Totgeschrieben - 30. Abwesend

xavia

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30. Abwesend

Toni vermisst den Doktor und Jonas

Am folgenden Montag erschien Dr. Dirk Hansen nicht im Haus Waldfrieden. Auch in der Woche danach kam er nicht. Tonis Therapeutin übernahm auch Laylas Behandlung, was diese anscheinend sehr erfreute.
[ 5] »Er war ein Wind-Ei«, war ihr ganzer Kommentar, als Toni über die Abwesenheit des Doktors jammerte.
[ 5] »War?«
[ 5] »Er ist ein Wind-Ei. Ich muss es schließlich wissen, hatte unter ihm zu leiden«, korrigierte Layla sich.
[ 5] Toni sah nun keinen Grund mehr, hierzubleiben, im Gegenteil: Bei allem was sie inzwischen über den Doktor wusste, konnte sie ihm sicherlich leichter ›zufällig‹ auf der Straße begegnen als hier. Und falls er doch wieder auftauchte, konnte sie ja immer noch als Laylas Besucherin erscheinen. So simulierte sie also jetzt ihre wundersame Genesung und lobte bei ihrer nächsten Einzelsitzung die erfolgreiche Therapie.
[ 5] Ihre Ärztin hatte keine Bedenken, sie bald zu entlassen, wollte sie aber noch ein paar Tage beobachten um sicherzugehen, dass es sich nicht nur um eine kurzfristige Besserung handelte. Toni vermutete, dass die Ärztin sich freute, weil schnelle Heil-Erfolge gut für die Statistik waren und Platz für wirklich Kranke schafften. Sie hatte immer einen leisen Verdacht gehabt, dass die kluge Ärztin gar nicht auf ihr Theater hereingefallen war, dass es ihr nur gerade passte, eine Patientin aufzunehmen, die sie relativ schnell würde ›heilen‹ können und derer sie sich bei Bedarf ebenso schnell würde entledigen können.
[ 5] Letzten Endes war das ja auch egal. Sie hatten eine Win-Win-Situation, beide hatten gute Gründe, so zu handeln. Die Ärztin behielt sie noch eine Woche zur Beobachtung da – etwas lange, wie Toni fand – und entließ sie am Montag als ›geheilt‹.

Wieder zu Hause führte sie ihr erster Weg, noch bevor sie ausgepackt hatte, ins Tierheim, um Jonas zu sehen. Es war schon lange her, dass er sie besucht hatte, wurde ihr gerade bewusst. – Welche Enttäuschung, als sie erfuhr, dass er dort nicht mehr arbeitete! Wie konnte er eine so große Veränderung vornehmen, ohne sie zu informieren?
[ 5] Die Frau am Empfang wusste nichts über seine weiteren Pläne, sie schien ein wenig beleidigt über seinen geheimnisvollen Abgang und grinste hämisch, als sie realisierte, dass es Toni ähnlich ging wie ihr. Aber Toni ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Als sie wieder im Auto saß, rief sie ihn auf dem Handy an. Ausgeschaltet. – Nein, sie wollte keine Nachricht daraufsprechen, sie wollte ihn persönlich sprechen!
[ 5] Jetzt fiel ihr ein, dass es in ihren Romanen gar keine Entsprechung von Jonas gab, keinen guten Freund, auf den man sich verlassen konnte. Und in ihrem Leben, gab es ihn da denn noch? Unwillkürlich verglich sie die Gefühle, die die Abwesenheit der beiden Männer in ihr auslöste und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie von Jonas' Verschwinden weitaus schlimmer getroffen war als vom Verschwinden des Doktors. – Sollten Sarah und Layla Recht haben mit ihrer Einschätzung, dass der Doktor ihrer Liebe nicht wert sei? Das Gefühl aus ihrem Traum kam wieder hoch. Jetzt hatte sie Sehnsucht nach der Geborgenheit, die sie empfunden hatte, als Jonas sie aus dem Feuer gerettet hatte. Er war in den letzten Wochen immer für sie da gewesen und sie hatte das als so selbstverständlich angesehen, wie die Verfügbarkeit ihrer eigenen Gliedmaßen. Ebenso schlimm vermisste sie ihn jetzt, als fehlte ihr ein Arm.
[ 5] ›Ist dir nicht klar, dass er bis über beide Ohren in dich verliebt ist?‹, hörte sie Laylas Stimme in ihrem Geiste. – Wie hatte sie so blind sein können, so grausam zu ihm? Sie rief ihn noch einmal an und bat ihn dringend um Rückruf, teilte ihm mit, dass sie das Sanatorium verlassen habe und nun wieder telefonisch erreichbar sei.
[ 5] Als stundenlang kein Anruf kam, beschloss sie, weiter zu schreiben. Wenigstens produktiv wollte sie sein, Kreativität brauchte sie im Moment nicht, die nächsten Seiten ihres Romans lagen schon in ihrem Kopf bereit und das Aufschreiben würde sie von ihrem Kummer ablenken.
[ 5] Die schöne Lydia hatte den Gift-Anschlag vorbereitet und saß nun mit dem Arzt beim Tee. Aber Alexandra hatte sie durch ein Fenster beobachtet, als sie die Pralinen präpariert hatte und nun stürzte sie hinzu und schlug vor, dass Lydia das erste Kügelchen essen sollte. Die wurde bleich und fing an zu stottern …
[ 5] Sie überlegte eine Weile und änderte diesen Abschnitt: Sollte der Arzt doch das Opfer eines Gift-Anschlages werden, da konnte Alexandra hinterher ihren Einfallsreichtum einsetzen, um den Mord aufzuklären. Ihr Roman-Arzt hatte es nicht besser verdient, nachdem er Lydia so zugesetzt hatte. Sie überarbeitete auch den Abschnitt mit seinen Zudringlichkeiten und steigerte diese noch ein wenig, dramatisierte Lydias Gefühle, in denen alte Traumata wieder auflebten. Danach legte sie sich ermattet schlafen. Immer noch kein Anruf von Jonas.

