Totgeschrieben - 22. Begegnung

xavia

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22. Begegnung

Toni trifft Dr. Dirk Hansen

Toni hatte hin und her überlegt, ob es in Ordnung sei, zu einem Rendezvous zu fahren, während die arme Emma vermisst war. Es war klar, dass ihre Schwester Ramona nichts davon wissen durfte. Die würde sofort wieder ausrasten. Aber andererseits war dieses vielleicht ihre einzige Möglichkeit, ihren Traum-Mann zu erobern. Eigentlich war es müßig, darüber nachzudenken. Sarah war keine gute Beraterin gewesen. Die hatte gemeint, sie würde liebend gerne für Toni zu dem Rendezvous gehen und dem Herzbuben die Lage erklären. Er würde sich dann sicherlich noch eine Woche gedulden.
[ 5] Toni hatte einfach nicht das Format ihrer Freundin und auch nicht deren Selbstbewusstsein. Für sie stand fest, dass der Angebetete das Interesse verlieren würde, wenn sie auf seinen Brief hin nicht erscheinen würde. Und wenn er Sarah sehen würde, dann wäre sie sowieso nicht mehr seine Nummer Eins. So wie er ausah, hatte er sicherlich an jedem Finger zehn Frauen und sie musste schleunigst die Initiative ergreifen, sie alle in die Flucht zu schlagen.
[ 5] Außerdem hatte sie, was Emma anging, alles versucht, was ihr eingefallen war. Sie wollte sich jetzt auf die Polizei verlassen. Am Abend würde sie wieder ins Krankenhaus fahren und sich Ramonas Klagen anhören. Sie konnte das einfach nicht auch noch den Nachmittag über aushalten. Es war schon schlimm genug, was sich in ihrem Inneren abspielte an Selbstvorwürfen und Sorgen, da brauchte sie Ramonas Gejammer nicht auch noch. Noch dazu in einem Krankenhaus, wo sie sich ohnehin immer ganz krank fühlte: Überall lauerten diese resistenten Erreger.

Viel zu früh erreichte Toni das Bistro, hatte sich eingeredet, dass sie länger brauchen würde, weil Rudolf erst lernen müsste, neben dem Rad her zu laufen. Aber in Wirklichkeit konnte sie es nicht aushalten, länger zu Hause zu warten. Im Grunde hatte sie gewusst, dass Rudolf auch als Fahrrad-Begleiter sofort klarkommen würde.
[ 5] Sarah hatte ihr so oft eingeschärft, dass man Männer warten lassen muss, um herauszufinden, wie ernst es ihnen war. Man durfte sie auch nicht zu früh anrufen, nachdem man sie getroffen hatte und keinesfalls durfte man beim ersten Treffen mit ihnen ins Bett gehen:
[ 5] »Lass ihn ruhig ein wenig zappeln, lass ihn im Ungewissen!« hatte Sarah ihr geraten. – Leichter gesagt als getan! Wenn man schon in jemanden verliebt ist, bevor man ihm leibhaftig gegenübersteht, wie soll man da strategisch vorgehen?
[ 5] Und außerdem fand Toni, dass Strategien etwas für Krieger sind, nicht für Verliebte. Da ging es doch um Vertrauen. So saß sie also nun hier, viel zu früh, konnte keinen Auftritt inszenieren und musste zu ihrem Kummer möglicherweise erleben, dass er der Stratege war.

