Totgeschrieben - 7. Hoffnungslos

xavia

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7. Hoffnungslos

Layla bekommt Krankenbesuch

Traurig saß Layla in ihrem Krankenbett. Dieses Mal hätte es funktionieren sollen. Aber es war wieder schiefgegangen. Tabletten, eine Badewanne voller Blut. Die falschen Tabletten, den Wasserhahn nicht zugedreht. Es tropft von der Decke. Die Nachbarn holen die Polizei. Gerade noch rechtzeitig, um ihr den Magen auszupumpen. Wenn die Tabletten sowieso harmlos waren, warum haben sie das dann überhaupt getan? Abschreckung? Wieder ein gescheiterter Versuch. Es schien, als wollte irgendetwas in ihr um jeden Preis weiterleben. Wozu denn nur?
[ 5] Die lieben Mitmenschen wussten es: »Jeder Selbstmord ist ein gescheiterter Selbstmordversuch.« – So ein Zynismus! Als ob sie es nötig hatte, durch einen Selbstmordversuch auf sich aufmerksam zu machen! Wo sie hinkam, richteten sich alle Blicke sofort auf sie. Nein, sie brauchte wirklich nicht um Aufmerksamkeit zu buhlen.
[ 5] Sie war groß und schlank. Ihr langes, schwarzes Haar bildete einen reizvollen Kontrast zu leuchtenden hellblauen Augen und schön geschwungene Lippen ließen nicht ahnen, welches Grauen sie schon erlebt hatte. Deren natürliche Form täuschte immer ein ganz leichtes Lächeln vor, ähnlich wie bei der Mona Lisa. Ihre Haut war zart und durchscheinend. Auf die meisten Menschen wirkte sie wie aus einer anderen Welt und Frauen ebenso wie Männer waren sofort von ihr bezaubert.
[ 5] Niemand verstand, wieso sie nicht glücklich war. Sie selbst wusste es aber: Sie kannte keinen Menschen, der hinter diese schöne Fassade blicken wollte. Niemand sah sie in ihrer normalen Menschlichkeit, mit all ihren Widersprüchen. Alle sahen nur das Ideal, das sie aus ihr konstruierten.

Ihre Mutter fand sie undankbar. Wie konnte sie Dankbarkeit von ihr erwarten? Etwa weil sie sich von ihrem Vater getrennt hatte, als er nicht wahrhaben wollte, was sein Bruder mit der kleinen Layla trieb? Als ihre Mutter davon erfuhr, ist sie sofort mit ihr ausgezogen, noch bevor sie wusste, wo sie bleiben könnten. Sicher, das war mutig gewesen. Unter dem Mädchennamen der Mutter hatten die beiden in einer leeren Sozialwohnung gehaust und nach und nach ein eigenes Leben aufgebaut.
[ 5] Ihr Vater hatte ihr nicht geglaubt, hatte sich eine heile Welt zusammenphantasiert, damit sein Bruder weiter bei ihm wohnen konnte! Zwar hatte sie selbst die Ungeheuerlichkeit dessen, was da passiert war, auch nicht realisiert, aber er hätte es besser wissen müssen als sie, ein Kind von zwölf Jahren.
[ 5] Ihr kleiner Bruder hatte zum Vater gehalten, weil er den in seinem Kinderglauben wohl für das Opfer ungerechtfertigter Anklagen hielt. Tatsächlich hatte der Vater ja auch nichts getan. – Nichts!

Mehrere Versuche ihrer Mutter, durch eine neue Partnerschaft wieder eine Famile zu bilden, waren gescheitert. Zuerst gab es Eifersuchtsdramen. Später, als Layla zu einer ebensolchen Schönheit herangewachsen war wie ihre Mutter, konnten die neuen ›Väter‹ ihre Finger nicht von ihr lassen und oft dauerte es Jahre, qualvolle Jahre mit Drohungen und Erpressung, bis ihre Mutter dahinterkam und wieder eine Beziehung in die Brüche ging. Schließlich hatte sie es aufgegeben mit den Männern und nun lebte sie mit drei anderen Frauen zusammen, betrieb einen Bio-Laden, verkaufte neben dem üblichen Bio-Kram auch manchmal selbstgestrickte Strümpfe und Äpfel vom eigenen Baum und spielte ›Heile Welt‹.

