Totgeschrieben - 3. Langeweile

xavia

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3. Langeweile

Veronika sitzt im Büro

Müde blickte Veronika Praun auf ihre Fingernägel. Sie könnte sich eigentlich auch mal diese schönen Muster draufkleben lassen. Vielleicht hielten die ja trotz der blöden Computer-Arbeit doch länger als sie dachte, immerhin machte sie ja fast alles mit der Maus. Wann musste sie schon mal etwas schreiben! In dem Moment klingelte das Telefon. Sie wartete eine Weile. – Sollte niemand denken, sie hätte nur auf diesen Anruf gewartet. Dann setzte sie das Headset auf, drückte auf den Knopf und leierte mit professionell desinteressiertem Tonfall ihren Spruch herunter, als hätte sie das heute schon hundertmal getan:
[ 5] »Praxis Doktor Adelsen Veronika Praun am Apparat was kann ich für Sie tun?« Sie freute sich über die Abwechslung. In letzter Zeit war nicht mehr viel los hier, da vergingen die Tage nur schleppend. Am anderen Ende meldete sich eine Frau. Sie schätzte sie mit ihrem Kenner-Ohr auf 28 Jahre, kräftig gebaut, erfolgsgewohnt, energisch. Sie mochte sie nicht, das wusste sie schon jetzt. Der Text klang einstudiert.
[ 5] »Hermine Wilkens, guten Tag. Ich möchte eine Psychotherapie machen. Meine Freundin hat mir einen Therapeuten empfohlen, nur leider habe ich den Namen vergessen. Den von dem Therapeuten. Meine Freundin ist auf Safari, ich kann sie nicht telefonisch erreichen. Ich weiß aber, wie der Therapeut aussieht, sie hat ihn mir beschrieben. Können Sie mir bitte sagen, wie der Herr Dr. Adelsen aussieht?«
[ 5] Veronika wurde munter: Sie hatte ja schon mit ziemlich verrückten Menschen zu tun, aber diese hier … sowas war ihr noch nicht untergekommen, in all den Jahren, in denen sie hier arbeitete.
[ 5] »Ja, das könnte ich wohl. Aber vielleicht sagen Sie mir einfach, wie der gewünschte Therapeut aussieht, sicherlich weiß ich dann, wer es ist. Schließlich kenne ich ja nicht nur meinen Arbeitgeber, sondern auch die Konkurrenz.«
[ 5] Sie freute sich diebisch über die gute Idee: Jetzt hatte sie sie in Zugzwang gebracht! Gespannt lauschte sie und es kam noch viel besser als erwartet:
[ 5] »Er ist Anfang Dreißig, groß, blond.«
[ 5] Nicht zu fassen! Wenn sie das ihrer Freundin erzählen würde! Was für ein Spaß! Was für ein Klischee! Wie aus einem schlechten Arztroman! Kathi wird begeistert sein! Jetzt nur nichts verderben.
[ 5] »Sportlich, braun gebrannt?«
[ 5] »Ja!«
[ 5] »Sensibel, so ein richtiger Frauen-Versteher?«
[ 5] »Ja!«
[ 5] Sie konnte sich kaum beherrschen, hätte am liebsten laut losgelacht. Fieberhaft überlegte Veronika, wie sie die Anruferin weiter hinhalten und ihr noch mehr Informationen entlocken könnte, ohne sich einen Riesen-Ärger einzuhandeln. Immerhin wusste die andere ihren Namen und konnte sich beim Chef beschweren. Sie brauchte dafür nicht einmal ihren Namen; es gab ja nur sie und ihn in dieser lausigen Praxis. Seit einundzwanzig Jahren, zwei Monaten und zehn Tagen.
[ 5] Aber was sollte ihr schon passieren? Der Chef wusste, was er an ihr hatte, schätzte sie als eine kluge Ratgeberin, mit der er manchmal sogar seine Fälle besprach. Er würde sich auf seine alten Tage nicht von ihr trennen, könnte sich gar nicht mehr umstellen. Immerhin kannte sie all seine Marotten, seine Vorlieben und Abneigungen und bediente diese virtuos. Außerdem würde er sicher Verständnis haben. Ihm musste auch klar sein, dass dieser Job sie intellektuell hoffungslos unterforderte. Im Hintergrund bellte ein Hund.
[ 5] »Ruhig, Rudolf! – Hallo? Sind Sie noch dran? Ist er das?«
[ 5] »Nein, mein Chef ist das leider nicht. Aber ich glaube, ich kann Ihnen trotzdem weiterhelfen, bleiben Sie bitte dran.«
[ 5] Veronika hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Sie kannte keinen solchen Arzt. Sie musste Zeit gewinnen, um zu überlegen. Aber wie? Im Zweifel war es immer gut, sich geheimnisvoll zu geben, also legte sie die Anruferin auf eine musikalisch unterlegte Warteschleife. Sie hatte nie verstanden, zu welchem Zweck ihr Chef die hatte einrichten lassen, aber jetzt kam ihr das zugute. Ihr schwebte ein harmloser Scherz vor, irgendeine Konstruktion, ein bisschen peinlich und sehr witzig. Das hatte die Anruferin mit ihrem Arztroman-Ansinnen verdient. Aber wenn sie sie zu einem anderen Arzt schickte, flog der Schwindel auf, sobald sie dort empfangen wurde. Womöglich kam es gar nicht dazu, weil sie auch dort bei der Anmeldung nachfragen würde. Und wenn sie eine Praxis erfinden würde, einen Geheimtipp, der nicht im Telefonbuch steht, dann brauchte sie einen Raum, die Patientin zu empfangen. Ach, schade, es schien keine Lösung zu geben und um mit Kathi einen Plan auszuhecken blieb keine Zeit. Sie beendete die Warteschleife.
[ 5] »Hallo? Sind Sie noch da?«
[ 5] »Ja.«
[ 5] »Tut mir leid, ich kann Ihnen doch nicht helfen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Suche. Auf Wiederhören.«
 



 
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