Trampen nach Norden

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Trampen nach Norden

„Unter mir Meer und über mir Nacht und Sterne.“

La Paloma - Song von Hans Albers in „Große Freiheit Nr. 7“

Sommer 89

Der Suchscheinwerfer der Küstenwache gleitet über den Strand. Ich versuche mich in meinem Strandkorb so klein wie möglich zu machen, aber ich weiß, es wird mir nichts nützen. Bald werden sie kommen und mich verhaften und mir vorwerfen, dass ich über das Meer abhauen will.

Drei Monate darauf fiel die Mauer. Keiner hatte es jetzt mehr nötig, bei Nacht und Nebel mit dem Boot in den Westen zu rudern, denn endlich konnten alle, die es schon immer wollten, dieses geheimnisvolle weiße Schiff besteigen, das mich immer an den Weißen Dampfer von Djingis Aitmatov erinnerte.

Früher haben meine Mutter und ich immer, wenn wir die Sommerferien in der großen Stadt mit Überseehafen und Werft verbrachten, ehrfurchtsvoll vom Strand aus dabei zugesehen, wie die Fähre nach Gedser, einer Stadt an der dänischen Küste, dabei war, ins offene Meer zu stechen, und in die ferne, unerreichbare Welt entschwand, aus der Bluejeans und die Rolling Stones kamen.

Das letzte Mal war ich vor acht Jahren hier.

Heute wollte ich eigentlich bloß hier übernachten. Seufzend stehe ich auf und gehe, am Alten Strom an den Fischerkähnen entlang, in Richtung Bahnhof. Wie immer stinkt es hier gewaltig.

Die S-Bahn fährt um diese Tageszeit nur noch in großen Abständen, aber ich habe Glück. Mit diesem Doppelstockzug mit den grünen Kunstlederbänken sind meine Mutter und ich hunderte Male an den Strand gefahren. Auf der Hinfahrt standen wir immer zusammengepresst wie Ölsardinen inmitten der Menschenmassen, die es ans Meer zog.

An einer Station in den Randbezirken steige ich aus. Ich bin die Einzige, die hier den Zug verlassen hat, und gehe die Treppe runter, die zu dem Tunnel führt, der die Hochhäusersiedlung mit dem Bahnsteig verbindet. Meine einsamen Schritte hallen dumpf durch die Unterführung.

Mir ist etwas mulmig. Als ich noch ein Kind war, ging im Barnstorfer Wald, in dem ich aber noch nie war, mal ein Vergewaltiger um. Eine Polizistin lief nachts durch dieses Gelände, als Lockvogel, und sie kriegten ihn. Ich malte mir immer aus, wie es gewesen wäre, wenn sie mich an ihrer Stelle da lang geschickt hätten: Es ist nachts. Du bist allein im Wald. Irgendwo lauert der Mörder. Was, wenn die anderen nicht schnell genug sind?

„Er soll erst fünfzehn sein, und sein Vater ist ein ganz hohes Tier.“, erzählte meiner Mutter unsere erste Zimmervermieterin, die am Kröpeliner Tor wohnte, mitten in der Stadt. Als hohe Tiere galten bei uns Leute wie Staatsanwälte, ein General oder ein Professor.

In dem Tunnel, durch den ich gerade gehe, hatte Dio, der hier aufwuchs, mit vierzehn einen Selbstmordversuch unternommen. Er zeigte mir eine Narbe an seiner Hand. Ich vermutete Liebeskummer. Da lag ich falsch. „Jemand hat Lügen über mich verbreitet, und keiner von meinen Kumpels wollte mehr was mit mir zu tun haben.“ Zum Glück fanden sie ihn, und die anderen entschuldigten sich, und nahmen ihn wieder auf in ihre Mitte.

