Totgeschrieben - 24. Warten

xavia

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24. Warten

Toni wird ungelduldig

Zwei Wochen später begrüßte Toni ihre Kollegin und Freundin Sarah scheinheilig mit der Frage: »Na, wie war dein Urlaub?« Eigentlich wollte sie selbst berichten, denn Sarah wusste nicht viel mehr, als dass Emma wieder aufgetaucht war und Toni freute sich darauf, das Erlebte noch einmal durchzugehen.
[ 5] »Ein Traum, ein einziger Traum! Zwei Wochen Karibik, Wahnsinns-Strände und wir sind trotzdem kaum aus dem Hotelbett rausgekommen«, schwärmte Sarah. »Aber erzähl' du mir, wie es euch ergangen ist. Als ich abflog, war Ramona noch im Krankenhaus und Emma gerade diesem alten Mann entkommen, dem Vater von Jonas, stimmt's? Was ist aus dem geworden, haben sie ihn eingesperrt? Wie geht es Emma? Und wie steht es mit deiner großen Liebe?«
[ 5] »Der alte Mann musste mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus und jetzt ist er im Heim, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann. Er hatte die Wahl: Heim oder Gefängnis. Jonas zuliebe haben wir das hingebogen, haben verschwiegen, dass er Emma eingesperrt hatte und so wurde aus der Kindesentführung ein Missverständnis, ein harmloser Streich, der glimpflich ausgegangen ist. Aber der Typ war schon sehr seltsam: Als sein erster Hund gestorben ist, sein jahrelanger treuer Gefährte, hat er sich Bücher über Tierpräparation besorgt, ihn ausgestopft und dann im Keller gesessen und mit dem ausgestopften Hund geredet. Mit der Zeit muss dann wohl die Tierpräparation zu einer Leidenschaft geworden sein. Er hat Tiere aus dem Garten ausgestopft und auch immer mal wieder einen Hund, den Jonas ihm mitgebracht hat.«
[ 5] »Wie gruselig! Dann war sein Sohn also sein Komplize? – Schräg!«
[ 5] »Nein, Jonas wusste nichts davon. Die Hunde, die er mitgebracht hatte, waren ja schon alt. Aber als sie gar so schnell verschwanden, hat er Verdacht geschöpft und keine mehr mitgebracht.
[ 5] Der Alte hatte ohne sein Wissen einen Kellerraum der Nachbarin übernommen, unter dem er einen weiteren, geheimen, Raum gebaut hat. Und dort hat er seine Tiere ausgestopft. Niemand wusste das. Emma ist wegen des Waschbeckens da hinuntergeklettert, als die Luke offen stand. Sie hatte Durst. Selbst als Jonas im Keller nach ihr gesucht hat, ist ihm der Raum nicht aufgefallen. Es gab eine Klappe im Boden und darüber einen Teppich. Außerdem ist er nicht auf die Idee gekommen, den Kellerraum der Nachbarin zu inspizieren.«
[ 5] »Aber er hat sie eingesperrt, der Alte. Sie hätte ersticken können!«
[ 5] »Ja. Und dafür hat sie ihn krankenhausreif geschlagen. Ich bin stolz auf meine Nichte. Sie entspricht so gar nicht dem Klischee vom kleinen Mädchen. Und es geht ihr gut. Sie hatte mehrere Sitzungen mit einer Polizeipsychologin. Die kann es kaum fassen, dass sie bei Emma kein Trauma findet: Keine Gedächtnislücken, keine Verdrängung. Düstere Zeichnungen zwar, aber Emma redet offen darüber. Allerdings will sie keine Puppen und keine Plüschtiere mehr in ihrem Zimmer haben.«
[ 5] »Verständlich. Sie will wohl nur noch mit Lebenden zu tun haben. Hat sie sich mit Rudolf angefreundet?«
[ 5] »Mehr als das, die beiden lieben einander heiß und innig. Morgens begleitet er sie zur Schule, mittags holt er sie wieder ab. Seltsamerweise weiß der Hund immer, wann sie Schulschluss hat. Sogar, wenn eine Stunde ausfällt. Ramona ist sehr froh über den Beschützer ihrer Tochter, sie hat das Ganze bei weitem nicht so gut verarbeitet, würde Emma am liebsten ständig bewachen. Aber mit dem dicken Verband wäre es schwierig, sie zur Schule zu bringen. Wenn Emma dort ist, bleibt Rudolf meistens bei Ramona, bis er sie abholt, das beruhigt die angstvolle Mutter irgendwie.«
[ 5] »Und wie sieht es mit deinem Traum-Mann aus?«
[ 5] »Ach, frag mich nicht. Er meldet sich nicht. Ich folge deinem Rat und laufe ihm nicht hinterher, aber ich leide schrecklich. Ich versuche, ihm zufällig zu begegnen, aber er scheint vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich mache ausgedehnte Hundespaziergänge und sitze oft in Petes Bistro und schreibe, aber er taucht nicht auf.
