Totgeschrieben - 29. Freundin

xavia

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29. Freundin

Layla findet eine Freundin

Dieses Gefühl war ungewohnt. Layla saß am Fenster, schaute hinaus, ohne etwas zu betrachten und überlegte, wie sie es einordnen könnte. Gestern hatte sie Wut empfunden, Wut auf den Doktor. Er behandelte sie wie seinen Besitz, fasste sie immer wieder scheinbar zufällig an. So zufällig, dass ein Protest lächerlich gewesen wäre, aber doch so deutlich, dass sie sich ausgeliefert fühlte. Wenn sie irgendwo standen, trat er so nahe zu ihr, dass es ihr unangenehm war und wenn sie zurückwich, folgte er ihr. Nur gut, dass er jetzt weg war. Und dass die Wut nachgelassen hatte. Normalerweise folgten dann Schwere und Hoffnungslosigkeit, aber die fühlte sie jetzt auch nicht. Dieses Gefühl kannte sie kaum. Und plötzlich wurde es ihr klar: Das war Zuversicht! – Ja, sie hatte das Gefühl, es könnte alles gut werden. Sie dachte leichten Herzens an das ausgelassene Spiel von gestern und freute sich auf den neuen Tag.
[ 5] Im Frühstücksraum lächelte sie Toni zu, als sie diese am Büfett traf. »Vermisst du deinen Hund?«, fragte sie gesellig und legte sich ein Croissant auf den Teller. Sie merkte erfreut, dass sie Appetit hatte. Sogleich legte sie noch etwas Camembert und eine halbe Kiwi dazu.
[ 5] Toni hatte bereits zwei Brötchen, ein Ei, mehrere Marmeladen und einige Päckchen Butter auf ihrem Teller und kaute bereits. Unwillkürlich blickte Layla an Toni herunter. Sie war kräftig gebaut, aber nicht dick, etwa 1,65 m groß, eher kleiner. Erstaunlich, dass sie so viel essen konnte.
[ 5] »Ja«, murmelte Toni, »ich habe ihn noch gar nicht lange, aber wir haben so viel miteinander erlebt, er ist schon ein Teil von mir. – Hast du auch ein Haustier? Ich wollte nie eines haben und nun habe ich einen Hund und liebe ihn.« Es gelang ihr, auch eine halbe Kiwi auf dem vollen Teller unterzubringen und sie füllte sich Orangensaft aus einer Karaffe in ein Glas.
[ 5] Layla verneinte, meinte, in ihrem Leben sei kein Platz für ein anderes Wesen, weder für ein Tier noch für einen Menschen. Noch während sie das sagte, überlegte sie, ob sich das nicht ändern könnte. »Wenn ich so einen Hund wie Rudolf treffen würde, könnte ich mir das noch mal überlegen«, räumte sie ein.
[ 5] Während sie plaudernd zu ihren Tischen zurückgingen, bedauerten beide, sich trennen zu müssen. Ihre Tische standen weit voneinander entfernt, jeweils mit einer ungeliebten Zimmernachbarin besetzt, die erwartungsvoll zu ihnen herübersah.
[ 5] »Lass' uns doch nach dem Essen einen Spaziergang machen«, schlug Toni vor.
[ 5] Layla war einverstanden. Sie wandte sich der Mahlzeit am Tisch der magersüchtigen Sonja zu. Ihre Zimmergenossin versuchte nicht einmal mehr, mit ihr ins Gespräch zu kommen und ihr war das recht. Nachdem diese an ihrem ersten Tag ungefragt ihren gesamten Leidensweg vor ihr ausgebreitet hatte und ihr auch die Meinungen aller Experten, die sich mit ›ihrem Fall‹ befasst hatten, eingehend erläutert hatte, war klar gewesen, dass das keine Gefährtin für sie sein konnte.
[ 5] Amüsiert bemerkte Layla, dass sie es eilig hatte, nach draußen zu kommen. Das war eine ganz neue Erfahrung für sie: Sie freute sich auf den gemeinsamen Spaziergang.
[ 5] Im Hinausgehen sah sie, dass Toni noch mit vollen Backen kaute und dabei auf ihre rosa gekleidete Mitbewohnerin einredete. Eigenartig, dass diese Frau ihr sympathisch war. Vielleicht lag es daran, dass Toni sich tatsächlich für sie, Layla, zu interessieren schien, nicht für ihre äußere Hülle sondern für das, was sich in ihrer Seele abspielte. Natürlich konnte sie ihr darüber nicht allzu viel verraten, aber diese Frau stellte die richtigen Fragen und hörte ihr zu, wenn sie antwortete.

