Totgeschrieben - 25. Dunkelheit

xavia

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25. Dunkelheit

Layla denkt nach

Layla legte ihre wohlgeformten nackten Beine schräg auf die Fensterbank ihrer ›Zelle‹, schüttelte die langen schwarzen Haare nach hinten, so dass sie locker hinter der Stuhllehne hingen und blickte in die Krone des Kastanienbaums vor dem Fenster. Die neuen Blätter sahen noch ganz frisch und hellgrün aus und es gab Blüten, jetzt schon, am 2. Mai! Sie staunte, dass ein Kastanienbaum einen ganzen Sommer dafür brauchte, um seine Früchte herzustellen. Andererseits – das waren ja auch sehr große und aufwändige Früchte, an denen er arbeitete. Da musste er halt zeitig beginnen.
[ 5] Sie wusste, dass sie ihr schönes helles Zimmer im Sanatorium Waldfrieden mit den lebensfrohen buttergelben Vorhängen nicht ›Zelle‹ nennen durfte, nicht einmal in Gedanken. Sie sollte sich hier nicht eingesperrt fühlen, hatte ihr Psycho-Doktor gesagt, sie solle es eher als einen Urlaub betrachten. – Urlaub, ha! Nach ihrem dritten Versuch, ihrem traurigen Dasein ein Ende zu setzen, hatte sie keinen Urlaub verdient. Und sie würde hier eingesperrt bleiben, bis der gute Doktor der Meinung war, man könne sie wieder auf sich und die Menschheit loslassen. – Der hatte ja keine Ahnung!
[ 5] Aber obwohl er keine Ahnung hatte, schien er von einem längeren Aufenthalt auszugehen. Zweimal pro Woche, an Montagen und an Donnerstagen, kam er her um mit ihr zu ›arbeiten‹ , wie er es nannte: Reden, reden, reden. Um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen hatte sie ihm bereitwillig und detailliert von ihrer Kindheit berichtet. Das musste doch eigentlich alles in ihren Unterlagen stehen, das hatte sie schon so oft mit verschiedenen Seelenklempnern durchgekaut. Und jeder musste es noch einmal ›von ihr‹ hören, ›mit ihren eigenen Worten‹. Nun ja.
[ 5] Hypnose wollte er anwenden. – Das kam ja nun ganz und gar nicht in Frage! Nicht auszudenken, was er da alles ans Tageslicht befördern könnte! Sie hatte das lapidar verweigert mit der Begründung, dass sie von solchem Zeug nichts halte und glaube, dass die Ärzte selbst nicht genau wüssten, was sie da tun. – Von wegen, sie wusste wohl, dass das funktionierte, hatte die Geschichte, die sie jetzt über ihre Kindheit berichten konnte, mit Hilfe einer Heilpraktikerin aus ihrem Unterbewusstsein hervorgeholt. Mit Hypnose. Glücklicherweise stand das nicht in ihren Unterlagen. Ärzte und Heilpraktikerinnen arbeiteten nicht zusammen, hatten also keine gemeinsame Datenbank.
[ 5] Damals gab es noch keine dunklen Geheimnisse, sie hatte es sich erlauben können, jemanden in ihrem Unterbewusstsein graben zu lassen. Heute war das anders: Neben dumpfer Traurigkeit und Resignation war nun Wut ihr treuer Begleiter geworden, weil sie jetzt wusste, warum sie traurig war.
[ 5] Verzeihen und beten hatte die Heilpraktikerin ihr geraten. Pah! Im Moment war sie wieder wütend, wollte hier weg. Wenn die Traurigkeit durchkam sah sie in ihrem Tod den einzigen Ausweg, war aber nicht allzu geschickt darin, ihn herbeizufrühren. War die Wut an der Oberfläche, wollte sie leben. Handeln. Rache nehmen. Sie war dann vollkommen bei sich, ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren und sie war hellwach. Sicher wäre es interessant, solche Überlegungen einmal mit ihrem Therapeuten zu besprechen, aber dann müsste sie ihn hinterher töten.

Wieder ein Montag. Seufzend stand Layla auf, verließ ihre ›Zelle‹, ging den langen Flur hinunter zum Sprechzimmer, wo sie um 15:00 Uhr Dr. Hansen treffen sollte. Dieser kam ihr aber schon im Flur federnden Schrittes entgegen.
[ 5] »Na, wie fühlen Sie sich denn heute, meine Liebe? Gehen wir ein paar Schritte durch den Park?« Sanft aber souverän dirigierte er sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ihr die Wahl ließ.
[ 5] Es ging also schon wieder los. Inzwischen kannte sie bereits die ersten Anzeichen der Übergriffe und wurde wütend. Aber sie musste Geduld haben. Wenn sie jetzt eine Szene machte, würde man sie für hysterisch halten und sie bekäme sie eine Injektion. Also ging sie scheinbar fügsam neben ihm her und versuchte, einen möglichst ›normalen‹ Eindruck zu machen, um möglichst bald dieser Klapsmühle zu entkommen.
 



 
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