Totgeschrieben - 23. Freude

xavia

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23. Freude

Jonas trifft Toni

Da Petes Bistro rundum verglast war, hatte Jonas keine Möglichkeit, sich dem Lokal ungesehen zu nähern. So schlenderte er nun möglichst unschuldig daran vorbei in der Hoffnung, durch die Fenster die Lage sondieren zu können. Er hoffte, dass er einen Weg finden würde, dem trauten Stelldichein zwischen Toni und ihrem Traum-Mann ein Ende zu bereiten.
[ 5] Dummerweise wusste sie ja, dass er wusste, warum sie hier war. Eigentlich hätte er gar nicht kommen dürfen, zumal er sich gestern ganztags ergebnislos den Kopf zermartert hatte nach einer Idee, wie er Toni davor bewahren konnte, sich mit dem Falschen einzulassen. Er hatte ihn noch nie gesehen aber er wusste genau, dass es der Falsche für sie war.
[ 5] Zu seiner großen Freude und Überraschung sah Jonas Toni allein dort am Fenster sitzen. Sie blickte hinaus, sah ihn aber nicht, schien ins Leere zu starren. Ob der gemeine Typ sie versetzt hatte? Jonas beschloss, das herauszufinden. Drinnen sprang Rudolf auf, noch bevor Jonas die Tür des Lokals geöffnet hatte. Der aufmerksame Hund lief schwanzwedelnd zu ihm hin, als er eintrat. Jetzt bemerkte ihn auch Toni, sah ihn an und lächelte mühsam.
[ 5] »Hallo Jonas.«
[ 5] »Du siehst gar nicht glücklich aus« , begann er in traurig-mitfühlendem Ton. »Ist er nicht gekommen?«
[ 5] »Doch. Er ist schon wieder weg.«
[ 5] Jonas versuchte, seine Freude zu verbergen und sah sie so traurig an, wie es ihm irgend möglich war: »Lass uns einen Spaziergang machen und erzähl mir alles, frische Luft heilt manche Wunde.«
[ 5] Jonas und Toni und ein sehr fröhlicher Rudolf verließen das Lokal.
[ 5] »Ich bin ja so unglücklich! Er war da, aber es war total seltsam. Er benimmt sich so komisch. Wie ein Psychiater«, begann Toni, kaum dass sie die Stufen hinuntergegangen waren.
[ 5] »Hattest du nicht gesagt, er sei ein Psychiater? Was erwartest du da für ein Verhalten?«
[ 5] »Tja, ich denke, ich erwarte, dass er sich wie ein verliebter Psychiater verhält.«
[ 5] »Meinst du, er liebt dich nicht? – Wie könnte er nicht …« Jonas erschrak über seinen Mut und war froh, dass sie nebeneinander herliefen, so dass sie nicht sehen konnte, dass er rot wurde. Aber Toni merkte gar nichts:
[ 5] »Genau! Immerhin hat er mir ja diesen glühenden Liebesbrief geschrieben, da hätte ich eigentlich mindestens eine Rose erwartet und wesentlich romantischere Gesprächsthemen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir gar nicht zugehört hat. Es hat überhaupt nicht geknistert zwischen uns, dabei ist er doch die Liebe meines Lebens!«
[ 5] »Vielleicht ist er ein wenig sonderbar. Manche werden ja Psychiater, weil sie selbst einen Schaden haben.« Jonas hielt die Luft an und erwartete einen Gegenangriff, aber Toni lachte nur.
[ 5] »Wer weiß, wer weiß? Aber ich bin entschlossen, das herauszufinden und ihn gegebenenfalls zu heilen. Wenn ich es mir jetzt recht überlege, bin ich eigentlich ganz zufrieden mit diesem ersten Treffen: Nun kennen wir uns und haben Zeit, den ersten Eindruck zu verarbeiten. Außerdem muss ich ja auch noch Emma finden und dafür sorgen, dass Ramona nicht durchdreht in ihrem Krankenzimmer. Und beim nächsten Treffen wird er ein schlechtes Gewissen haben, weil er mich so eilig verlassen musste. – Kommst du nachher mit ins Krankenhaus?
[ 5] Jonas hatte sich noch immer nicht an die krassen Stimmungswechsel gewöhnt, aber in diesem Fall war es ihm ganz recht, dass Toni ihren Kummer hinter sich lassen konnte. Und er freute sich, dass er bereits wie selbstverständlich zu ihrem Begleiter geworden war.