Aber die Welt war nicht heil! Layla wusste das. Und nun würde sie wieder dazu verdonnert werden, irgend so einem blöden Seelenklempner ihre Geschichte zu erzählen, bis man sie wieder entließ in ihre kleine private Hölle. Er würde sie retten wollen, würde sich wohlmöglich gar in sie verlieben. Er würde ihr zu nahe kommen und alles würde nur noch schlimmer. – Wenn es doch nur geklappt hätte, wenn sie doch tot wäre!
[ 5] Ob sie ihr wohl Glückspillen gegeben hatten? In einem Krankenhaus traute sie ihren Gefühlen nicht. Vielleicht fühlte sie sich in Wirklichkeit noch viel schlechter, vielleicht war diese deprimierte Stimmung nur die Spitze des Eisbergs, das, was an den Glückspillen vorbeikam!
[ 5] Verdrossen blickte sie zu ihrer Bettnachbarin hinüber: Die hatte einen Kniesehnenriss, eine Tochter, sah mittelmäßig aus und schien auch nach der Operation ganz guter Dinge zu sein. Okay, sie hatte keinen Mann, aber alleinerziehende Mütter hatten es heutzugage ja nicht mehr so schwer wie früher. Auf jeden Fall war sie nicht allein und wusste, wofür sie lebte. Sie selbst hingegen hatte keine Ahnung, welcher kranke ›höhere Plan‹ dazu geführt haben könnte, dass sie sich weiterhin auf diesem Erdball abquälen musste.
[ 5] Die Andere lächelte ihr zu: »Heute kommt meine Tochter Emma mich besuchen, zusammen mit meiner Schwester Toni. Die beiden müssten bald hier sein.«
[ 5] Schön für Sie. Mich besucht niemand. Meine Mutter ist sauer, weil ich es schon wieder versucht habe, die kommt nicht, da bin ich mir sicher. Und wenn, dann kann ich das Gesülze nicht ertragen: ›Kind, du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir! Du bist so talentiert! Du studierst sogar! Da wirst du doch wohl gelegentlich mal schlechte Stimmung ertragen können. Was soll ich denn sagen, hast du überhaupt eine Ahnung, was ich alles durchgemacht habe? Und habe ich etwa versucht, mich umzubringen? Nein!‹ – Ich kann sie hören, auch ohne dass sie hier ist. Soll sie nur bleiben, wo sie ist, in ihrer blöden Öko-Kommune, dachte sie, aber sie sagte nichts, schenkte der Anderen nur ihr bezauberndes, trauriges Lächeln.
[ 5] Es klopfte an der Tür.
[ 5] Zwei Frauen traten ein, die eine klein und dicklich mit einem braunen Kübel im Arm, rotem Kraushaar auf dem Kopf, einem rost-braun-beige-schwarz-gestreiften Poncho über einer rostfarbenen Jeans und barfuß in Sandalen – Sandalen! Die andere groß und schwarzhaarig, eine ältere Kopie von Layla, in einem langen grünen Wollmantel über einem rohseidenen Kleid in den Farben eines Sonnenuntergangs mit einem Stauß Sonnenblumen im Arm. – Ein Bild für eine Ansichtskarte.
[ 5] »Kind, was machst du denn bloß für Sachen? Wie kannst du nur? Du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir! Du bist so talentiert! Mach etwas daraus, wirf es nicht weg! Lass dich von gelegentlichen Windstößen nicht gleich umwerfen. Ich habe es doch auch geschafft. Und ich hatte es wahrhaftig nicht leicht. Hier sind ein paar Sonnenblumen aus unserem Garten, um dich aufzuheitern.«
[ 5] Fast bedauerte sie, diese Rede nicht vorher zum Besten gegeben zu haben, da könnte sie jetzt bedeutungsvolle Blicke mit ihrer Bettnachbarin tauschen. Aber wozu das, die würde in ihre Familie zurückkehren und sich nicht mehr für sie interessieren. Wozu dann erst Kontakt aufnehmen?
[ 5] Eigentlich freute sie sich über den Besuch ihrer Mutter, aber sie konnte es nicht zeigen. Sie drehte sich zur Wand:
[ 5] »Lasst mich in Ruhe.«
[ 5] »Nun sei doch nicht so.«
[ 5] »Ich will alleine sein.«
[ 5] »Mach' es mir doch nicht so schwer.«
[ 5] »…«
[ 5] Die Kraushaarige füllte den Kübel mit Wasser, indem sie mit dem Zahnputzbecher schöpfte, denn der Kübel passte nicht unter den Wasserhahn. Dann stellte die Schwarzhaarige ihre Sonnenblumen hinein und beide betrachteten zufrieden die Ecke des Krankenzimmers, in der es nun von Leben und Zuversicht strotzte. Die Frau im anderen Bett würdigte diese Tat:
[ 5] »Ach, wie wunderschön! Da habe ich ja auch meine Freude daran! So schöne Sonnenblumen züchten Sie in Ihrem Garten?«
[ 5] Es folgte artige Konversation zwischen den Besucherinnen und der Frau mit dem Sehnenriss, die die beiden nutzten, um für ihren Öko-Laden Reklame zu machen, wenngleich sie bald bemerkten, dass die Frau im Bett nicht willens war, mehr Geld für etwas auszugeben, nur um die Umwelt zu schonen, wenn sie etwas Gleichartiges billiger im Supermarkt bekommen konnte. So kühlte die Atmosphäre relativ schnell ab. Die Kranke war nett und höflich, raffte sich aber nicht dazu auf, Ideale vorzutäuschen, die sie nicht hatte. Bald gaben die beiden Geschäftsfrauen es auf und verabschiedeten sich, ohne einen weiteren Anlauf mit der Unglücklichen zu machen, die weiterhin beharrlich die Wand anstarrte:
[ 5] »Erhol' dich gut, meine Liebe und wenn dir danach ist, dann ruf an, jederzeit. Ich kümmere mich um einen guten Therapeuten.«
[ 5] »…«
 



 
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