Totgeschrieben - 6. Enttäuschung

xavia

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6. Enttäuschung

Jonas begegnet Toni erneut

Jonas ging die Arbeit heute leicht von der Hand. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Er wünschte es sich so sehr und heute gab es Grund zur Hoffnung: Eine junge Frau hatte Rudolf mitgenommen, um mit ihm Gassi zu gehen. Sie war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen, wenngleich sie nicht den Eindruck machte, dass Tiere ihr allzu viel bedeuteten. Aber das konnte ja noch kommen.
[ 5] Er spürte, dass etwas anderes sie beschäftigte, aber immerhin hatte sie auf Anhieb gewusst, dass es Rudolf sein sollte, den sie mitnehmen wollte. Nicht ganz zufällig, denn er hatte sie absichtlich zu Rudolfs Zwinger gebracht.
[ 5] Dieser Hund war genau der richtige für eine Frau, die auf ihren Spaziergängen einen Beschützer brauchte, die nicht viel Aufhebens von ihm machen wollte, die einen unkomplizierten Hund suchte. Es passte einfach prima und auf die Dauer würde Rudolf mit seiner bescheidenen, freundlichen Art schon ihr Herz erobern.
[ 5] Er hätte den Hund gerne selbst genommen. In seinem Elternhaus gab es genug Platz und der Garten bot geradezu ideale Bedingungen für einen Hund. Es gab dort allerlei zu entdecken und eine hohe Mauer, die rings herumging, verhinderte, dass er weglief. Aber leider wohnte da auch sein Vater. Er ging schon seit Jahren, eigentlich, seit seine Mutter mit seiner Schwester ausgezogen war, nicht mehr unter Menschen und als dann auch noch sein Onkel, der Bruder seines Vaters, starb, wurde es noch schlimmer. Auch mit Jonas sprach er nur wenig und wurde mit der Zeit immer seltsamer.
[ 5] Nicht, dass sein alter Herr Hunde nicht mochte, im Gegenteil! Wenn er überhaupt den Mund aufmachte, dann fragte er, ob Jonas nicht bald einen neuen mitbringen könnte. Oft genug hatte Jonas einen Hund aus dem Heim mitgebracht, um ihn vor dem Einschläfern zu retten. Aber nach ein paar Monaten verschwand der Hund. Gestorben, im Garten begraben, während Jonas in der Arbeit war, sagte sein Vater. Beim ersten und zweiten Mal hatte er sich nichts dabei gedacht: Die Hunde waren alt, da konnte schon mal einer sterben.
[ 5] Aber beim dritten Mal erwachte sein Misstrauen und als es wieder und wieder so ging, wollte er keinen Hund mehr mit nach Hause nehmen. Rudolf wäre der nächste Kandidat gewesen. Der Hund, den keiner haben will, der schon zu alt ist. Jonas mochte nicht darüber nachdenken, wie es dem armen Tier bei ihm zu Hause ergehen würde. Da kam ihm eine Spritze vom Tierarzt humaner vor, auch wenn Rudolf noch viele Jahre vor sich haben könnte.

Die Klingel an der Rezeption riss ihn aus seinen Gedanken. Ach ja, schon halb zwei, da kamen die Hunde von ihren Ausflügen zurück. Der Hund, heute nur Rudolf. In der Woche kamen nicht viele Menschen, um sich ein Tier auszuleihen. Also rief man ihn wegen der quirligen jungen Frau nach vorne. Ein schneller Blick in den Spiegel, die schwarzen Haare etwas verwegen verstrubbeln und dann möglichst gleichgültig, aber doch kraftvoll zum Eingang schreiten. Er dachte an die Helden in den Filmen, die in solchen Situationen in Zeitlupe gehen konnten. Er fühlte sich stark und bedeutend.
[ 5] »Hey, Jonni, was ist denn mit dir passiert?« – Tina, die Frau an der Rezeption, bildete sich etwas darauf ein, dass sie ihm schon mal einen Korb gegeben hatte. Blöde Kuh. Jonas sackte unwillkürlich ein wenig in sich zusammen, gab sich an der Tür aber erneut einen Ruck, um bei Rudolfs neuem Frauchen möglichst respektabel rüberzukommen.
[ 5] Die hatte aber im Moment gar keine Augen für ihn, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn um ihr Auto herum. Anscheinend wollte Rudolf nicht aussteigen. Dann sah sie ihn und lächelte. Ihre eigenwilligen braunen Locken wurden von hinten von der Sonne angestrahlt und es sah aus, als hätte sie einen Heiligenschein. Sie schien sich zu freuen, ihn zu sehen. – Ob sie ihn wohl wiedererkannte? Jonas wurden die Knie weich, aber er riss sich zusammen, erwiderte ihr Lächeln vorsichtig. Er wusste, dass zu viel Lächeln als Schwäche ausgelegt werden konnte und unmännlich wirkte.
[ 5] »Ah, gut, dass ?ie da sind!« rief sie und fuchtelte mit den Armen herum. »Gucken Sie sich das an! Was ist nur in den Hund gefahren, der war so brav die ganze Zeit und jetzt das! Er ist ausgestiegen und dann gleich wieder in den Wagen gesprungen und jetzt kriege ich ihn nicht wieder heraus. Was tun Sie denn hier mit den Hunden, dass der solche Angst davor hat, zurückgebracht zu werden?« Sie hielt mit ihrem wilden Gestikulieren inne und sah Jonas erwartungsvoll an.
[ 5] ›Das ist gut‹, dachte er sich, ›sie macht sich Gedanken‹. Jetzt kam es darauf an, genau die richtige Dosierung von Rechtfertigung und drohendem Unheil zu servieren, damit sie es nicht übers Herz brachte, den Hund wieder herzugeben.
[ 5] »Wir behandeln die Tiere wirklich gut. Trotzdem wissen die intelligenteren von ihnen, dass sie hier auf der Abschussliste stehen. Und Rudolf ist ein sehr kluger Hund.«
[ 5] »Abschussliste? – Heißt das, dass Sie sie einschläfern, wenn sie nach einer gewissen Zeit kein neues Herrchen oder Frauchen gefunden haben?«
[ 5] »Ja, wie sollten wir denn sonst funktionieren? Manche Tiere will eben niemand mehr. Die können wir ja nicht jahrelang durchfüttern. Rudolf ist schon länger hier als alle anderen. Er ist so ein ausgeglichener Hund, aber er ist eben kein Welpe mehr. Die Leute wollen ihren Hund selbst erziehen. Und was dabei dann manchmal rauskommt, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …«
[ 5] »Nein, danke, das kann ich mir schon vorstellen. Schaffen sie diesen nur aus meinem Auto raus, ich muss schnell weg.« Mit diesen Worten eilte sie ins Haus, um an der Rezeption den Papierkram zu erledigen.
[ 5] Traurig beugte Jonas sich in den Wagen: »Komm, alter Junge, das wird heute nichts mehr.« Der Hund sah ihn mit gesenktem Kopf von unten hoch an und ließ sich am Halsband aus dem Wagen ziehen. Im nächsten Moment kehrte die eilige Frau auch schon zurück, stieg mit einem flüchtigen Dankeschön ein und sauste mit quietschenden Reifen davon, ohne den Hund oder den Mann noch eines Blickes zu würdigen.
 



 
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