In den nächsten Tagen führte sie ein einsames und asketisches Leben. Sie ging zur Arbeit, wich dort den Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen nach Möglichkeit aus, holte Rudolf von ihrer Schwester ab, suchte ihren Stammplatz in Petes Bistro auf und schrieb.
[ 5] Rudolf lag gewöhnlich unter dem Tisch und schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. – Ja, es war Ruhe eingekehrt in ihre kleine Welt und fast genoss Toni das nach all dem Trubel. Sie hatte gar keine Lust, nach Dirk Hansen zu suchen oder mit Sarah neue Pläne zu schmieden.
[ 5] Manchmal sah sie aus dem Fenster und dachte daran, wie schön es wäre, wenn Jonas dort um die Ecke käme, sie schon von weitem sehend und schüchtern winkend. Er hatte so eine zurückhaltende Art zu winken, als wäre diese Geste nur für sie allein gedacht. Auch sein Gesichtsausdruck war sehr subtil. Seine Augen verrieten die große Freude, seine Miene blieb fast neutral. Ein Außenstehender könnte kaum merken, dass er jemanden begrüßte, aber sie wusste immer, dass er sie meinte, schon von weitem. Sie merkte, dass sie gar nicht mehr darüber nachdachte, dass der Doktor hier vorbeikommen sollte. – War sie etwa schon dabei, ihn zu vergessen?

Aus einer Laune heraus rief sie eines Tages in einer kreativen Pause ihr E-Mail-Programm auf und schaute nach privaten Nachrichten. Da sie beruflich viele E-Mails bearbeiten musste, was die in der Bibliothek erledigte, und ihre privaten Kontakte über andere Kommunikationskanäle liefen, erwartete sie nichts Spannendes. Hier gab es normalerweise nur Spam, E-Mails von Unternehmen, bei denen sie etwas gekauft hatte und die sie nun über neue Angebote informierten. Oder Angebote von Prinzen in fernen Ländern, die ihr Millionenerbe mit ihr teilen wollten, wenn sie ihnen nur ihre Bankverbindung mitteilte.
[ 5] Ohne Interesse ließ sie ihren Blick über die lange Liste schweifen, nahm sich vor, recht bald darin aufzuräumen und löschte einige Angebote für Potenz-Pillen und Penis-Verlängerungen. Dann blieb ihr Blick an einem Namen kleben: Jonas! Er hatte ihr geschrieben, schon vor mehr als zwei Wochen. Da stand ›Dringend‹ im Betreff. Eilig öffnete sie die Nachricht.
[ 8] Liebe Toni, ich muss ganz überraschend verreisen,
[ 8] für mindestens drei Monate. Ich werde in dieser
[ 8] Zeit nicht erreichbar sein. Falls du diese
[ 8] Nachricht noch vor dem Wochenende bekommst,
[ 8] ruf mich bitte an. Ansonsten erzähle ich dir
[ 8] alles hinterher.
[ 8] Mach dir bitte keine Sorgen, es ist alles gut,
[ 8] mehr als gut.
[ 8] Herzliche Grüße Jonas.