Gedankenverloren blickte sie sich um. Es saßen bereits viele Gäste in dem lichtdurchfluteten Raum. Sie hatte einen Fensterplatz ergattert, was schön war, aber verräterisch: Er würde wissen, dass sie zeitig gekommen war. Blöd. Zwei Tische weiter entdeckte sie die beiden Frauen, die sich neulich so gut amüsiert hatten, während sie Sarah von all den seltsamen Dingen erzählt hatte, die ihr passiert waren.
[ 5] Auch jetzt plauderten die beiden angeregt miteinander und lachten viel. Manchmal sahen sie zu ihr herüber, dann aber schnell wieder weg, wenn sie hinsah. Toni überlegte, ob sie und Sarah in zwanzig Jahren ebenfalls Samstags nachmittags in trautem Gespräch miteinander in einem Bistro sitzen würden. Vielleicht hätten sie beide dann eigene Familien. Die Kinder wären vielleicht schon aus dem Haus, die Männer vielleicht auch …
[ 5] Nein, das erschien ihr alles so weit weg, sollten die alten Tanten ihren Spaß miteinander haben, wahrscheinlich hatten sie die ›Große Liebe‹ nie erlebt, die jetzt vor ihr lag und ihr Mann würde bei ihr bleiben, ein Leben lang. Sie würde Sarah, die immer noch allein lebte und ihre Abenteuer genoss, zu sich einladen in ihr luxuriöses Eigenheim und sie an ihrem Glück teilhaben lassen.
[ 5] Ungeduldig guckte sie auf die Uhr, die neben der Theke hing: Zehn Minuten waren vergangen. Die Zeit schlich dahin. Sie wollte nicht aussehen wie bestellt und nicht abgeholt, also zwang sie sich dazu, sich zu entspannen und an etwas anderes zu denken.
[ 5] Als sie ihre Hand seitwärts hängen ließ, erkannte Rudolf, der unter dem Tisch lag, das Signal, seine Position zu verändern und den Kopf zu heben, damit sie ihn steicheln konnte. Kluger Hund. Wenn man einen Hund hatte, war man nie wirklich allein. Erstaunlich, wie schnell dieser Hund ein Teil ihres Lebens geworden war. Und wie viel sich verändert hatte, seit er da war.
[ 5] Sie hatte ihn hierher mitgenommen, damit er ihr bei diesem so entscheidenden Rendezvous beistehen konnte. Es war ja sicherlich ein Pluspunkt, tierlieb zu sein und so kam sie vielleicht nicht in Versuchung, sich beim ersten Date gleich abschleppen zu lassen.
[ 5] Eine Frau, die am anderen Ende des Raumes gesessen hatte, trat an ihren Tisch: »Darf ich mich zu dir setzen? Ich bin nicht gerne alleine, du vielleicht auch nicht?«
[ 5] Was war das denn jetzt? Wollte die sie etwa anmachen?
[ 5] »Einen netten Hund hast du. Darf ich ihn streicheln?«
[ 5] Toni war sprachlos. Die Andere setzte sich und Rudolf ließ sich freudig von ihr den Kopf tätscheln. In dem Moment betrat Dr. Dirk Hansen den Raum. Toni stockte der Atem und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
[ 5] Der große, blonde, sonnengebräunte Mann trug hellblaue Jeans und ein weißes Poloshirt. Ein dunkelblaues Leinensakko hatte er sich lässig über die muskulöse Schulter gehängt. Er blieb an der Tür stehen und sah sich suchend um. Sein Blick und seine Haltung drückten aus, dass er es wusste: Jede Frau im Raum träumte davon, dass sie es war, nach der er suchte.
[ 5] Toni sprang auf und winkte: »Hier bin ich!«
[ 5] Ihre Tischnachbarin wurde rot und sprang ebenfalls auf: »Ich wusste ja nicht … entschuldige bitte … wie dumm von mir … ist mir das peinlich …«
[ 5] Toni achtete nicht auf sie. Seit er eingetreten war, hatte sie nur noch Augen für ihn. Schon hatte er sie entdeckt und ging federnden Schrittes zu ihrem Tisch, während die andere Frau eilig, immer noch Entschuldigungen murmelnd, das Weite suchte.
[ 5] »Ich bin so froh …« hauchte Toni wie eine Ertrinkende, die gerade aus dem Wasser gezogen worden ist.
[ 5] »Setzen wir uns doch erst einmal.« erwiderte der Sonnengebräunte und wählte den Stuhl, rechts von ihr, den Rücken zum Fenster. Als sie ihn ansah, wurde ihr klar, dass er jede Regung in ihrem Gesichtsausdruck gut erkennen konnte, während sie ein wenig blinzeln musste, da die Sonne ihr ins Gesicht schien.
[ 5] »Ist das Ihr Hund? Niedlich.« Unwillkürlich verschränkte er seine Arme, als der Hund sich aufsetzte, löste sie aber sogleich wieder. Dann winkte er die Kellnerin zu sich und bestellte einen Cappuccino.
[ 5] »Möchten Sie auch noch etwas? Kuchen vielleicht?« fragte er Toni mit einem Blick auf ihren halbvollen Becher Kakao.
[ 5] »Ähh … nein, im Moment nicht …« brachte sie mühsam hervor.
[ 5] Dann saßen sie einander gegenüber in peinlichem Schweigen, das ihm weniger auszumachen schien als ihr. Er lächelte sie mit einem Zahnpastareklamelächeln an, sagte aber nichts.
[ 5] »Ich bin so froh …« hauchte Toni noch einmal, weil ihr nichts Besseres einfiel und sie das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen. Dieser Mann schüchterte sie noch mehr ein, als sie erwartet hatte. Sie hatte sich das einfacher vorgestellt, hatte gedacht, dass er nach diesem leidenschaftlichen Brief die Initiative übernehmen würde.
[ 5] »Ja?« antwortete ihr Gegenüber und blickte ihr freundlich in die Augen. – Diese Augen! – Sie glaubte, gleich ohnmächtig zu werden.
[ 5] Wieder Schweigen. Rudolf, dem das Ganze etwas unheimlich war, winselte leise und blickte von ihr zu ihm und wieder zurück. Dann seufzte er tief und legte sich wieder unter den Tisch.
* * *​
