Träumereien einer verlorenen Zukunft

NwernerB

Mitglied

Das ist mein Fenster. Eben

Bin ich so sanft erwacht.

Ich dachte, ich würde schweben…


Der Vogelchor erweist seinem Dirigenten die obligatorische Ehre, ihn spalierstehend mit einem Konzert zu empfangen; die Morgenröte rollt der Morgendämmerung den roten Teppich aus, über den sich das Tageslicht langsam, aber sicher, den Weg zu einer unscheinbaren Hütte bahnt, leise den Dämmerungsdunst mit seinen reinlichen Händen von den beschlagenen Scheiben wischt, sich durch die alten Vorhänge aus undefinierbarer Vergangenheit schlängelt und mich sanft unter den Fittichen meiner nächtlichen Traumlandschaft hervorholt und ins Land der Lebenden zurückgleiten lässt, wo man sehnsüchtig meine Wiederkehr erwartet, auf dass ich aus dem Stoff meiner Träume eine neue Wirklichkeit webe.
Ich wische mir den Schlaf aus den Augen, versuche, sie an die Helligkeit des Tages und meine zurückerlangte Wirklichkeit zu gewöhnen, und lasse meinen Blick durch den vom Sonnenlicht sichtbar gemachten Staubnebel schweifen; die Gemälde an der Wand, direkt gegenüber des Bettes, die nicht schön sind oder zumindest nicht dafür gelten würden, die ich aber trotzdem liebe, weil sie mit Liebe geschaffen worden sind, Artefakte vergangener Inspiration, die erwidern, was ihnen einst gegeben; rechts davon, schräg die Zimmerecke verdeckend, steht eine große, kirschrote Standuhr, ein Erbstück meines mittlerweile verstorbenen Großvaters, die von der Macht der Gewohnheit auf ewig dazu verdammt sein wird, die unwichtig gewordene Zeit anzuzeigen, wo sie doch inzwischen rein dekorative Dienste zu bieten hat: Es ist 06:00 Uhr und ich weiß, dass der Tag mir gehört.
Für ein paar Minuten liege ich wach unter der warmen Bettdecke und kraule die Katze, die es sich auf meinem Bauch gemütlich gemacht hat und nun darauf wartet, dass ich aufstehe und ihren Napf fülle.
Ich setze mich an die rechte Bettkante, die nackten Füße auf den flauschigen Teppich aufsetzend, stehe auf und strecke mich.
Ich gehe um das Bett herum und stelle mich ans Bücherregal, das an der bisher unterschlagenen linken Zimmerwand lehnt; was darf es heute sein?
Gedichte. Zum Wachwerden gibt es nichts besseres, weil sie den träumerischen Geisteszustand, von dem aus man sich langsam zurück ins Wirkliche bewegt, komplementieren und seine Fehler zu ihrem Vorteil auszunutzen verstehen.
Rilke.
Ich drehe mich noch einmal Richtung Bett, wo das Tageslicht sich inzwischen seine neue Muse erwählt hat, und was für eine!, und gehe mit dem Gedichtband unterm Arm durch die Tür in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.
Währenddessen füttere ich die Katze und lausche zufrieden der Stille des Hauses, durch die sich in regelmäßigen Abständen ihr Kauen schneidet, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht allein bin.
Jeder Quadratmeter des Hauses gehört mir, jedes Möbelstück habe ich selbst erwählt, nicht nach Mode und Trend, sondern nach Verstand und Begehren, nach Gefühl und Sehnsucht.
Ich habe mich in sie hineingelegt! Ich habe aus Objekten Subjekte gemacht, weil ich es mir erlauben kann. Sie bleiben bei mir; der Tisch aus massivem Eichenholz, geschreinert von einem alten Schulfreund, das Porzellan der Kaffeetassen und Teller, die durch das Haus verteilten kleinen Lampen und Kerzenständer; sie alle bleiben bei mir, bis ich aus dem Leben schreite, und sie werden zurückschauen und wissen, dass sie treu gedient haben.
Wieviel Geist und Persönlichkeit das zeitlich Geistlose doch haben kann, wenn man nur über genügend Mut und Muße verfügt, sie ihnen zu verleihen.
So sehr wird heute abgeschätzt, Preis um Preis, die Schätze angehäuft und doch vergessen – sie wertzuschätzen.
Ich greife meine Kaffeetasse und gehe mit der mir auf Schritt und Tritt folgenden Katze auf die Terrasse, nehme einen heißen Schluck und beginne mir, eine Zigarette zu drehen.
Ich zünde sie an, und sogleich verklärt der blaugrau glänzende Qualm den mir verheißenen Blick in die Ferne, macht ihn sich zu eigen, und verschleiert die Zukunft auf eine Art und Weise, die nicht ängstigt, sondern Neugierde weckt; gestern, heute, morgen, alles Mysterien, rauchverschleierte Geheimnisse, die es zu lüften gilt.