Ich hatte seine Clique und Dio, den man sich von der Statur her so vorstellen muss, wie den Sänger der gleichnamigen Band, der auch kein großer Mann war, in Berlin in der Straßenbahn kennengelernt. An mein Ohr drangen die Laute des vertrauten Heimatdialekts und ich fragte: „Seid ihr von der Küste?“ So kamen wir ins Gespräch. Sie waren zu einem Fußballspiel ihrer Mannschaft hier. „Kannst du uns für eine Nacht bei dir unterbringen?“

Die Jungs von der See, besuchten mich noch oft und brachten immer neue Landsleute mit. Sie stammten alle aus demselben Stadtbezirk in der großen Stadt mit Werft und Hafen, wo die meisten von ihnen auch arbeiteten, und in dem es nur hohe Neubaublocks gibt.

Einmal klopften zwei von ihnen an, als ich gerade zur Arbeit musste. Als ich abends wiederkam, saßen sie vor dem Fernseher. Es lief „Flucht in Ketten“. Ich gesellte mich zu ihnen, und wir drei Landsleute schauten zusammen einträchtig diesen Film. Wenn man am Schluss, wo aus der Ferne schon das Bellen der Hunde zu hören ist, sieht, wie Noah einen Gospel singt und dabei seinen weißen Freund in seinen Armen hält, dann haut mich das jedes Mal um.

Die Amis hatten mal eine Phase, wo sie geniale Filme gemacht haben. Damals waren die Regisseure und Schauspieler noch „Am Leben“, wobei ich das nicht im wahrsten Sinne des Wortes meine. Es war noch die Zeit, als sie Ideale hatten, bevor sie fünfmal geschieden waren und die Millionen für ihre Ex, die die besseren Anwälte hatte, zusammenkratzen mussten, und jeden Scheiß drehten.

„Das kenne ich auch.“ Der Kumpel von Dio zeigte auf „Der alte Mann und das Meer“, das bei mir im Regal stand. Ehrlich gesagt, hatte ich das Buch gar nicht bis zum Schluss gelesen, sondern nur durchgeblättert. Es deprimierte mich zu sehr, mir vorzustellen, dass einem am Ende, denn das Buch entpuppte sich als ein Gleichnis auf das Leben, nur ein paar abgenagte Fischgräten bleiben.

In ihrem Stammlokal in der großen Stadt am Meer, aus der sie kamen, gab es auch ein paar Tische, an denen immer die Intellektuellen saßen. „Da sitzen sie, nippen an ihrem Glas Wein, und kritzeln Papiere voll.“ sagt sein Freund. Seine Stimme hat einen leicht angepissten Ton. Dio pflichtet ihm bei.

Ich tippe auf schlechte Erfahrungen. In den Augen der Kulissenschieber, die sich schon als Theaterregisseure sahen, oder sich schon zum achten Mal für das Psychologiestudium beworben hatten, ein unerfüllter Traum für viele, die bei uns den Intellektuellen raushängen ließen, waren die beiden Prolls, und sie sahen auf meine Freunde herab.

„Hemingway hat auch oft in Cafés geschrieben.“ erwidere ich. „Du musst auch immer das letzte Wort haben.“ sagt er lachend.

Aber ich konnte ihn verstehen. Die hochnäsigen Leute, bei denen man das Gefühl hatte, dass sie einen verachteten, und in deren Gegenwart man sich klein und hässlich fühlte, hatte ich erst in Berlin kennengelernt, vorher kannte ich, die aus einem kleinen Dorf in Norddeutschland war, keine Intellektuellen.

Nicht alle waren so, und es gab bestimmt auch ein paar wirkliche Künstler darunter. Aber wem gefällt es schon, so von oben herab behandelt zu werden. Die einzigen Intellektuellen, die ich kannte, waren die aus dem Jugendfilmklub, einer Fernsehsendung, die von 1974 bis 1978 einmal im Monat kam, ein längeres Leben war ihm nicht vergönnt. Danach haben sie ihn verboten, er war ihnen wohl zu subversiv. Ich wurde dadurch zum Filmenthusiasten gemacht.

Man sah freimütigen, langhaarigen Berliner Oberschülern, die ich bewunderte, und die nur wenig älter waren als ich, dabei zu, wie sie vor der Kamera des DDR-Fernsehens saßen, und schlau über „Für die Liebe noch zu mager“ diskutierten, ein Film, der leider bald danach verboten wurde, weil die Musik von Renft war, einer in Ungnade gefallenen Band.

