Totgeschrieben - 19. Liebe

xavia

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19. Liebe

Dirk ist verliebt

Dirk Hansen schwebte auf Wolken. Er hatte Mittagspause und gönnte sich einen kleinen Spaziergang, fühlte sich leicht und beschwingt und ging federnden Schrittes seines Weges. Jetzt breitete er die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Eine Frau, die ihm entgegenkam und ein Kind an der Hand hielt, blickte ihn befremdet an und zog den kleinen Jungen näher zu sich heran. Glück wurde leicht mit Geistesgestörtheit verwechselt in dieser Gesellschaft. Seltsam, wenn er mit hängenden Schultern und gesenktem Blick an ihr vorbeigegangen wäre, hätte sie gar keine Notiz von ihm genommen und ihn für ›normal‹ gehalten.
[ 5] Diese Art Normalität strebte er nicht an. Er war außergewöhnlich und das sollte auch so bleiben. Das Schicksal war auf seiner Seite! Dr. Voss hatte ihm eine Patientin anvertraut, eine suizidale junge Frau. Seine Spezialität. Er hatte seine Doktorarbeit über die Beweggründe junger Frauen, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen, geschrieben und plante, ein Buch zu diesem Thema zu veröffentlichen, sobald er seine Theorien in der Praxis verifiziert haben würde.
[ 5] Nicht genug damit, dass diese Frau ein Musterbeispiel einer bipolar gestörten Persönlichkeit darstellte und ihm, intelligent wie sie war, wertvolle Auskünfte geben könnte, sie war auch noch bildschön. Es würde ein Vergnügen sein, ihr zu helfen. Wenn er mit ihr in einem Raum saß, konnte er nichts anderes tun als sie anzusehen, musste sich zwingen, seine Arbeit zu tun. Zugegeben, das stellte seine Professionalität auf eine harte Probe, aber wer, wenn nicht er, könnte diese Situation meistern? Nachdem er sie geheilt haben würde, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen.
[ 5] Er konnte es nicht fassen, was er da dachte: Er, der Herzensbrecher, der sich nicht binden wollte. ›Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe!‹ Es gab keinen Mangel an hübschen Frauen, die schlangestanden, um mit ihm ausgehen zu dürfen. Und nun hatte er diese Frau einmal im Krankenhaus besucht, um sich ein Bild von ihrer Situation zu machen und schon ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf, dachte er an Heirat!
[ 5] Sie war so wunderschön, so atemberaubend, so kompliziert und so zerbrechlich. So hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Resignation. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Nächste Woche schon. Sie würde für einige Wochen zur weiteren Beobachtung ins Sanatorium Waldfrieden gehen und er wäre dort ihr behandelnder Arzt. Sie schien alles andere als begeistert davon zu sein, ihre Mutter hatte ihn engagiert. Er war sicher, dass er sie überzeugen könnte, sobald sie sich nur ein winziges Bisschen auf seine Therapie einlassen würde. Und er war sicher, dass sie sich in ihn verlieben würde, sobald sie ein wenig Zeit mit ihm verbracht hatte.
[ 5] Aber damit nicht genug des Glücks: Es sah so aus, als winkte ihm noch ein weiterer interesanter Fall. Eine andere junge Frau hatte ihm geschrieben und sich Hilfe suchend an ihn gewandt. Offenbar widerstrebte es ihr, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen. Deswegen hatte sie um ein Treffen ›auf neutralem Boden‹ gebeten. Diese Frau würde er erst noch für eine Therapie gewinnen müssen. Sie hatte noch nicht versucht, ihr Leben zu beenden, klang aber ziemlich verzweifelt. So ein Fall reizte ihn natürlich auch: Würde es ihm gelingen, ihr dabei zu helfen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen? Für Dr. Dirk Hansen war das nur eine rhetorische Frage. Er kannte die modernsten Methoden und nicht zuletzt waren da die Erkenntnisse aus seiner eigenen Forschung, die ihm nun zu seinen ersten beiden dokumentierten Heil-Erfolgen verhelfen würden.

Eigentlich dumm, dass die zweite noch vor ihrem ersten Suizidversuch zu ihm kam. Wenn es ihm gelang, sie zu retten, würde es so aussehen, als sei die Lage gar nicht so ernst gewesen. – Vielleicht sollte er sie nicht zu sehr zu einer Therapie drängen und lieber erst einmal abwarten? Da kam es ihm gerade recht, dass er sie ›auf neutralem Boden‹ treffen würde: So lange sie nicht offiziell bei ihm in Behandlung war, war ein Suizidversuch ihrerseits kein Misserfolg für ihn. Er könnte sie unverbindlich beobachten, gelegentlich die Lage sondieren und danach könnte er sie dann erfolgreich therapieren. Seine Skrupellosigkeit ließ ihn schaudern und er lächelte böse. Ob andere Therapeuten auch solche Gedanken hegten? – Der alte Hippokrates würde sich im Grab umdrehen, wenn er seine Gedanken lesen könnte! – Aber andererseits: War es nicht seine Pflicht, alles Erdenkliche zu unternehmen, damit er Karriere machte und seine Talente der Menschheit zugute kommen lassen konnte? Das jedenfalls wäre wieder ganz im Sinne des alten Griechen.
 



 
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