Träume

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Flex

Mitglied
Träume

Früher hatte ich einen knackigen Hintern. Nach 15 Jahren auf dem Bürosessel ist er platt. „Leck‘ mich am Arsch“ bedeutet nun was Anderes.

Acht Stunden sitze ich heute hier in der Arbeit. Und jetzt ist es vorbei. Oder doch nicht. Morgen wiederholt sich das Spiel. Ich sitze in einem Karussell, steige aus, um sofort wieder einzusteigen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mir wird schlecht.

Nicht nur mein Hinterteil wird schlaff. Meine Gehirnwindungen sind träge und sie schreien um Hilfe.

Ich hatte doch Träume? Ich wollte Gutes tun. Menschen helfen, die Welt verbessern. Aber wie soll ich ihnen helfen? Wie kann ich mir helfen?

Ich blicke über die Dächer meiner Stadt; betrete die Terrasse.

In meinen Träumen - als ich klein war - konnte ich doch fliegen.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Die Erzähl-Instanz ist in diesem Text auch gleichzeitig die Hauptfigur - ja sogar die einzige Figur. Sie (die homodiegetische Erzähl-Instanz) ist gefangen im Alltag, wenn man es so nennen will. Arbeit und Arbeit, der selbe Büro-Job Tag für Tag! In einer Spirale von Gedanken beobachtet die Figur die Dächer der Stadt von oben, was bedeutet, dass die Figur sich hoch oben befindet, und geht auf die Terrasse (Achtung: hier stimmt eher Balkon, eine Terrasse befindet sich immer auf dem Boden - daher "Terra"). Der letzte Gedanke, mit dem wir als LeserInnen hinterlassen werden zielt evident darauf hin, dass sich die Figur darüber Gedanken macht, dass sie nicht fliegen kann, also fallen würde, also wenn sie sich vom Balkon stürzen würde, dann würde sie sterben ... (ein Stück weit fließt hier meine Deutung ein.)

Es lässt sich hier sehr viel mit der Perspektive erklären. Wie ich es bisher auch versucht habe. Der Erzählton schwankt zwischen Vergangenheit und Gegenwart - zwischen Erzählung und Beschreibung (so in etwa ...). All das untermauert den Inhalt.

Ein Satz ist ein wenig holprig formuliert:
Acht Stunden sitze ich heute hier in der Arbeit.
Das würde nämlich bedeuten: innerhalb dieses Satzes vergehen acht Stunden - und im nächsten Satz sind diese Acht Stunden plötzlich vorbei:
Und jetzt ist es vorbei.
Willst du so viel Zeit in einem Satz vergehen lassen und dann im nächsten plötzlich nur einen nichtigen Augenblick? Vielleicht ließe sich das umgehen, wenn du stattdessen in der Vergangenheits-Form schreiben würdest: "Acht Stunden saß ich heute hier in der Arbeit."

Außerdem wird mir jetzt erst klar, dass er sich vom Arbeitsplatz-Balkon stürzen möchte. Das macht alles noch weitaus tragischer. Wie viel in diesem Text steckt. Gesellschaftskritik, Spannung, Charakter, eine runde Geschichte, die zum besten Augenblick einsetzt und sehr viel Tiefe gewinnt trotz der Kürze.
 
. Außerdem wird mir jetzt erst klar, dass er sich vom Arbeitsplatz-Balkon stürzen möchte.
Hallo Etma,

wie kommst du denn darauf? Auf die Idee bin ich beim Lesen der Geschichte gar nicht gekommen. Ich habe das ganz anders interpretiert: Als der Protagonist noch klein war, hatte er unglaubliche Träume, glaubte, alles zu können und die Welt zu einem besseren Ort machen zu können. Nun versteht er, dass er nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist und wenn überhaupt, nur sehr sehr wenig bewirken kann. Anstatt zu "fliegen", seine Träume verwirklichen zu können, muss er die Zeit, in der er Gutes tun könnte, am Arbeitsplatz verbringen und für anderes hat er keinen Antrieb mehr, denn danach ist er "platt". Die Weltverbesserung, zu der er so enthusiastisch beitragen wollte, ist auf der Strecke geblieben, im grauen Arbeitsalltag untergegangen. Darüber denkt er nach. So habe ich es verstanden.

Nur weil er auf dem Balkon steht, muss er sich nicht hinab stürzen wollen. "Als ich klein war" passt in diesem Zusammenhang auch nicht dazu. Außerdem wirkt der Text bzw. der Protagonist auch nicht depressiv, sondern "nur" desillusioniert.

LG SilberneDelfine
 
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Flex

Mitglied
Hallo,
es freut mich, dass die Geschichte unterschiedlich gelesen und interpretiert wird. Sie sollte auch beides bieten - abhängig von der eigenen Stimmung.

@Etma: Danke für den Hinweis mit den 8 Stunden, so bewusst war mir das gar nicht. Ich wollte zwar eine drückende Stimmung vermitteln, die dann unterbrochen wird um am folgenden Tag weiterzugehen. Vielleicht werde ich das noch ändern.

Das mit der Terrasse war bewusst gewählt, hier in Wien werden viele Altbauten aufgestockt und der neue letzte Stock hat auch Terrassen. Außerdem sind für mein Empfinden Balkone eher klein gehalten, während Terrassen durchaus weitläufig sein können. Insofern ist das auch eine Öffnung von sehr beschränkt (Arbeit) zu kleiner Öffnung (Terrasse) zu Weitläufigkeit (Dächer meiner Stadt). Der letzte Satz sollte dann je nach Leseart entweder diese Öffnung fortführen (SilberneDelfine), oder aber wie deine Interpretation zeigt zuspitzen.

Ich danke euch für diese Resonanz.

Lg, Jürgen
 
"Terrasse" ist korrekt. Es gibt auch in Deutschland die Einrichtung und den Begriff der Dachterrasse.

Der Text hat auf mich ähnlich wie auf Delfine gewirkt. Ich finde ihn recht gelungen, nur hat er mich - zwangsläufig - auch deprimiert.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Aina

Mitglied
Hallo Flex,
dein Text gefällt mir.
Im letzten Satz liegt zum Glück der Ausweg, der im Titel angekündigt ist. Wer sich an die Träume und Freiheiten in seiner Kindheit erinnern kann, hat die Möglichkeit den tristen Alltag gelegentlich zu verlassen.
Gerne gelesen.
Viele Grüße,
Aina
 

Flex

Mitglied
Hallo Aina,

danke Dir! Und ja ein Erinnern an Träume, als auch an Werte und Einstellungen sehe ich auch als wichtig an. Besonders wenn die Jahre und der Alltag einen manchmal eigenartige Wege einschlagen lässt.

lg
 

Flex

Mitglied
Hallo Lastro,
danke :) Ja etwa wie wenn man in den Bergen durch einen elendslangen Tunnel fährt, der nicht aufzuhören scheint und auf die Ausfahrt mit Blick auf die Berge hofft.
lg
 



 
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