Außer dem Film über amerikanische Kids in einem Feriencamp, die Büffel befreien wollen, dem über den Jungen, der seine Opa beerdigen musste, und deshalb nicht mit dem Sintimädchen vom Rummel mitziehen konnte, und bei dem sie sich darüber stritten, ob es richtig gewesen war, dass er dafür die große Liebe geopfert hat, ist mir noch der über Gija im Gedächtnis haften geblieben.

In einem verrückten Film aus Tbilissi namens „Die Singdrossel“ lief ein gutmütiger Jedermannsfreund und Bruder Leichtfuß durch die Straßen und Plätze und am Ende vor ein Auto. „Das bin ich ja.“ dachte ich. Das traumtänzerische an dem Typen erinnerte mich fatal an mich selbst. Manche Menschen werden vom Gefühl gesteuert, und manche entscheiden alles nur nach dem Verstand. Die ersteren sollten sich vor den letzten in Acht nehmen.

Die Runde junger Filmfreaks fragte sich: Wollten sie mit seinem frühen Tod rüberbringen, dass ein Typ wie er zum Scheitern verurteilt war? Und ist der Nagel, den der hilfsbereite Menschenfreund Gija noch kurz vorher in die Wand geschlagen hatte, damit sein Freund den Hut an ihn hängen kann, alles, was von dem Helden übrigblieb?

Ich hatte den Film schon gesehen, konnte aber nicht schlau draus werden, aber jetzt verstand ich ihn.

Alle in der Runde stritten sich die Köpfe heiß darüber, ob die Gesellschaft so einen wie den Filmhelden braucht, auf den der Spruch aus der Bibel zutrifft: „Seht die Vögel am Himmel. Sie sähn nicht, sie ernten nicht...und Euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ (Nach Matthäus). Früher, in unserem Sozialismus, sollte man doch immer unbedingt ein nützliches Glied der Gesellschaft werden. Irgendwelche exaltierten Millionärserben gab es bei uns nicht.

Warum hatten die Russen so einen schrägen Film durchgelassen? Die Zensur musste gepennt haben. Glasnost war eigentlich noch in weiter Ferne.

Im Jahre 2007, dreißig Jahre nach dem Verbot des Jugendfilmklubs, hat einer aus der Truppe, der Regisseur geworden ist, einen Film**** darüber gedreht, was seine Freunde heute so machen, die damals in den Siebzigern eine hippiemäßig angehauchte Truppe hoffnungsvoller Intellektueller waren.

Natürlich war der eine davon bei der Stasi, der hübscheste war schwul, ist Schauspieler geworden, und an Aids verstorben. Ein Pärchen bekam ein Kind. Die inzwischen erwachsene Tochter kannte ihren Vater, obwohl der inzwischen zu Gott gefunden hatte, aber genauso wenig wie ich meinen, und sah ihn das erste Mal in dem Video, als der Filmemacher es ihr vorspielte.

Wenn ich in der Großstadt aufgewachsen wäre und nicht in einem Dorf in Mecklenburg, wäre ich bestimmt eine Möchtegernintellektuelle geworden, und meine erste Liebe hätte ich in der Bibliothek kennengelernt. Er und ich, beide einen großen Bücherstapel unter dem Arm, und null Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, hätten uns, bevor wir uns das erste Mal geküsst hätten, zuerst über unsere Lieblingsbücher den Mund fusselig geredet.

In meiner Dorfschule kannte ich bloß Jungs, die einem an der Kleidung zerrten und zwischen die Beine griffen.

Die Pubertät machte die Jungen aus meiner Klasse zu unangenehmen Zeitgenossen. Wenn ich mich morgens in meine Schulbank setzte, fuhr mir sofort die Hand meines Nachbarn zwischen die Schenkel und der, der hinter mir saß, fing an, an meinem BH zu ziehen. Die Lehrer halfen einem nicht. Sie taten so, als wenn sie nichts mitkriegen würden.