Dirk Hansen war hergekommen, um einen losen Kontakt zu dieser potenziellen Patientin herzustellen. Sie sollte sehen, dass er ein geeigneter Therapeut für sie wäre aber sie sollte sich möglichst nicht vor ihrem Suizidversuch bei ihm anmelden. Oder er würde sich Zeit lassen, bis er sie in der Praxis empfangen würde.
[ 5] Jetzt saß sie schmachtend vor ihm mit einem Blick, der ihm nicht zum ersten Mal entgegengebracht wurde. Dieser Zustand war aus Therapeutensicht eher ungünstig, das wusste er und überlegte, wie er sie auf den Boden holen könnte, ohne sie zu verärgern.
[ 5] »Seit unserer ersten Begegnung, nein, eigentlich schon Monate vorher, als ich mit dem Schreiben begann … und eigentlich habe ich das ja nur getan, weil …« setzte Toni erneut an, bevor ihm noch etwas eingefallen war.
[ 5] Er verstand: Da war sicherlich ein Mann im Spiel. Die alte Geschichte: Sie ist verliebt, er nutzt sie aus, er verschwindet, sie bleibt selbstmordgefährdet zurück und versucht, sich mit Schreiben über Wasser zu halten. Das könnte ja durchaus eines seiner eigenen Opfer sein. Aber er glaubte, sie im Leben noch nie gesehen zu haben. Außerdem warfen sich seine Opfer sicherlich nicht gleich dem erstbesten Therapeuten an den Hals, sondern trauerten eine angemessene Zeit, Jahre vielleicht, manche sogar den Rest ihres Lebens. Er verstand es nämlich – das war keine Kompetenz, die er aus dem Psychologie-Studium mitgenommen hatte, das war sein ureigenstes Talent –, stilvoll Schluss zu machen, dem Vorgang Würde und Tragik zu verleihen, so dass die Betroffene keine Wut, sondern Trauer und Schuld empfand angesichts ihres Verlustes.
[ 5] Als er registrierte, dass sie über ihre Schriftstellerei redete, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht richtig zugehört hatte. Ihre Geschichte schien ihm trotz seiner geringen Berufserfahrung hinlänglich bekannt zu sein. Schriftstellerin also. Ein Hobby war doch gut, da konnte sie sich den Kummer von der Seele schreiben. Wozu brauchte sie dann einen Therapeuten?
[ 5] Er zwang sich zur Disziplin: Es war besser, zuzuhören, auch wenn er das Gespräch aufzeichnete und später bei Bedarf noch einmal anhören konnte. Er wusste, dass er dafür eigentlich ihre Einwilligung brauchte, aber das hätte die Situation zu sehr verkrampft, also hatte er sich dagegen entschieden, sie zu fragen. Sie musste es ja nicht wissen.
[ 5] »Erzählen Sie mir mehr von der Schriftstellerei.« ermunterte er sie, ihr weiterhin freundlich in die Augen blickend.
[ 5] Diese ganz professionelle Aufmunterung schien sein Gegenüber total zu verwirren. Nun ja, verwirrt schien sie ja die ganze Zeit schon zu sein. Vielleicht hätte er doch besser zuhören sollen. Er nahm es sich jetzt fest vor, um diese Klischees nicht hinterher noch einmal auf dem Tonband anhören zu müssen und sie berichtete ihm davon, wie sie zum Schreiben gekommen war:
[ 5] Dass sie sich dazu entschlossen hatte, Schriftstellerin zu werden, nachdem sie einige Jahre damit verbracht hatte, die Werke anderer in der Bibliothek zu verwalten und zu lesen. Dirk Hansen fand diese Ausführungen ausgesprochen langweilig, ließ sich aber nichts anmerken, sondern kommentierte sie von Zeit zu Zeit durch ein überraschtes »Ach, tatsächlich?« oder ein verständnisvolles »So, so, …«, wie er es bei den praktischen Übungen im Studium gelernt hatte.
[ 5] »Aber ich rede die ganze Zeit von mir, wie unhöflich«, bemerkte Toni jetzt, »erzählen Sie mir doch auch von sich! Wie war das, als wir uns auf der Straße begegnet sind, für Sie?«
[ 5] Dirk Hansen stutzte. Da musste ihm irgendein wichtiges Puzzle-Teil entgangen sein: Begegnet? – Hatte er diese Frau denn schon einmal getroffen und wieder vergessen? Besser, er ging jetzt kein Risiko ein. Die Flucht nach vorn hatte sich in solchen Situationen bewährt:
[ 5] »Ach, ich bin weit weniger interessant, als Sie es sind. Es gibt so vieles, das ich von Ihnen wissen möchte. Erzählen Sie doch bitte weiter! Sie waren ziemlich unglücklich, oder?«
[ 5] Wieder schien die junge Frau verwirrt von seiner Frage. – Was erwartete sie denn von ihm?
[ 5] »Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick? An Seelenverwandtschaft?« wollte sie jetzt von ihm wissen.
[ 5] Dirk Hansen verstand: Er lag richtig: Diese Frau hatte Liebeskummer. Da war die Suizid-Drohung sicherlich nur ein Hilferuf, damit sich jemand mit ihr unterhielt. Die gab wahrscheinlich nicht mal genug für sein Forschungsprojekt her.
[ 5] Kein Vergleich zu der anderen Frau, Layla, die das ganze Spektrum von depressiven Störungen zu bieten hatte und noch dazu so wunderschön war. Wenn er ehrlich wäre – was er nicht war –, hätte er zugeben müssen, dass er an Liebe auf den ersten Blick glaubte, seit er Layla getroffen hatte. Er hatte heimlich eine Taste auf seinem Smartphone gedrückt, jetzt klingelte es. Er blickte auf das Display und zeigte es ihr:
Bitte kommen Sie sofort, es handelt sich um einen Notfall!
[ 5] »Nicht mal am Wochenende hat man seine Ruhe! Die Pflicht ruft. Es tut mir schrecklich leid, mitten aus diesem anregenden Gespräch herausgerissen zu werden. Bitte, verzeihen Sie mir, wir setzen das baldmöglichst fort. Ich lade Sie natürlich ein. Ich rufe Sie an.«
[ 5] Die letzten Worte rief er ihr zu, während er zur Theke eilte, dort großzügig einen 20-Euro-Schein mit einer Geste zu ihrem Tisch ablieferte und noch bevor Toni etwas sagen konnte, war er zur Tür hinaus.

