Totgeschrieben - 28. Feuer

xavia

Mitglied
28. Feuer

Findet Toni ihren Traum-Mann?

Es war dunstig, sie konnte kaum atmen. Toni hustete und verkroch sich unter der Bettdecke. Dort hatte sie sich immer schon sicher gefühlt. Aber dann kamen ihr ganz vernünftige Gedanken in den Sinn: Warum sollte es in ihrem Schlafzimmer dunstig sein? Brannte es? Dann drohte unter der Bettdecke höchste Gefahr.
[ 5] Sofort sprang sie aus dem Bett und sah sich um. Ihre Zimmergenossin war nicht da. Der Rauch kroch unter der Tür hindurch, die keine Schwelle hatte. Sie rannte dorthin, wollte die Tür aufreißen. Sie ging nicht auf. Abgeschlossen? Abgeschlossen! Kein Zweifel, es brannte und sie war eingeschlossen! Sie musste so schnell wie möglich hier raus, rüttelte an der Tür, trommelte mit den Fäusten dagegen, trat mit den nackten Füßen und keuchte, hustete und merkte nun auch zunehmend, wie heiß es wurde. Panik erfasste sie.
[ 5] Sie rannte zum Fenster. Kein Mensch zu sehen da unten auf dem Rasen. Viel zu hoch. Sollte sie es dennoch wagen, zu springen? Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren, es spielte alle Möglichkeiten gleichzeitig durch: Aus dem Fenster springen und sich alle Knochen brechen, die Tür auftreten und im Qualm und dem Feuer, das ihr entgegenschlagen würde, verbrennen, auf Hilfe warten – von wem denn nur?
[ 5] Sie musste es versuchen, rannte zur Tür, warf sich mit der Wucht des Anlaufs dagegen, schrie auf vor Schmerz, registrierte, dass sie nach innen aufging. Keine Chance, sie saß in der Falle. Als sie wieder darüber nachdachte, aus dem Fenster zu springen, hörte sie eine Stimme von draußen:
[ 5] »Weg von der Tür!«
[ 5] Hastig gehorchte sie und sah zu, wie diese krachend ins Zimmer flog und ein Mann hereinstürzte, ihr eine nasse Decke umlegte und sie in den Flur hinausschob.
[ 5] »Schnell, schnell, bevor das Treppenhaus in Flammen steht!«, drängte er sie.
[ 5] Zu spät, die Flammen kamen ihnen bereits von der Treppe entgegen, die Wände loderten heiß.
[ 5] »Es gibt ein Nebengebäude, vielleicht schaffen wir es über das Dach«, schlug sie vor.
[ 5] Sie hasteten den Gang entlang, der Rauch war hier weniger dicht. Immer noch kein Mensch in Sicht. Er sprang aus dem Fenster auf das Flachdach des Nebengebäudes, half ihr, sich hinunterzulassen und sie rannten zum Dachfenster. Zum Glück war es offen. Sie kletterten hinein, gelangen so in das andere Treppenhaus, in dem die Flammen noch nicht wüteten, und gelangten von dort nach unten auf den Hof. Erleichtert und zitternd sank sie in seine Arme.
[ 5] »Lass mich nie wieder los«, bat sie ihn leidenschaftlich, denn es fühlte sich an, als sei sie nach Hause gekommen.
[ 5] »Versprochen.«
[ 5] Dann sah sie ihn an und wachte auf. Das Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit überwältigte sie. Kaum mochte sie den Traum, so schrecklich er auch war, hinter sich lassen. Aber sie roch schon wieder Rauch und bekam Angst: Sollte der Albtraum jetzt noch einmal von vorne beginnen? Sie öffnete die Augen und sah Korinna vor ihrem kleinen Altar knien, auf dem drei Räucherstäbchen brannten.
[ 5] Wahrscheinlich hatte deren Geruch ihren Traum verursacht, dachte Toni. Der Traum, sie versuchte, sich zu erinnern, sah wieder die Flammen, fühlte die nasse Decke, wie sie zu Boden glitt und dann die Umarmung, die Geborgenheit. Selbst jetzt, in der Erinnerung, war dieses Gefühl sehr mächtig. Sie verweilte darin, ließ sich halten. Gleich würde er sie ansehen, ihr Doktor.
[ 5] Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, kehrte wieder in die Umarmung zurück, hörte seine Stimme, die nur dieses eine Wort sagte: »Versprochen.« – Diese Stimme, nicht seine Stimme, ganz falsch. Auch die Umarmung, der Mann war kleiner als ihr Doktor, dünner. Plötzlich erkannte sie ihn: Das war Jonas! Wie in aller Welt kam ihr Unterbewusstsein dazu, Jonas als ihren Retter einzusetzen? Diese Rolle hatte sie doch dem Doktor zugedacht! Nachdenklich lag sie da und starrte an die Decke, fühlte immer noch diese Geborgenheit, ein Gefühl, das so gar nicht zu ihren bisherigen Erfahrungen mit dem Doktor passte. – Konnte es sein, dass sie sich in den falschen Mann verliebte?

Die Handlung lief gründlich aus dem Ruder. Ihr Roman-Doktor liebte die falsche Frau und die reale Toni wurde vom falschen Mann gerettet, liebte möglicherweise den falschen Mann? Einen Jonas hatte sie gar nicht im Roman. Wozu auch? Sollte sie ihren Roman so ändern, dass das Geschehen dort ihren Wünschen entsprach? Aber was wünschte sie sich? Und wenn sie das wusste, konnte sie die Handlung im Roman beliebig verändern, würden ihre Figuren das mitmachen? Und würden die wirklichen Menschen dann nachziehen?
[ 5] Oder sollte sie aufhören, ihre Macht-Phantasien zu nähren, sich einzubilden, sie könnte durch ihr Schreiben die Wirklichkeit verändern?
[ 5] War die Tatsache, dass sie hier lag und über solche Dinge nachdachte, ein Zeichen dafür, dass sie den Verstand verlor oder war gerade das Gegenteil der Fall, zeigte ihr Nachdenken, dass sie diese absurde Situation rational überdenken konnte?
[ 5] Vielleicht sollte sie dieses Problem einmal mit ihrer Therapeutin besprechen. Aber damit würde sie wahrscheinlich sicherstellen, dass sie dauerhaft hierbleiben müsste.
 



 
Oben Unten