Totgeschrieben - 31. Ungeduld

xavia

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31. Ungeduld

Toni sucht nach Jonas

Es wäre schön, mit jemandem zu reden, der sie verstand. Toni fiel auf, dass sie niemanden kannte, der das Ableben des schönen Doktors wirklich bedauerte. Aber Jonas hätte zumindest Mitgefühl gehabt mit ihr und nun sollte sie drei Monate ohne ihn zurechtkommen, drei lange Monate? – Ob er wohl ihr eigentlicher Traum-Mann war? Wie es sich wohl anfühlen würde, ihm mit dieser Vorstellung zu begegnen?

Sie besuchte seinen Vater im Heim, überwand ihren Widerstand und versuchte, mit ihm zu reden. Sie wusste ja nicht, wie es dem alten Mann ging, bevor er in das Heim eingewiesen worden war, aber jetzt konnte man sich überhaupt nicht mit ihm verständigen. Er plapperte wirres Zeug vor sich hin, nahm kaum Notiz von ihr und reagierte nicht auf ihre Fragen. Die Pflegerin wusste nichts Neues von seinem Sohn. Sie sagte, der sei schon seit ein paar Wochen nicht da gewesen und dem Alten schiene das nichts auszumachen. Er habe heftig protestiert, als er eingeliefert worden sei aber seitdem zu niemandem mehr Kontakt gehabt, auch nicht zu seinem Sohn.

Als Toni in der Kantine bei Erbsensuppe mit Wurst mal wieder Sarah ihr Leid klagte, hatte diese eine Idee: Jonas hatte eine Wohnung, da wusste doch entweder der Vermieter oder die Frau, die mit im Haus wohnte, wo er war. Irgendwohin musste man ihm ja seine Post nachsenden bei einer so langen Abwesenheit.
[ 5] »Ja, das ist es! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Wenn sie ihm seine Post nachsenden, kann ich ihm ja schreiben«, schlussfolgerte Toni erfreut. Sie setzte diese Idee sofort in die Tat um und schrieb ihm einen langen Brief.
[ 5] Sie schrieb ihm, dass sie seine E-Mail erst viel zu spät gefunden habe, dass sie an dem Doktor kein Interesse mehr habe (dass der tot war, verschwieg sie ihm) und dass sie Sehnsucht nach ihm habe. Er solle ihr nur recht bald schreiben, wo er sei und dann werde sie ihn besuchen kommen. Bangen Herzens tütete sie den Brief ein, adressierte ihn an die Schwalbengasse 13, versah ihn mit einem Stempel der Bibliothek und brachte ihn sogleich in die Poststelle, wo man ihr versicherte, dass er noch vor der letzten Leerung zur Post kommen würde. Sie hoffte, dass der weitere Postweg ihn dann dorthin bringen würde, wo sich Jonas jetzt aufhielt.
[ 5] Nach Feierabend ging sie als erstes zur Schwalbengasse 13. Es konnte ja nicht schaden, auch einen ›Plan B‹ zu verfolgen. Frau Hinderlich war wahrscheinlich zu Hause, machte aber nicht auf. Toni versuchte es wieder und wieder und gab schließlich auf. Die Frau war fast taub und hörte die Klingel nicht. Durch die Fenster konnte sie nicht sehen, weil sie zu hoch über dem Boden waren. Schließlich schrieb sie einen Zettel: \begin{quote}\itshape Liebe Frau Hinderlich, ich bin eine Freundin von Jonas und möchte gerne wissen, wo er ist. Können Sie mir vielleicht weiterhelfen? Ich wohne in der Schwalbengasse 9 und bin am Samstag und am Sonntag vormittag auf jeden Fall zu Hause. Leider haben Sie nicht gehört als ich am Freitag abend bei Ihnen geklingelt habe. Ich würde Ihnen gerne bei mir in der Wohnung einen Tee oder einen Kaffee anbieten.\\ Herzliche Grüße Toni Gutenberg. \end{quote}
[ 5] Den Zettel steckte sie in Frau Hinderlichs Briefkasten und hoffte, dass die gute Frau ihn dort finden würde.

