigung zu haben, seine Machwerke am Abend dem Sohn zu präsentieren. Wenn etwas zu reparieren war, erledigte sein Vater das immer prompt, nicht nur in seinen eigenen Räumen, sondern im ganzen Haus. Der Sohn teilte weder die Geschicklichkeit noch die Begeisterung seines Vaters für handwerkliche Arbeiten und berichtete für gewöhnlich beim Abendessen, wenn etwas repariert werden musste und am nächsten Abend war es dann heil oder es gab einen Einkaufsauftrag. So wie neulich, als er Jonas einen Zettel überreiche mit den genauen Maßen einer Glasscheibe, die er besorgen sollte.
[ 5] Er hatte den Garten untersucht, ob da vielleicht jemand gegraben hatte – nichts. Sein Vater benahm sich wie immer, schien nicht nervös zu sein oder ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber bei ihm konnte man nie wissen: Die Hunde waren ja auch sang- und klanglos verschwunden.
[ 5] Schließlich hatte er sogar seine eigene Gift-Sammlung eingehend geprüft. Die verschlossene Schatulle stand an ihrem Platz, das Haar klemmte genau dort, wo er es hinterlassen hatte und die Fläschchen sahen aus wie immer. Ihm war klar, dass unter seinem Bett kein geeigneter Aufbewahrungsort für so gefährliche Substanzen war, aber er konnte sich nicht davon trennen. In einer Studienarbeit hatte er die Wirkungen verschiedener Lektine auf tierische und menschliche Zellkulturen untersucht. Einige Lektine sind giftig und die hatten ihn besonders interessiert, vor allem das Rizin. Er hatte einen Preis gewonnen mit dieser Arbeit. Nach dem Studium wollte er das Thema in seiner Doktorarbeit weiter vertiefen. Er hoffte, aus Rizin ein Medikament gegen Krebs herstellen zu können. In der verschlossenen Schatulle würde sein Vater sicherlich Liebesbriefe oder ein Tagebuch vermuten und sich nicht weiter dafür interessieren. Wahrscheinlich war der Aufenthaltsort gar nicht so schlecht gewählt, weil er vom Inhalt ablenkte.
[ 5] Obwohl seine Suche erfolglos geblieben war, stellte sich nicht die erhoffte Erleichterung ein. Irgendetwas musste er übersehen haben. Er wagte nicht, daran zu denken, dass das Mädchen tot war, dass er nach einer Leiche suchen müsste. Schließlich war dieses das richtige Leben und nicht irgendein Kriminalfilm. Andererseits: Ein lebendiges Kind hätte er gefunden in der Wohnung oder dem Kellerraum seines Vaters. Er hatte sogar seine eigene Wohnung durchsucht, um sicherzugehen, dass der sonderbare alte Mann sie nicht dort versteckt hatte, wo er nicht suchen würde.

Wie es Rudolf wohl ging? Ob er Tonis Herz erobert hatte? Und ob es ihm, Jonas, ebenfalls gelingen könnte, …? Er verbot sich, weiterzudenken. Sie musste schrecklich leiden, hatte sie doch die Verantwortung für das verschwundene Kind, da waren romantische Gefühle unangebracht. – Wie konnte es nur sein, dass Rudolf im Garten seines Vaters nicht weitergekommen war? Er war überall langgelaufen, hatte jeden Meter der Mauer abgesucht und jedes Kellerfenster beschnüffelt. Wenn er Rudolfs Fähigkeiten traute, musste das Kind an denselben Stellen gewesen sein. Sie hatte in der Falle gesessen, konnte nicht über die Mauer und konnte nicht ins Haus, außer, wenn sie jemand hineingelassen hatte. Aber in diesem Haus wohnten nur er und sein Vater und Frau Hinderlich, die ihm mehrfach versichert hatte, dass sie nichts gesehen oder gehört hatte. Kein Wunder, sie war fast taub und saß den ganzen Tag mit Kopfhörern vor dem Fernseher.
[ 5] Jonas beschloss, nach Feierabend bei Toni vorbeizuschauen, um zu erfahren, ob es Neuigkeiten gab. Bis dahin wollte er sich ablenken, indem er die Zwinger besonders gründlich reinigte und sogar die Fenster putzte.
 



 
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