Ich weiß noch wie heute, welcher Schreck mich immer befiel, wenn ich sah, wie unser Polytechniklehrer seine Zigaretten und sein Feuerzeug nahm. Er ging dann vor die Tür der Werkstatt, um einen Schwatz zu halten. Ich fühlte, wie mir meine Felle davonschwammen. Sofort wurde ich von den Jungs aus meiner Klasse umringt, die an meiner Kleidung zogen und meinen Körper befummelten. Hier vor dem Schraubstock, in den wir seit Monaten immer dasselbe Stück Blech einspannten und befeilten, hatte ich leider keine schützende Schulbank im Rücken. Von den anderen Mädchen hatte ich nichts zu erwarten. Im Gegenteil, sie signalisierten den Jungen durch ihr Schweigen ein geheimes Einverständnis.

Ein rabenschwarzer Tag war für mich ein Sommertag, als ich in der achten Klasse war. Unserer Klasse kam gerade von einem Arbeitseinsatz zurück. Ich freute mich, dass ich ein paar Mark verdient hatte, aber meine Freude währte nicht lange. Wir fuhren mit einem sogenannten Aufsatzbus. Unser Klassenlehrer saß vorne in der Fahrerkabine. Die Stimmung war ausgelassen. Ich lachte über einen Witz. Plötzlich umringten mich vier Jungen aus meiner Klasse und hielten mich an Armen und Beinen fest. Ich konnte mich nicht mehr rühren. Sie spreizten mir die Schenkel und zogen meinen Slip bis zu den Füßen runter. Die Anderen aus meiner Klasse, auch die andern Mädchen, versuchten nicht, mir zu helfen. Im Gegenteil, ich spürte ein geheimes Einverständnis. Auch meine Schulfreundin, oder die, die ich dafür hielt, half mir nicht. Sie gönnte es mir wohl.

Ein Hindernis wäre aber mein Musikgeschmack gewesen. Die Liedermacher, die die Intellektuellen bei uns meist hörten, ödeten mich an. Mich zog es dahin, wo aggressivere Töne gespielt wurden, und im Theater, wohin sie immer gingen, kämpfte ich immer nach der großen Pause mit dem Schlaf.

Diese Bibliotheksliebe ist mir nicht vergönnt gewesen, und statt mit intellektuellen Jungs mit langen Haaren saß ich immer nur mit unserer Bibliothekarin allein da. Ich kannte keine Jungs, die lasen, wie die im Jugendfilmklub.

Die Bücherei von unserem Dorf, ein Raum in der Schule, war mein zweites zuhause. Die alte Frau Meyer, alt war sie eigentlich noch gar nicht, man nannte sie bloß die alte, weil es noch eine junge Frau Meyer gab, ihre Schwiegertochter, mochte mich.

Ihr Enkel war in meiner Klasse.

Früher war er mein Spielkamerad gewesen, und wir waren beim Gummitwist ein unschlagbares Team. Später, in der Pubertät, schlug seine Freundschaft ins Gegenteil um, und er stachelte die anderen gegen mich auf. Auch zog er, der in der Bank hinter mir saß, immer an meinem BH-Verschluss, und betastete meine Brüste. Das war aber nichts Besonderes. Die Jungs auf dem Dorf waren alle sehr brutal. Ich dachte immer, dass ich später mal einen von ihnen heiraten muss.

Ich war ihre beste Leserin. Die Leute im Dorf schmunzelten immer schon, wenn sie mich mal wieder mit einer schweren Tasche aus der Bibliothek kommen sahen. „Na Mädchen, was schleppst du denn da wieder?“ Stundenlag saß ich nachmittags allein mit ihr in der Bibliothek, es kamen wenig Besucher, und schwang altkluge Reden, während sie kaputte Bücher reparierte.

In dem Lieblingsbuch von ihr, das ich natürlich auch gelesen habe, ging es um ein Indianermädchen und einen jungen, blonden Biologen, der sich um Seevögel kümmert. Das klingt jetzt schlimmer als es war. Das Buch las sich eigentlich ganz flüssig.