Sie stand schon eine Weile vor dem Haus, als Toni endlich herauskam und sich dafür entschuldigte, dass sie sie hatte warten lassen. Sie machten sich auf den Weg, schlenderten gemütlich durch den weitläufigen Park und redeten über Gott und die Welt. Layla erzählte von ihrer Mutter und den Bio-Gärtnerinnen und Toni von Emmas Abenteuer, das Rudolf und Jonas in ihr Leben gebracht hatte.
[ 5] »Jonas, ein weiterer Freund, den dieses Abenteuer mir eingebracht hat«, sinnierte Toni.
[ 5] »Ist er dein fester Freund?«, wollte Layla wissen.
[ 5] »Nein, nein«, beeilte Toni sich, zu versichern«, er ist nur ein Freund«. Dann wechselte sie abrupt das Thema: »Du wirst doch von diesem Dr. Hansen behandelt. Wie ist der eigentlich?«
[ 5] Es trat ein langes Schweigen ein. Toni wartete anscheinend gespannt auf eine Antwort und Layla wollte nicht über ihn reden. Manchmal ist es schön, mit jemandem zu schweigen, aber dieses Schweigen war beklemmend. Layla bereute, nicht gleich geantwortet zu haben. Alles, was sie jetzt sagen würde, hätte mehr Gewicht, als ihr lieb war. Schließlich sagte sie: »Er muss wohl ein ziemlich engagierter Arzt sein, war bei Ärzte ohne Grenzen. Jetzt schreibt er ein Buch über suizidgefährdete Frauen, ist also genau der richtige Therapeut für mich. Meine Mutter hat ihn ausgesucht.«
[ 5] »Begeistert klingt das aber nicht«, stellte Toni fest, »kann er dir denn helfen?«
[ 5] »Ein Nachmittag mit dir, Sarah und dem Hund hat mir mehr geholfen als alle bisherigen Sitzungen mit ihm«, erinnerte sich Layla.
[ 5] Jetzt war es Toni, die schwieg. Sie hatte anscheinend eine andere Antwort erwartet. Kleinlaut fragte sie schließlich: »Wann kommt er denn wieder her?«
[ 5] »Am Donnerstag. Er kommt immer Montags und Donnerstags.«
[ 5] »Na, vielleicht bist du bis dahin ja schon gesund. Vielleicht kommt Rudolf uns vorher besuchen. Sarah hat gesagt, Jonas würde sich die Anlage auch einmal ansehen wollen und da wird er den Hund sicherlich mitbringen.«
[ 5] Layla sah das als eine Einladung an und freute sich darüber. – »Macht es euch auch wirklich nichts aus, wenn ich dabei bin?
[ 5] »Aber nein, warum sollte es? Ich sage doch, er ist nur ein guter Freund«, bekräftigte Toni noch einmal, »ebenso wie Sarah. Und wie du«.
[ 5] Layla war gerührt über diesen Zusatz, lächelte in sich hinein. Diese fröhliche und impulsive Frau tat ihr gut.

In den folgenden Tagen trafen sich Layla und Toni, wann immer sie die Zeit dafür fanden. Sie sprachen über Bücher, über die Menschen im Sanatorium, über den Sinn des Lebens. Sie waren kaum je einer Meinung, aber stets gab es interesante und für beide inspirierende Beiträge. Toni staunte über Laylas tiefsinnige Gedanken und Layla erfreute sich an Tonis unbekümmerter Art. Es schien, als seien sie zwei Hälften eines Ganzen und sie besprachen viele Fragen ihres Lebens, da die Andere jeweils neue Sichtweisen dazu beitragen konnte ohne dass es jemals um Rechthaberei ging. Aber sie sprachen nicht mehr über Dr. Dirk Hansen.

Als Jonas mit Rudolf auftauchte, waren sie schon die besten Freundinnen. Leider kam er unangemeldet und Toni musste kurz darauf zu ihrer Gruppentherapie.
[ 5] »Keine Chance, da zu schwänzen«, bedauerte sie, »die führen genau Buch und wenn jemand fehlt, wird er danach schrecklich in die Mangel genommen und es wird in seine Akte eingetragen, vielleicht sogar der Krankenkasse gemeldet. Das möchte ich nicht riskieren. Ich bin ja in einer Stunde wieder da.«
[ 5] Als sie weg war fragte Layla: »Weiß sie es?«
[ 5] »Nein«, antwortete er. »Und das soll auch so bleiben, erst mal. Wie geht es dir mit dem Doktor?«
[ 5] »Er geht mir auf die Nerven. Er ist wie all die anderen. Ich hasse ihn.«
[ 5] »Ich auch, aber Toni ist in ihn vernarrt.«
[ 5] »Man würde ihr einen Gefallen tun, wenn man ihn verschwinden ließe.«
[ 5] »Ja …«

Als Tonis Sitzung vorbei war erbot sich Layla, mit Rudolf draußen zu bleiben, während Toni Jonas die Gebäude von innen zeigte. Ein kleines dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht, nur für sie, Layla, bestimmt und sie lächelte verschwörerisch zurück.
[ 5] »Wenn du den nicht willst, nehme ich ihn«, lachte sie später, als Toni sie nach ihrer Meinung fragte. »Ist dir nicht klar, dass er bis über beide Ohren in dich verliebt ist?«
[ 5] »Aber er ist nur ein Stallbursche, er arbeitet in einem Tierheim!« empörte Toni sich.
[ 5] Layla fragte sich, welche Gründe Jonas für seine Geheimnistuerei haben könnte.
 



 
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