* * *​
Zwei Tische weiter beobachteten Katharina und Veronika interessiert und amüsiert das Geschehen. »Das war seine Notfall-App« stellte Katharina fest. »Die habe ich ihm geschrieben und eingerichtet.« Sie lachte ihr glucksendes, lebensfrohes Lachen, das tief aus ihrem Bauch zu kommen schien und setzte sich stolz in Positur.
[ 5] »Du bist vielleicht 'ne Marke! – Die solltest du dir patentieren lassen statt sie so einem Hallodri zu schenken!« meinte Veronika.
[ 5] »Na ja«, räumte Katharina ein, »da müsste ich ihn aber beteiligen, schließlich war es seine Idee. Schon vor seiner ersten Patientin haben wir das gemeinsam ausgeheckt. Ein Knopfdruck und er bekommt diesen ›wichtigen Anruf‹ und eilt davon. Es gibt eine ganze Reihe von Formulierungen, alle ganz dringend und die App wählt zufällig eine davon aus.
[ 5] »Wie machen wir denn nun weiter? Unsere List scheint ja immer noch nicht aufgeflogen zu sein,« sinnierte Veronika.
[ 5] »Kommt Zeit, kommt Rat, meine Liebe. Hier gibt es für uns nichts mehr zu erleben. Ich schlage vor, wir begeben uns ein wenig an die frische Luft.«
 



 
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