Meine Bibliothekarin, die seit langem Witwe war, träumte von der Liebe. Aber es ist wohl nur beim Träumen geblieben. Da musste sie wohl ihre überschüssige Liebe auf ihre Enkel, darunter auch mein boshafter Klassenkamerad, der mir immer Schimpfworte hinterherrief, konzentrieren. Er, der für mich ein unangenehmer Bursche war, wurde von ihr mit der instinktiven Liebe, die Großmütter denjenigen, die ihre Linie fortsetzen werden, entgegenbringen, geliebt.

Sie war eine Flüchtlingsfrau und erzählte mir von ihrer Heimat, dem Sudetenland. Wenn ich ein paar Kinderbücher ausgesucht hatte, behauptete ich immer, dass ich auch für meine Mutter etwas zu lesen mitbringen soll. Aber meine Mutter las nie etwas. In Wirklichkeit wollte ich bloß an die Regale hinten ran, wo sich die Bücher für Erwachsene befanden.

So kam ich schon mit elf, zwölf mit Weltliteratur wie Moravia, Zola, Tolstoi, Hemingway in Berührung. In diesen Büchern gab es natürlich Sexszenen. So erzeugten diese Bibliotheksbesuche bei mir eine gewisse Frühreife.

Ich glaube, die intelligente Frau Meyer hat gewusst, dass die Bücher nicht für meine Mutter gedacht waren. Aber wer weiß, vielleicht sah sie sich selbst ein bisschen in ihrer treusten kleinen Leserin. Ihre eigenen Enkelkinder und ihr Sohn, ein mürrischer Bauarbeiter, waren in dieser Hinsicht eine Enttäuschung. Sie hatten mit Büchern nichts im Sinn.

Meine norddeutschen Landsleute aus der großen Stadt am Meer, die mich immer in Berlin besuchten, waren sehr trinkfest. Einmal standen sie sogar mit einem Kasten Bier vor meiner Tür. An die Apfelweinorgie möchte ich gar nicht zurückdenken. Er war bei uns im Osten der einzige Wein, der billig war, und deshalb schwer zu beschaffen. Wenn ich ihn im Gemüseladen in unserer Straße sah, kaufte ich immer gleich eine ganze Batterie Flaschen, die lange reichen sollten.

Als die rauen Küstenbewohner ihrer ansichtig wurden, konnten sie nicht widerstehen, und auch ich trank mit. Leider hat Apfelwein, die Eigenschaft sehr zu drehen. Dio und die anderen gingen zum Fußballspiel von ihrer Mannschaft in einem Berliner Stadion. Ihnen, die das Trinken gewohnt waren, machte das nichts aus, aber ich kotzte mir die Seele aus dem Leib. Seitdem habe ich nie wieder Apfelwein angerührt.

„Meine Mutter war fünfmal verheiratet.“ erzählte Dio. Meist waren es Seemänner, die nie da waren, aber sehr gut verdienten. Seine Geschwister hatten alle einen anderen Vater. Seinen richtigen Vater kannte er zwar, im Gegensatz zu mir, aber nur als Kumpel aus der Kneipe. Ich, die alleine mit ihrer Mutter aufgewachsen war, beneidete Dio um seine bunte Familie.

„Mit vierzehn hatte ich meine erste Freundin.“ erzählte er mir.

Mein erster hieß Bernd Benschik. Seinen Namen weiß ich eigentlich nur dadurch, weil am schwarzen Brett im Studentenwohnheim in Biesdorf ein Zettel hing, auf dem stand, dass der Bauarbeiter Bernd B betrunken im Studentenwohnheim randaliert hat. Dort wohnten zu der Zeit auch Arbeiter von außerhalb zusammen mit den Studenten.

Er stammte aus der großen Stadt am Meer, in die ich früher immer in den Sommerferien gereist bin. Unsere ähnliche Mentalität war wohl auch der Grund für die unbewusste Anziehung, die zwischen uns bestand. Schon merkwürdig, dass mein erster ausgerechnet ein Landsmann von mir war, der mir hier in Berlin über den Weg gelaufen war.

Uns hatten sie während des FDJ Studentensommers dorthin für zwei Wochen umgesiedelt, da aus unserem Wohnheim in Lichtenberg in der Zeit ein Touristenhostel wurde.

