Totgeschrieben - 20. Ratlos

xavia

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20. Ratlos

Ramona grübelt

Nun waren es schon zwei Tage seit Emmas Verschwinden! Ramona hatte keine Tränen mehr, so viel hatte sie in diesen beiden Tagen geweint. Jetzt saß sie niedergeschlagen auf ihrem Krankenbett und starrte die Wand an. Ein Bild hing dort, ein Ruderboot das jemand ans Ufer gezogen hatte, blauer Himmel, weißer Sand, sanfte Wellen, eine Möwe, die sie ansah, an der Spitze des Bootes. Immerhin sah die Möwe sie an, ihre Zimmernachbarin tat das nicht. Die hatte sich von ihr weggedreht und las in einem Buch.
[ 5] Sie versuchte verzweifelt, nicht daran zu denken, wie es ihrer Tochter gerade ging. Ob sie zu essen und zu trinken hatte, wer sie in seiner Gewalt hatte und zu welchem Zweck. So ein kleines Mädchen, da musste man doch gleich an das Schlimmste denken! Und die Polizisten hatten ihr auch nicht gerade Hoffnung gemacht. Sie hatten eine Fangschaltung für ihr Telefon zu Hause angelegt, hatten technischen Aufwand getrieben, damit sie von hier aus mit den Entführern reden könnte, aber es kam kein Anruf.
[ 5] Wer sollte auch so dumm sein, von ihr Lösegeld erpressen zu wollen, die doch kaum über die Runden kam mit ihrem Gehalt als Kassierin im Supermarkt? Als Emma geboren wurde, war der Plan, dass sie sich um ›die Kinder‹ kümmerte, während ›ihr Daniel‹ Karriere machte. Sie hatten sich während des Studiums ineinander verliebt, aber schon nach drei Jahren des Hausfrauendaseins interessierte ›ihr Daniel‹ sich nicht mehr so recht für seine Frau und er verließ sie und Emma, um mit einer Kollegin ›neu anzufangen‹ und ›sich neu zu erfinden‹.
[ 5] Immerhin dachte er jedes Jahr an Emmas Geburtstag und zahlte Unterhalt. Aber ein Vater war er nicht für sie. Er hatte zwei kleine Kinder mit der Anderen und ein Kindermädchen, damit seine Frau weiter arbeiten konnte. Hatte wohl gelernt aus seinen Fehlern. Aber ihr, Ramona, fehlte nun der Freiraum, um zu lernen. Sie hatte sich um Emma kümmern müssen und nicht die Kraft aufgebracht, auch nicht den Mut und das Selbstbewusstsein, um ihr Studium wieder aufzunehmen. Vom Geld mal ganz abgesehen.

Ihre Schwester Toni hatte gestern abend noch berichtet. Leider nichts, was Anlass zur Hoffnung gab. Dass sie mit einem Hund die Grundstücke abgesucht und mit einem Trick einen verdächtigen Nachbarn ausspioniert hatte, das imponierte Ramona, das zeigte doch zumindest Initiative. Aber die ganze Angelegenheit blieb ein großes Rätsel: Keine Spuren, kein Anhaltspunkt.
[ 5] Hätte sie eine Idee gehabt, was sie tun könnte, sie wäre auf eigene Gefahr aus dem Krankenhaus weggelaufen und hätte sich auf die Suche gemacht, aber sie fühlte sich wie gelähmt, ihr fiel nichts ein. Die Polizei hatte alle Kinder aus der Schulklasse befragt, alle Eltern, hatte die Umgebung abgesucht, es gab überhaupt keine Spur. Außer diesem Garten, wo der Hund seine Suche aufgegeben hatte.
[ 5] Ob man das Haus durchsuchen sollte? Wahrscheinlich wurde so ein ziviler Hund nicht richtig ernst genommen und dass erst er den Rucksack finden musste, war den Polizisten wohl schon peinlich genug.
[ 5] Aber der junge Mann, von dem Toni den Hund hatte, schien ja sehr emsig an der Suche beteiligt zu sein, der würde auch im Haus nachgesehen haben? Oder vielleicht nicht? Oder nicht gründlich genug? Wohnte der nicht in diesem Haus? Da wird er doch ein kleines Mädchen finden können, wenn es dort gefangengehalten wird! Aber wenn sie nicht dort war, wo sollte sie dann sein? Wieso hatte der Hund keine Spur gefunden, die das Grundstück verließ?
[ 5] Wenn sie doch nur jemanden zum Reden hätte! Die Schwestern und Krankenpfleger hatten kaum Zeit für sie, heuchelten Mitgefühl, ohne Informationen zu wollen und die Bettnachbarin schwieg beharrlich weiter. Nächste Woche würde sie verlegt werden, dann kam vielleicht eine, mit der sie reden konnte. Nächste Woche! Das kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Zeit bis zum Abend herumkriegen sollte, bis Toni käme und vielleicht Neuigkeiten zu berichten hatte. Aber da sie verabredet hatten, dass Toni sie sofort anrief, wenn sich etwas tat, sehnte sie sich eigentlich ohne Hoffnung nach dem Besuch ihrer Schwester. Wenigstens hätte sie dann eine Möglichkeit, zu reden. Sie verstand inzwischen, wieso Isolationsfolter so sehr gefürchtet wurde.

Nein, so ging das nicht weiter. Sie musste etwas tun. Sie musste jemanden bei der Polizei überzeugen, das Haus zu durchsuchen. Es war doch sonnenklar: Da verlor sich die Spur. Wild entschlossen klingelte Ramona nach einer Pflegekraft und verlangte, die Ärztin zu sprechen. Es kam sogar eine, aber die wollte sie nicht gehen lassen, zeterte von Verantwortung und Geduld. Wenn sie nicht den Rest ihres Lebens humpeln wollte, hatte sie hierzubleiben. Auf eigene Gefahr entlassen werden? – So ein Blödsinn! – Ob sie überhaupt wusste, wie teuer es werden würde, wenn sie danach auf eigene Kosten weiterbehandelt werden würde?
[ 5] Schließlich gab Ramona, die es nicht gewohnt war, sich durchzusetzen, ihr Vorhaben auf und sank ermattet in die Kissen zurück. Sie fühlte sich erstarrt, wie tot. Sie starrte die weiße Krankenhausdecke an und dachte: »Wenn Emma etwas passiert, das überlebe ich nicht, das will ich nicht überleben.«
 



 
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