Die Segel setzen und aufs offene Meer hinausfahren, ohne zu wissen, wohin, lediglich weil der Wind so gut weht und steht, ohne zu wissen, wozu, ziellos reisen, ohne deshalb umherzuirren.
Auf der Wiese tanzen die orangen, roten, lila Schmetterlinge wild umher, vermengen sich mit den farbenfrohen Frühlingsblüten und verbreiten die frohe Kunde der Natur Wiederauferstehung, die Vögel fliegen und flattern flügelschlagend zwischen Nest und Nahrungssuche umher und richten sich in alten und allzu jungen Bäumen auf ein fruchtbares und langes Jahr ein, die Natur bereitet der eigenen Lebhaftigkeit ein festliches Willkommensschauspiel.
Wie reich die Welt uns doch beschenken würde, wenn wir uns nur besser aufs Nehmen verstünden!
Die Höllentore sind verschlossen und alle Teufel weilen unter uns; doch auch die Himmelspforten sind verschlossen und alle Engel leben unter uns.
So schleichen also die Morgenstunden dahin, jeden Tag auf die gleiche, doch nie dieselbe Weise, Details lassen einen das Leben spüren, schulen mich im achtsam sein und lehren Dankbarkeit, Selbstgenügsamkeit.
Vergänglich ist die Lebenslust im Überdruss, der todesträchtige und sterbenssehnsüchtige Bergbezwinger steigt nur höher, um noch tiefer zu fallen.
Alles hat, wem nichts zum Wünschen übrigbleibt.
Ich genieße Kippe und Kaffee, kraule indes die Katze, begebe mich darauf wieder nach innen an den Küchentisch und lausche der morgendlichen Stille eines noch nicht gänzlich erwachten Hauses, wo der Geist zur Ruhe kommt, und auf der Stelle tritt, auf dass er an Tiefe gewinnt, sich selbst auf den Grund geht.
Irgendwann waren zwei Menschen verschiedener Meinung, der eine lebte so, der andere so, und beide hießen sie ihre Lebensweise die richtige. So suchten sie nach Gleichgesinnten, auf dass nicht mehr Aussage gegen Aussage stünde, und so kam es, dass Mehrheit und Wahrheit synonym wurden.
Heute sage ich: Lebt, wie ihr wollt, aber lebt echt! Lebt leidenschaftlich! Lebt, als gäbe es kein Morgen, als gäbe es kein Gestern!
Es wird Zeit, dass ich mich an die Arbeit mache, an meine selbsterwählte, zu deren Ausübung ich mich selbst berufen habe; an den Schreibtisch im Wohnzimmer setze ich mich gespitzten Bleistifts und geschärften Sinnes, und führe mein Herz zum Aderlass auf Papier.
Rot. Immer dasselbe Rot.
Während ich Seite um Seite rotstreiche, kommt sie zur Tür herein, den Sonnenschein, ihren treuen Begleiter, mit sich führend, stellt sich neben mir an ihre Staffelei und tut es mir gleich.
So sind wir nun also schöpferisch und schaffenssehnsüchtig beisammen und genießen die einsiedlerische Zweisamkeit, in der man die Stille zelebriert, in der man einander ohne Worte Werke schafft.
Jeder Pinselstrich und jeder Buchstabe gilt nur mir und ihr und selbst des Herzens Blutvergießen wird zur Schöpfungskraft, macht Blutsbrüder aus Seelenverwandten, deutet Hinterwäldler zu Unterweltsergründern um.
Hier werden Fehltritte nicht gescholten oder gar vergolten, ihnen wird applaudiert, weil sie bloße Vorboten zukünftiger Geistessprünge, Verkünder des Anfangens Größe sind; es ist gewiss noch kein Meister vom Himmel gefallen, doch so mancher in ihn aufgestiegen, geistesblitzend und donnergrollend von den Schicksalsstürmen emporgetragen.
Ewig bin ich mich nach mir selbst am Recken und Strecken, fremde Einflüsse am Niederstrecken.
Und die eben erst erlernte Nachsicht wird zum Leitfaden meines Lebenslaufs, vorbei sind die Zeiten, in denen ich der Welt mein Klageliedständchen hielt, gekommen der Tag, an dem ich allen Göttern und Götzen von droben und drunten meine Liebe erkläre, sie in meine Danksagung miteinbeziehe, weil sie mir die schlechte Welt überlassen, in der am Morgen nichts gewiss ist, als dass es – eins gibt!
Jede Stunde, die sie mir vermeintlich schenkten, segnet das Zeitliche, siecht dahin, und wir tanzen Freudensprünge, schlagen Räder und Purzelbäume.
Es gibt wieder eine Welt zu gewinnen! Man hat uns die Zeit gestattet, sie zu retten! Den Menschen zu lieben, einander zu lieben, sich im Anderen zu suchen, finden, verlieren und verleben.
Und wir unverbesserlichen Weltverbesserer machen uns ans Werk, lechzen danach, die gesamte Menschheit mit Poesie und Malerei zu erlösen und ein neues Zeitalter der Nächsten- und Fernstenliebe einzuläuten.