Im Keller gab es einen Klub, wo wir uns über den Weg liefen.

Oben in meinem Zimmer hielt ich ihm eine Tüte Kirschen hin. „Was soll ich mit Kirschen?“ lehnte er meine Offerte ab, und ging lieber gleich zur Tagesordnung über. Seine Devise war: „Hier wird gerudert und nicht geschludert.“

Er fand es nicht normal, dass ich mit neunzehn noch Jungfrau war, und sah mich skeptisch an. Mädchen ohne Vater fangen wohl entweder zu früh oder zu spät mit der Liebe an.

Es lief auch nicht wirklich unkompliziert, so stellte ich mir eine Abtreibung ohne Narkose vor, und ich hatte erst mal für eine Weile die Nase voll vom Sex.

Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es einem Dreizehnjährigen aus der Provinz ähnlich erging, der extra nach Berlin fuhr, um sein Coming Out zu erleben. Hier strich er um die U-Bahn am Alexanderplatz rum, ein Schwulentreff, und wurde auch bald angesprochen, von einem Bauarbeiter, der sich nicht mit Gerede aufhielt, sondern Nägel mit Köpfen machte, wie meiner.

Leider erwies sich sein erstes Mal ebenfalls als sehr unangenehm, wobei bei ihm eine andere Körperöffnung als bei mir beansprucht wurde, und er konnte eine Weile nicht mehr sitzen, während ich etwas breitbeinig lief, und war auch fürs erste bedient von der körperlichen Liebe.

Wir können doch froh sein, dass wir unsere Bauarbeiter haben. Ihre Leistungen kann man gar nicht genug würdigen. Tagsüber klettern sie auf Leitern rum und auf wackeligen, ungesicherten Gerüsten, oder man sieht sie auf der Straße stehen, wo sie mit beiden Händen ihren Presslufthammer fest umklammert halten, und in ihrem sauerverdienten Feierabend laden sie sich noch die verantwortungsvolle Aufgabe auf ihre, in seinem Fall nicht so breiten Schultern, Anfänger der Liebe beiderseitigen Geschlechts von ihrer Unschuld zu befreien.

Aber wieder zurück zu meinem Kumpel Dio. „Zitronenlikör.“ dachte ich. „Wieso ausgerechnet Zitronenlikör? Das trinkt doch kein echter Norddeutscher. Wenn es wenigstens „Küstennebel“ gewesen wäre.“ Er hatte mir von dem gemeinsamen Leben mit seiner Freundin erzählt, die einen kleinen Sohn hatte. Er hatte sie betrogen. Aus Kummer leerte sie, die sonst nichts trank, eine ganze Flasche Zitronenlikör, und er fand sie schlafend im Sessel, alle viere von sich gestreckt, die Flasche neben sich.

Sie liebte ihn wohl. „Echte Gefühle sind selten.“ habe ich mal bei Proust gelesen.

Ich wunderte mich, dass er sein Familienglück so leichtsinnig in den Wind geschossen hatte.

Sie konnten in der Wohnung von einem Kumpel leben, der bei der Armee war. Sie waren neunzehn, spielten Familie, und saßen nach der Arbeit vor dem Fernseher.

„Unsere Lieblingssendung war die Sendung mit der Maus.“ Ich, die ohne Westfernsehen aufgewachsen war, kannte diese Sendung zwar nicht. Aber bei seiner Kleinfamilie wäre ich gern mal Mäuschen gewesen.

Für eine kurze Zeit lebte er auch in Berlin, bei einem Freund, der auch aus seiner Stadt stammte. Aber die Hauptstadt war nichts für ihn. Er kam mir vor, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Er braucht seine Heimat, seine Kumpels, seine Familie.“ dachte ich. Berlin war nicht sein Pflaster. Mir dagegen gefiel es in dieser Stadt. „Hier bin ich richtig.“ ging es mir durch den Kopf, gleich als ich das erste Mal aus dem Zug stieg, und die ganzen verrückten Leute, die auf der Straße rumliefen, sah. An mein Dorf dachte ich nur mit Grausen.