Tonis Gefühle fuhren Achterbahn. Sie freute sich, eine Nachricht von ihm zu haben, aber: Drei Monate verreisen? Ja, spinnt der denn? Wie konnte er so etwas tun ohne sich zu verabschieden? Und wieso glaubte er, sie kurzfristig per E-Mail zu erreichen? Woher hatte er überhaupt ihre Adresse toni.von.berg@web.de? Hatte er die geraten?
[ 5] Okay, anrufen konnte er sie nicht im Sanatorium, aber er hätte einen Brief schreiben können. War es wirklich so eilig? Wieso hatte er Sarah nichts erzählt? Ja, tatsächlich hatte sie ihren Laptop mit im Waldfrieden, aber dort war sie nicht in der Stimmung zum Schreiben gewesen und für E-Mails schon gar nicht. Wo konnte er denn nur sein und wieso ging er nicht an sein Handy?
[ 5] Als ihre erste Empörung verklungen war, fiel ihr ein, dass sie ihm auch nicht meldete, wenn sie wegfuhr. Von ihrem Aufenthalt im Waldfrieden musste er wohl irgendwie über Sarah erfahren haben, als ihm klar geworden war, dass sie weg war. Sie hatten also anscheinend keine Beziehung, in der man sich gegenseitig über seinen Aufenthaltsort informierte. Aber sie war davon ausgegangen, dass er sie dennoch benachrichtigen würde. Hatte er ja auch versucht.

»Es ist wirklich ein Jammer, so ein gesunder und schöner Mann, in der Blüte seines Lebens.« hörte sie eine Frau am Nachbartisch sagen. Sie erkannte aus den Augenwinkeln die beiden Frauen, die wie sie selbst Stammgäste bei Pete waren und die sie schon öfter hier beobachtet hatte, weil von ihnen eine so politive Stimmung ausging.
[ 5] Sie horchte auf, tippte auf ihrem Laptop herum, damit die beiden nicht merkten, dass sie lauschte. Später würde sie den Text wieder löschen müssen, jetzt schrieb sie einfach mit, was sie sprachen, um nicht denken zu müssen und nicht aufzufallen.
[ 5] »Was ist das für eine tückische Krankheit, die ihn in nicht mal einer Woche umgebracht hat?« fuhr die Frau fort und Toni erstarrte: War das der Grund, wieso sie Jonas nicht erreichen konnte? War er krank? Tot? Atemlos lauschte sie, tippte jetzt nicht mehr.
[ 5] »Man weiß nicht, was es war«, sagte die andere, »ein schlimmes Fieber, Erbrechen, blutiger Durchfall. Vielleicht hatte er etwas Falsches gegessen, aber Nachforschungen ergaben nichts Verdächtiges auf seinem Speiseplan. Das, woran er sich erinnerte, hatten auch andere gegessen. Seine Verfassung war die meiste Zeit so schlecht, dass man gar nicht mit ihm reden konnte. Zuerst ist er nicht zum Arzt gegangen, weil er dachte, das ginge von selbst wieder weg und als es dann schlimmer und schlimmer wurde konnte man ihm auch im Krankenhaus nicht mehr helfen. Es sah fast so aus als hätte er sich vergifet, aber sie haben kein Gift in seinem Körper gefunden.
[ 5] Mein Chef ist untröstlich; er sollte doch sein Nachfolger werden, hatte schon seine erste Patientin. Auch so eine schöne Person übrigens.«
[ 5] »Aber die ist doch noch wohlauf, oder?«
[ 5] »Ich glaube, ja. Sie ist im Haus Waldfrieden, wird dort weiter behandelt von Dr. Thomsen. Eine sehr tüchtige Ärztin, ich kenne sie persönlich.«
[ 5] Tonis Verstand hatte wieder eingesetzt: Die redeten nicht über Jonas, die redeten über Dr. Dirk Hansen! Ihr Dirk, tot, vergiftet? Sie dachte an ihren Roman. Sollte sich da wieder eine Parallele ergeben? Hatte sie nicht nur ihren Roman-Doktor sondern auch den anderen auf dem Gewissen? Hatte sie beide totgeschrieben?
[ 5] Eine Verwechslung war unmöglich, im Haus Waldfrieden gab es keinen anderen Arzt mit nur einer Patientin. Alle außer Layla wurden von Dr. Thomsen behandelt. Sie rief die Trauerseite der Tageszeitung auf, ging die Todesanzeigen durch. Das durfte einfach nicht wahr sein, die beiden mussten sich irren, setzten Gerüchte in die Welt, wahrscheinlich hatte er nur eine Grippe oder sowas. ›Wusste ich es doch! Er steht nicht dabei! Er ist nur krank, er wird wieder gesund‹, freute sie sich, als sie die erste Anzeigen-Seite überflogen hatte.
[ 5] Aber sie blätterte weiter und da stand sein Name: ›Dr. Dirk Hansen, geschätzter Kollege‹ und da stand auch ›geliebter Sohn‹ – fassungslos starrte sie auf den Monitor ihres Laptops. Rudolf war aufgestanden und hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Abwesend streichelte sie das weiche Fell an seinem Hals.
 



 
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