[ 5] Nur Jonas, der läuft mir dauernd über den Weg. Ich bin hin- und hergerissen: Einerseits ist es schön, mit ihm zu reden, andererseits möchte ich Dirk ja lieber allein begegnen. Jonas ist nicht der Typ, der sich mit einer Ausrede verabschiedet, wenn ich ihm das signalisiere. Der steht dann einfach penetrant herum, schweigt und verdirbt alles. Aber die Spaziergänge mit ihm, die würde ich inzwischen schon vermissen.«
[ 5] »Soso, bahnt sich da was an?«, fragt Sarah mit einem anzüglichen Grinsen.
[ 5] »Nein«, beeilte sich Toni, zu versichern, »er ist ein sehr guter Freund, ein interessanter Gesprächspartner, weiter nichts. – Bist du denn sicher, dass ich keinen Annäherungsversuch bei Dirk machen soll? Vielleicht einen Brief schreiben?«
[ 5] »Hab' Geduld, das wird schon. Ist doch gut, wenn der Jonas dir derweil die Zeit vertreibt. – Und mit deinem zweiten Roman geht es auch voran? Liebeskummer ist ja manchmal ein guter Motor zum Schreiben. Was passiert denn da gerade?« versuchte Sarah, ihre Freundin auf ein anderes Thema zu bringen.
[ 5] »Mein zweiter Roman Traum-Mann auf Abwegen ist die Fortsetzung des ersten. Der Begehrenswerte wird von zahllosen schönen Frauen in Versuchung geführt. Eine, Alexandra, ist ganz besonders hartnäckig. Sie schafft es mehrfach, den Ahnungslosen in Hinterhalte zu locken, in denen sie ihn verführen will. Wenn er ihr wieder mal entkommt, wird sie sehr zornig und in ihrer Zerstörungswut richtet sie allerlei Schaden an, um sich dann eine neue Teufelei auszudenken, mit der sie ihr Opfer gefügig machen will. Sie bringt ihn in Gefahr, aus der sie ihn dann wieder retten kann, verwickelt ihn in Intrigen, deren angebliche Verursacher sie bei Gelegenheit entlarvt. Es macht mir Spaß, dieses Luder in den schillerndsten Farben zu beschreiben.«
[ 5] »Eine interessante Seite von dir, die solltest du vielleicht mehr ausleben«, meinte Sarah listig.
[ 5] »Wieso von mir? Ich selbst bin doch ganz anders«, beteuerte Toni.
[ 5] »Wie solltest du dir denn solche Dinge ausdenken, wenn sie nicht in dir schlummerten?« dozierte Sarah. »Und dass du diese Alexandra nicht magst, deutet auch darauf hin, dass sie dein ›Schatten‹ ist. Du solltest mal C. G. Jung lesen, Archetypen, kollektives Unbewusstes oder so. Da wird dir manches klar werden. Aber erzähl' mal weiter von deinem Roman! – Wo ist der Konflikt, der die Sache spannend macht?«
[ 5] »Es gibt da noch die Frau, die meine Rolle spielt: Lydia. In die ist er unsterblich verliebt. Die habe ich so gestaltet, wie ich gerne sein würde: Groß und schlank, langes, schwarzes Haar, leuchtende, hellblaue, traurig blickende Augen und schön geschwungene Lippen, deren Form immer ein ganz leichtes Lächeln vortäuscht. Alle Menschen, Frauen wie Männer, sind sofort von ihr bezaubert.«
[ 5] »Klingt absolut gar nicht nach dir. Wieso willst du so etwas sein? Ich finde dich gut, wie du bist. Und Jonas offenbar ja auch«, versuchte sie es erneut.
[ 5] »Wenn ich ehrlich bin, habe ich Jonas' Blick, wie er manchmal guckt, als Vorlage für diese Frau genommen. Er hat auch diese leuchtend blauen Augen. Wenn es einen Schatten bei Jung gibt, dann ist diese Frau mein Licht. Über sie zu schreiben ist leicht. Es fließt mir so aus der Feder, hätte man früher gesagt. Es fällt mir so in die Tastatur? Eigenartig, dass es keine moderne Version dieser Redensart gibt. Jedenfalls haben meine Figuren ein Eigenleben, ich habe nicht allzu viel Einfluss darauf, was sie treiben. – Meinst du nicht, ich sollte jetzt langsam einen Annäherungsversuch wagen? Wenn Dirk nichts mit mir zu tun haben will, warum hat er mir dann diesen glühenden Liebesbrief geschrieben? Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war in Ramonas Krankenzimmer, da hat er mich überhaupt nicht bemerkt, hat ihre Zimmernachbarin zur Therapie abgeholt und hatte nur Augen für sie.«
[ 5] »Aber das war doch eine super Gelegenheit! Wieso bist du ihm da nicht in die Arme gestolpert oder hast irgendeinen Anfall bekommen, bei dem er erste Hilfe leisten musste? – Na, egal, vorbei und vergessen. Weißt du wenigstens, wie seine Patientin hieß?«
[ 5] »Ich weiß nicht mal, wie sie aussah, habe nur ihn gesehen«, gab Toni verzagt zu.
 



 
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