Man hatte das Gefühl, er verlor sich hier zusehends. Wie viele der Männer, die harte Musik hören, sehnte er sich in Wirklichkeit nach heiler Welt. Die war unter uns, die aus der ganzen DDR stammten, und in Berlin - von jeher ein Sammelplatz für Leute, die dort, wo sie her waren, nicht so reinpassten - auf uns selbst angewiesen, von der Hand in den Mund lebten, schwer zu finden. Da suchte er genau an der falschen Stelle.

Jeder machte auf cool, was aber in Anbetracht der Schwierigkeiten, die sich auftürmen, wenn man ohne viel Connections in der Großstadt anlandet, nicht leicht durchzuhalten war. Warum legen ausgerechnet die Leute am meisten Wert auf Coolness, die es nicht einfach haben, und stoßen mit ihrer unnahbaren Art viele vor den Kopf? „Vielleicht ja gerade deshalb.“ dachte ich.

Das war damals nur ein kurzes Zeitfenster, in dem einem die Freundschaften einfach so zufielen. Wir dachten aber, dass es immer so sein würde. Das entpuppte sich als Fehleinschätzung. Langsam wurden wir auch älter und erwachsener, womit viele nicht klarkamen in einem Umfeld, in dem die Jugend angebetet wurde.

Das norddeutsche Gemüt neigt wohl zu Frustration und Traurigkeit. Dio hatte den Küstenblues. Diese Traurigkeit, die ich an ihm wahrnahm, kannte ich von meiner Mutter, ebenfalls einer echten Nrddeutschen. Mein Großvater war genauso.

Irgendwie hielt meine Mutter sich wohl für zu kurz gekommen im Leben.

Besonders mit ihrer Tochter fühlte sie sich bestraft. Neidisch verfolgte sie das Leben der, in ihren Augen, besser gelungenen, Töchter ihrer Kollegen und Bekannten. Ihr größtes Ziel im Leben war es, so wie alle zu sein, und ihre größte Befürchtung war, was die Leute denken. Aber so richtig scheint ihr das nicht gelungen zu sein. Sie war ja nicht verheiratet, was ein Zeichen dafür sein kann, dass man nicht so richtig in seine Umgebung passt.

Ich glaube, Dio ist „Hoch im Norden“, wo wir herkamen, und er auch seit langem wieder ist, besser aufgehoben und gehört da hin. Vielleicht ist er ja jetzt Leuchtturmwärter.

Viele von meinen Freunden zog es, so wie ihn, nach einer Weile in ihre Heimat zurück. Meist verschwanden sie einfach so. Oft fehlten sie mir dann, deren Gegenwart ich vorher als selbstverständlich genommen hatte.


Sommerferien am Meer

„Heimat, Nie tauschte ich dich gegen leichtere Tage ein. So wie man die Mutter zum Tausche nicht gäbe drein. So wie man in der Liebe weiß um den sicheren Hort...“ Diese Worte der lettischen Dichterin Árija Elksne las ich in der „Sowjetliteratur, einem Magazin, das ich mir immer im Zeitungskiosk am Strand kaufte, wenn wir in den Sommerferien ans Meer fuhren

Mit meiner Liebe zu meiner mecklenburgischen Heimat war es nicht weit her. Ich träumte nur davon, mich aus dem Staub zu machen. „Du hast es ja auch getan.“ erwiderte mein Freund mir, als ich ihm davon erzählte. So hatte ich das noch nie gesehen.

Schon auf der Jugendweihefahrt wollte ich verschwinden. Dann hätte das damals noch gar nicht so große Berlin eine dreizehnjährige Neubürgerin gehabt.

Und mit meiner Mutter verstand ich mich auch nicht besonders. Und mit dem sicheren Hort in der Liebe ist es auch so eine Sache.

Wenn wir in den Sommerferien in die große Stadt am Meer fuhren und bei unserer Bekannten in dem Hochhaus übernachteten, lag ich immer in der gleißenden Sonne am Strand, langweilte mich grässlich und blätterte in dieser Zeitschrift namens „Sowjetliteratur“ mit Gedichten, Bildern und Geschichten. Sie wurde wohl am Kiosk nicht übermäßig nachgefragt, denn sie lag immer in der Auslage, und war meist schon ganz ausgebleicht von der Sonne.