Mit Federn und Pinseln, Tinte und Farbe, Inspiration und Ambition bis an die Zähne bewaffnet ziehen wir gegen jedes große und kleine Verbrechen in den Krieg, auf dass beim Klang unserer Namen eines jeden Verbrechers Zähne klappern und Knie schlottern mögen, der spitze Pfeil der Moral ihnen das Herz zerschießt und sie Buße tun.
All das sind ehrenwerte Absichten löblicher Leidenschaften; Aufgaben, deren täglich Brot der Weltschmerz ist, der auf Dauer zäh zu kauen und hart zu verdauen sein wird, bis man sich an ihm auch noch den letzten Zahn ausbeißt.
Mit ganzem Geiste, doch nur halbem Herzen sind wir bei der Sache, weil unser Lebenswerk, unser Opus magnum, einen anderen Namen trägt: Luna.
Getauft vom Mondlicht, in dem sie geschaffen, spiegeln sich in ihrem Gesicht die Sonnenstrahlen wider, die jder schwärmerisch warme Blick ihrer Mutter auf sie wirft.
Wir ziehen eine kleine Philosophin groß, die keine gute Tat unbelohnt, kein Zeichen der Liebe unerwidert lässt, die einmal sich selbst und der Welt genügen wird, die nie ausgelernt haben wird, stets voll Neu- und Wissbegierde schafft und entdeckt, liebt und verlebt, was uns versagt blieb. Um Lunas willen suchten wir einander im Anderen, die Natur vererbte ihr die Augen ihrer Mutter und die herzzerreißenden Lachfalten und Sommersprossen sowie meinen guten Riecher, mit dem sie gleich einem Spürhund jede Lüge entlarvt, physiologisch ist sie ganz unser Kind, psychologisch aber ist sie das Kind, das wir einst hätten sein können, wenn unsere Eltern den Bann brechen, den Lauf der Generationen früher hätten unterbinden können.
Nun leben wir nach einer durch die Gezeiten hindurch verblassten Gebotstafel: Auf dass es unsere Kinder einst besser haben werden!
Jeden ihrer Geburtstage verbringen wir im Schatten des Baumes, den wir an jenem Frühlingstage gepflanzt, an dem sie zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte, lachend an seinem Stumpfe lehnend, der Erdbeeren süße Röte auf der Zunge schmeckend, und ritzen ein weiteres Mahnmal der Vergänglichkeit in seine Rinde und bewundern sein Frühlingskleid, welches er genauso oft getragen, wie Lenze Luna eigen sind.
Jahr um Jahr zieht ins ferne Land, das sie das Leben nennen, Luna entwickelt sich prächtig und jeder freche Wort und unschuldige Lächeln lässt uns daran zweifeln, ob wir je zuvor tatsächlich geliebt haben, ob nicht jede Umarmung, jeder Gutenachtkuss nur Vorbereitung war auf dieses besondere Geschenk.
Jede neue Liebe fühlt sich wie die erste, doch diese wie die ewig letzte an.
Geben ist seliger als Nehmen, und deshalb hätten wir stolzer nicht sein können, als auch Luna anfing, zu geben, die Schuld der Welt zu begleichen, mit ihren Freunden zu teilen und die Wahrheit zu sprechen, von ihrem ersten Kuss mit knallroter Farbe im Gesicht zu erzählen, von ihrer ersten Liebe, die noch lange nicht die letzte gewesen sein wird.
Eines Morgens findet sie die Katze tot auf der Terrasse liegen, ihre erste Begegnung mit dem ewigen Gleichmacher, und da wussten wir, dass sie unser Meisterwerk ist, dass jedes vorherige in den Schatten stellt; sie trauerte, sie weinte, und dann sprach sie die Worte: Ich werde sie vermissen, doch nicht so sehr, wie wenn ich sie nie gekannt hätte.
Ein Kind, das auch im Schlechten noch das Gute sieht; es wäre unanständig, noch mehr vom Leben zu verlangen.
Wir haben die Welt nicht gerettet, aber wir haben unsere gerettet, wir haben Luna vorbereitet auf alles, was noch kommen mag, und doch hinterlassen wir ihr eine etwas bessere Welt; wir schauen den Berg hinauf auf schneebedeckte glänzende Gipfel, die unbekümmert jedem um sie tosenden Gewitter zu widerstehen vermögen, und gerade, als wir den Mut sinken lassen wollen, ruft Luna nach uns, die uns auf Schritt und Tritt folgt, und fahren herum; wir blicken in den Abgrund – und sehen den Boden nicht! Wie weit wir doch gekommen sind!
Und bald wird auch mein letzter Lebenswind verwehen und mein Lebensabend im auf dem Sterbebett vergehen, der Vorhang fallen und die Sonne untergehen.


Und wer eben noch gewacht

Ist nun gen Traum am Streben;

Bis wohin reicht mein Leben,

und wo beginnt die Nacht?
 



 
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