Sie hatte Glück: Schon am nächsten Morgen um zehn Uhr klingelte es an der Haustür und Frau Hinderlich stand mit einem Blumenstrauß und einem Teller Kekse vor der Tür. Die alte Dame war offenbar erfreut über die Abwechslung und wollte den versprochenen Tee so richtig genießen.
[ 5] »Haferkekse, selbst gebacken«, erklärte sie stolz, als sie den Teller auf den Wohnzimmertisch stellte. Dann setzte sie sich mit einem leisen Ächzen in den Ohrensessel.
[ 5] »Tee oder Kaffee?« fragte Toni und Frau Hinderlich entschied sich für Tee. Kaffee vertrage sie nicht mehr. Sie folgte Toni in die Küche und während diese den Tee bereitete, beschrieb sie ausführlich ihren Leidensweg, der von gelegentlichen Bauchschmerzen bis hin zu chronischem Sodbrennen reichte und von Blähungen begleitet war. Toni konnte es kaum erwarten, etwas über Jonas zu erfahren, zwang sich aber, mit der Frage zu warten bis der Tee fertig war.
[ 5] Dann saßen sie zusammen im Wohnzimmer und Toni fragte: »Wissen Sie, wo Jonas ist?«
[ 5] Frau Hinderlich lächelte sie freundlich an: »Nehmen Sie doch noch einen Keks!«
[ 5] Toni nahm und fragte erneut. Wieder lächelte Frau Hinderlich und erzählte ihr dann von ihrer Tochter, die diese Kekse immer ganz besonders gern gemocht hatte. Die sei ja nun in Amerika, habe einen Amerikaner geheiratet und ihre Kinder, ein Junge, zwölf und ein Mädchen, siebzehn, könnten kaum Deutsch reden. Die vier seien vor zwei Jahren einmal zu Besuch da gewesen. Sie selbst könne ja nicht mehr so weit reisen, das sei ihr zu beschwerlich. Und auch zu aufregend. Man wisse ja nie. Aber sie telefonierten jeden Sonntag. Morgen wieder.
[ 5] Toni versuchte es noch einmal, dieses Mal erheblich lauter: » WISSEN SIE, WO JONAS IST?«
[ 5] »Ach ja, der Jonas, so ein netter junger Mann! Und so tierlieb.«
[ 5] Toni fragte ungeduldig:»WISSEN SIE, WO ER IST?«
[ 5] »Ja, ja, das weiß ich wohl. Immerhin wohnen wir ja im selben Haus, er ist doch mein Vermieter, jetzt, wo sein Vater fort ist«, antwortete Frau Hinderlich verwundert.
[ 5] Toni konnte es kaum aushalten: »WO IST ER DENN JETZT?«
[ 5] Frau Hinderlich wich erschrocken zurück: »Aber liebes Kind, so schreien Sie mich doch nicht so an. Ich bin ja nicht taub!«
[ 5] Toni musste sich mit aller Macht beherrschen, nicht ins Sofa zu beißen. Sie krallte die Finger in den Sitz und schaute Frau Hinderlich erwartungsvoll an, ein mühsames Lächeln andeutend.
[ 5] »Er musste weg, wegen seiner Forschung. Ganz plötzlich ist er abgereist. Und sein Vater ist auch weg, im Heim. Jetzt wohnt da ein netter junger Mann. Sehr hilfsbereit, dieser junge Mann. Der bringt mir manchmal Einkäufe mit, wenn ich ihm einen Zettel gebe. Ich kann ja nicht mehr so wie früher.«
[ 5] »Forschung?«
[ 5] »Ja, wissen Sie das denn nicht? Er ist doch jetzt Tierarzt, hat sein Examen mit Auszeichnung bestanden. Und jetzt forscht er im Ausland, irgendwas über Gift. In England, glaube ich, oder Kanada. Ich bin mir nicht sicher. Amerika war es nicht. Aber irgendwo, wo sie englisch reden. Glücklicherweise. Da kann er sich verständigen. Wäre ja schlimm, wenn er nach Japan gemusst hätte, nicht wahr? Oder gar nach China! Oder Frankreich …«
[ 5] Toni nahm ihre Teetasse und lehnte sich zurück, wärmte sich die Hände an der Tasse und atmete den Duft des Tees ein, um sich zu beruhigen und diese Neuigkeiten zu verdauen. So wenig wusste sie von Jonas. Nie hatte sie ihn gefragt, war davon ausgegangen, dass der Job im Tierheim sein Beruf war. Er wusste alles über sie und sie wusste nichts über ihn. Und jetzt war er weit weg. Drei Monate lang.
[ 5] »HAT DER JUNGE MANN BEI IHNEN IM HAUS VIELLEICHT EINE ADRESSE VON JONAS?«
[ 5] »Seine Adresse, die habe ich auch«, versicherte Frau Hinderlich.
[ 5] »GEBEN SIE SIE MIR, BITTE!«
[ 5] »Aber Kindchen, die kennen Sie doch: Schwalbengasse 13.«
 



 
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