Totgeschrieben - 9. Entrüstet

xavia

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9. Entrüstet

Ramona telefoniert mit Toni

Als die beiden Frauen fort waren, wurde es wieder still im Krankenzimmer von Layla und Ramona. Diese Stille schien greifbar und Ramona litt darunter, mehr noch als vor dem Besuch der beiden Öko-Frauen.
[ 5] ›Wo meine Schwester nur bleibt?‹ Sie fing an, sich Sorgen zu machen, kramte nach ihrem Handy, wählte Tonis Nummer. Besetzt.
[ 5] Mit wem telefonierte ihre Schwester? Sie sollte doch eigentlich unterwegs zum Krankenhaus sein. Sie durfte doch während des Autofahrens nicht telefonieren. Schon gar nicht, wenn sie ein Kind im Auto hatte! – Sie wählte erneut: Besetzt.
[ 5] Sie wählte die Nummer ihrer Tochter. Es klingelte, aber die ging nicht ran. Sehr seltsam. Emma wird doch ihr Handy im Rucksack haben? Dann sollte jetzt die Starwars-Melodie aus dem Rucksack ertönen und Emma sollte sich melden.
[ 5] Wieder versuchte sie es bei ihrer Schwester, wieder besetzt. Sie zwang sich dazu, eine Viertelstunde zu warten. Eine endlose Viertelstunde, in der sie in einer Zeitschrift blätterte, ohne irgendwas zu sehen. Dann versuchte sie es erneut. Besetzt. Sie hätte schreien mögen! Wenn sie doch nur mit jemandem reden könnte! Aber die Frau im Bett neben ihr hatte in der Zeit, die sie hier war, noch kein Wort zu ihr gesagt. Manchmal schien sie zuzuhören, wenn Ramona ihr etwas erzählte, aber meistens ignorierte sie sie; sie antwortete niemals. Und jetzt lag sie zur Wand gedreht, da gab es ohnehin keine Chance.

Was mochte nur passiert sein? Ein Unfall? Toni hätte sie dann doch angerufen. Ach, sie telefonierte ja. Oder war das Handy kaputtgegangen und sendete deshalb den Besetzt-Ton? Sie wusste nicht, wie sich ein kaputtes Handy anhörte. Vielleicht hatte Toni mit letzter Kraft versucht, Hilfe anzurufen, einen Rettungswagen, und war dann ohnmächtig geworden. Und Emma ging es noch schlechter, die konnte gar nicht ans Telefon gehen. Ja, so musste es sein, beide lagen hilflos in irgendeinem Straßengraben, ertranken vielleicht in diesem Augenblick und sie lag hier im Bett und versuchte zu telefonieren. Oder sie lagen im Krankenhaus, wurden versorgt und ihre Handys hatte man noch nicht aus den Trümmern geborgen. Ja, so konnte es auch sein. Und sie war an dieses Bett gefesselt, konnte nichts tun. Ohne sich etwas davon zu versprechen versuchte sie noch einmal, ihre Schwester zu erreichen und kam durch:
[ 5] »Toni? Was ist passiert? Sag mir die Wahrheit, ich muss sofort wissen, was los ist, sonst werde ich verrückt! Ich halte das nicht aus, diese Ungewissheit! Nun sag mir doch bitte, was los ist! Warum seid ihr noch nicht da? Warum geht Emma nicht an ihr Handy? Gib mir Emma, ich will mit meiner Tochter reden! – Wie bitte? – Nicht da? – Wo – bitte – ist – meine – Tochter – JETZT!?«
[ 5] Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, fühlbare Stille. Ramona sah sich bestätigt in ihren schlimmsten Befürchtungen: Es musste etwas passiert sein, sonst hätte es Toni nicht die Sprache verschlagen. Sie versuchte, sich zu beruhigen, atmete tief ein und aus:
[ 5] »Du hast es vergessen. Gib's zu! Wo bist du? Wo ist Emma?«
[ 5] »Wenn du mich mal zu Wort kommen lässt, dann kann ich dir alles erklären« kam die wenig überzeugende, kleinlaut klingende Antwort von ihrer Schwester.
[ 5] Ramona war immer noch völlig außer sich, zwang sich aber mit einem langsamen, tiefen Atemzug, zu schweigen: »Ich höre.«
[ 5] Toni erklärte ihr, dass sie etwas zu spät nach Hause gekommen und keine Emma dort gewesen sei. Vielleicht sei sie gleich wieder gegangen. Sie sei zuversichtlich, dass Emma bald käme. Schließlich wüsste ja jeder, wie das sei, wenn man aus der Schule käme, man bummelte hier und trödelte dort, immerhin schiene die Sonne …
[ 5] Ramona hielt es nicht länger aus:
[ 5] »Willst du damit sagen, dass du allen Ernstes glaubst, Emma trödelt seit zwei Stunden irgendwo herum? Sowas macht sie nie! Sie kommt nach der Schule immer sofort nach Hause! Sie will erst mal berichten, was sie in der Schule erlebt hat, dann hat sie Hunger, macht nach dem Essen ihre Hausaufgaben, das habe ich dir doch alles erklärt! Es muss ihr etwas passiert sein, du musst zur Polizei! Oh weh, da bin ich ein-mal-ei-nen-Tag-nicht-da und dann das! Geh sofort zur Polizei, nimm ein Foto mit und ein Kleidungsstück von ihr für die Suchhunde und sag ihnen, sie sollen sofort anfangen zu suchen; wenn Kinder überhaupt gefunden werden, dann in den ersten 24 Stunden, das weiß man doch! Bei mir auf dem Sekretär steht ein aktuelles Foto und im Flur hängt ihre andere Jacke, nimm das beides mit zur Polizei und beeil dich; los, schnell, und ruf mich an, sobald du etwas weißt und auch wenn nicht, ruf mich an, sobald du Zeit dazu hast, beeil' dich!«

Nachdem sie aufgelegt hatte, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren: Freundinnen. Wen konnte man fragen? Mit wem verabredete Emma sich öfters mal am Nachmittag? Aber sie durfte nicht lange telefonieren, musste erreichbar bleiben. Oh, was für ein Unglück! Sie wählte die Nummer von Annika.
[ 5] »Emma? – Nein, die ist nicht hier. Die ist wie ein geölter Blitz nach Hause gerannt heute nach der Schule, da kam niemand hinterher. Hat sich Wunder was eingebildet auf ihre Mathe-Leistung. Jaa, das war schon cool, aber deswegen so einfach abzuhauen. – Nein, keine Verabredung für heute nachmittag. Ich hab ja Tischtennis, da geht Emma schon lange nicht mehr hin. – Keine Ahnung, wo sie sein könnte. Ist sie denn nicht zu Hause angekommen?«
[ 5] Sie versuchte es noch bei zwei anderen Mädchen, deren Nummern sie gespeichert hatte, als Emma dort übernachtet hatte, aber keine wusste etwas. Dann legte sie sich zurück, um zu warten. Ihr Herz klopfte, als wolle es sich aus ihrer Brust befreien. In ihrem Kopf drehte sich alles.
 



 
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