Rudolf musste draußen warten, er durfte nicht mit ins Krankenhaus. Jonas legte ihn vorsichtshalber sogar an die Leine, obwohl ihm klar war, dass er ihn damit beleidigte und obwohl Toni meinte, er würde auch so dort sitzenbleiben. Aber ein Krankenhaus war ungewohnt für den Hund und man wusste ja nicht, welche interessanten Gerüche es da zu erkunden gab. – Nun ja, die meisten Gerüche in einem Krankenhaus waren sicherlich abstoßend für einen Hund.
[ 5] Toni und Jonas verabschiedeten sich wortreich von Rudolf und der belohnte sie mit einem sehnsuchtsvollen Blick und einem schwachen Schwanzwedeln.
[ 5] Beklommen betrat Jonas mit Toni das Gebäude. Ihre Schwester kannte ihn noch nicht und diese Umgebung war nicht gerade geeignet für einen guten ersten Eindruck, zumal sie keinerlei Neuigkeiten mitbrachten. Nicht einmal den Stand der Ermittlungen bei der Polizei kannten sie. Aber es war auf jeden Fall ein Vertrauensbeweis, dass Toni ihn mitgenommen hatte und vielleicht kamen sie zu dritt auf neue Ideen. Auf jeden Fall mussten sie Ramona Mut machen, auch wenn sie selbst keinen hatten. Sie liefen die Treppe hinauf – beide waren keine Freunde von Fahrstühlen, auch wenn Toni nach der dritten Etage ziemlich schnaufte –, dann den langen Gang entlang, an dessen Ende Ramonas Zimmer lag. Jonas fröstelte immer in Krankenhäusern, fühlte sich sogleich kränklich und anfällig für Infektionen.
[ 5] Toni lauschte an der Tür, bevor sie anklopfte, aber auch Jonas hörte es: Das war doch eine Kinderstimme? Sie trauten ihren Ohren kaum, vergaßen zu klopfen, Toni riss die Tür auf, stürzte ins Zimmer und da war sie: Emma saß auf Ramonas Bett und lachte sie an!
[ 5] »Emma! Wo bist du gewesen? Geht es dir gut? Erzähl' doch! Sag' doch was!« Toni lief zu ihrer Nichte, riss sie von der Bettkante hoch und umarmte sie, drehte sich mit ihr im Kreis, freute sich und bedrängte sie immer wieder, endlich zu berichten.
[ 5] »Wenn du eine Pause machst, dann erzähle ich es dir«, bot Emma ihr, immer noch lachend, an. Ramona strahlte über das ganze Gesicht; sie platzte offensichtlich vor Stolz auf ihre Tochter. Emma berichtete aufgeregt:
[ 5] »Ich habe ihm aufgelauert, habe mich tot gestellt, dann hab ich ihm das Pulver ins Gesicht geschmissen. Er hat laut gebrüllt. Dann hab' ich ihn umgeworfen, das war ganz leicht, weil er ja nichts sehen konnte. Er ist rückwärts über die Leiter gestolpert und auf den Kopf gefallen, vielleicht ist er tot. Dann bin ich die Leiter rauf, wie ein Eichhörnchen. Ein Eichhörnchen hatte er auch da unten, ganz gruselig. Es sah so traurig aus, hätte bestimmt noch gerne Eicheln gesammelt und Haselnüsse. Und Hunde, ganz ganz viele Hunde waren da, kleine und große und alle tot. Tot und ausgestopft. Und ich, ich wäre vielleicht auch ausgestopft worden, wenn ich nicht schnell genug gewesen wäre. Wenn er mich festgehalten hätte. Oh, wenn das schiefgegangen wäre …« Plötzlich fing sie an, laut zu schluchzen und klammerte sich an Toni. Es schüttelte sie, so sehr weinte sie:
[ 5] »All die toten Hunde! Und die Dunkelheit! Und nichts zu essen!«
[ 5] Jonas stand abseits, seine anfängliche Freude und Erleichterung wurden mehr und mehr verdrängt von einer schrecklichen Ahnung: Sprach sie da von seinem Vater? Wie konnte das sein? Gab es einen Raum im Keller, den er übersehen hatte? Lag sein Vater jetzt dort, verletzt, hilflos?

Es klopfte an der Tür. Toni erstarrte, als ein großer, blonder, sonnenbankgebräunter Arzt das Zimmer betrat. Sie stand da wie gelähmt, Jonas beobachtete gebannt ihre Reaktion. Der Arzt sagte in professionell-freundlichem Ton:
[ 5] »Einen wunderschönen guten Tag alle zusammen, Sie können ruhig hierbleiben, wir werden in ein anderes Zimmer gehen. – Na, meine Liebe, wie geht es Ihnen denn heute, wollen Sie mich zu einem kleinen Gespräch begleiten?« Er blieb am Bett der anderen Frau stehen und sah nicht so aus, als wenn er ein ›Nein‹ akzeptieren würde.
[ 5] Da Toni sich noch immer nicht rührte, vermutete Jonas, dass es sein Nebenbuhler war, den sie anstarrte. Mürrisch betrachtete auch er den Arzt. Das war also Dr. Dirk Hansen, Tonis Traum-Mann. Seine Bräune kam in dem weißen Kittel gut zur Geltung. Dennoch würdigte seine Patientin ihn kaum eines Blickes.
[ 5] Widerwillig erhob sich die Schöne aus ihrem Bett, zog sich betont langsam einen prachtvollen Kimono über, auf dem gelbe Feuer speiende Drachen ihre Krallen zeigten und ihre langen schlanken Körper wild zwischen grünen Kiefern und braunen Bambusblättern vor schwarzem Hintergrund ringelten. Sie zog die Schublade des fahrbaren Schränkchens auf, der neben ihrem Bett stand, und entnahm ihm eine Packung mit vier weißen Konfekt-Kügelchen. Diese steckte sie in die Tasche ihres Kimonos. Dann stand sie einfach da, blickte betont desinteressiert aus dem Fenster.
[ 5] Alle verfolgten atemlos das Geschehen, nur Jonas beobachtete wieder Toni, die mit offenem Mund dastand und den Doktor anstarrte. Bevor die sonst so Wortgewandte ihre Sprache wiederfand, hatte der seine Patientin schon mit der Hand auf ihrem Rücken aus dem Krankenzimmer hinausgeleitet und die Tür hinter sich zugezogen.
[ 5] Im selben Moment kam wieder Leben in Toni. Sie wandte sich ihrer Schwester zu und versuchte, sie über den Arzt auszufragen. Allerdings wusste Ramona nicht viel, nur dass er von Laylas Mutter ausgesucht worden war, weil es ihr imponiert hatte, dass er bei Ärzte ohne Grenzen gewesen ist. Nun wurde sie, nicht ganz freiwillig, von ihm wegen ihres Suizidversuchs behandelt und demnächst würde sie in ein Sanatorium verlegt werden, wo er sie weiter behandeln wollte.
[ 5] Jonas fühlte sich, als sei er unsichtbar geworden und fragte sich, ob es jemand merken würde, wenn er hinunter ginge um Rudolf Gesellschaft zu leisten.
 



 
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