Die Geschichten fingen immer so an: „Wohin gehen sie Afansi Afanasjewitsch?“ sagte sie zu dem weißhaarigen Mann. Neben ihm stand der dreibeinige Hund Petja und wedelte mit dem Schwanz.“

Ich wunderte mich, dass die Russen zu Eis immer Speiseeis sagten, Konfekt kiloweise kauften und Töpfe als Kasserollen bezeichneten. Das verwechselte ich immer mit Kasematten, was Knast bedeutet. Außerdem fachten sie ständig den Samowar an und tranken Tee durch einen Zuckerwürfel. Und was ist eigentlich Zichorie?

Die Maler und auch die Dichter waren von der Moderne völlig unangekrankt, und schrieben noch so wie zu Tolstois Zeiten, Salinger, Hemingway oder Garcia Marquez hatten sie wohl noch nie in der Hand gehalten, und sie malten wie Ilja Repin, weshalb alles ein bisschen antiquiert wirkte. Wahrscheinlich ließ die Zensur nichts Schräges durch. Aber trotzdem waren manche Geschichten ganz gut. Zu der Zeit war ich ein Teenie, und natürlich interessierten mich am meisten die Liebesgeschichten. Ich hatte die Erwartung, dass das Leben, das vor mir liegt, eine einzige Liebe sein wird.

Besonders die eine Story ist mir in Erinnerung geblieben. Eine junge Frau kommt braungebrannt aus dem Urlaub. Auf dem Flughafen lernt sie einen Lehrer kennen. Eigentlich hatte sie sich, die in einem winzigen Dorf der riesigen Sowjetunion die Poststelle führt, schon damit abgefunden, sitzengeblieben zu sein.

Die beiden heiraten, und sie wird schwanger. Schüler spielen ihrem Mann einen Streich und erschrecken sie dabei so, dass sie ihr Kind verliert. Nach einer Weile erzählen die Leute im Dorf ihr, dass ihr Mann eine andere hat, und sagen ihr, wo die beiden sich treffen.

Sie geht da hin und sieht das Pärchen Arm in Arm. Nach der Scheidung trägt sie ihr Schicksal tapfer und hat sich damit abgefunden, nie mehr eine Familie zu gründen, weil es dort keine ledigen Männer gibt, und außerdem heiratet da sowieso keiner eine Frau über Dreißig, die außerdem noch geschieden ist. Das sollte es also mit der Liebe gewesen sein.

Ihre Geschichte hatte mich schwer erschüttert. Sie hatten einen mattgesetzt, und dann erwarteten sie auch noch von einem, dass man sowas gut fand.

„Aus dieser Misere könnte sie nur noch der „Regenmacher“ retten.“ geht es mir durch den Kopf. Der gleichnamige Amifilm, den ich mal vor langer Zeit im Fernsehen sah, ist aus den Fünfzigern, und hatte mich schwer beeindruckt.

Ein Mann, den sie Starbuck nennen, kommt in ein abgelegenes Städtchen von Kansas, wo eine Dürre herrscht, und behauptet von sich, Regen herbeizaubern zu können. Natürlich geht das nicht. Dafür erweckt er Lizzie, eine Frau, die kurz davor ist, eine alte Jungfer zu werden, zu neuem Leben.

Ich habe nie verstanden, warum Lizzie den Polizisten geheiratet hat. Wenn es nach mir gegangen wäre, ich hätte den Regenmacher, der ein Menschenfreund war, genommen. Und was fand er eigentlich an Lizzie? „Bestimmt sehnt er sich insgeheim nach bürgerlichem Glück.“ ging es mir durch den Kopf.

Solche „Regenmacher“ gibt es viel zu wenig, meine Mutter hätte auch einen gebraucht.
„Vielleicht werde ich auch eine alte Jungfer.“, dachte ich. Meine Mutter hatte ja auch keinen Mann.

Traurige Frauenschicksale schienen auf einen zu lauern. Frauenschicksale, die von der Gnade von Männern abzuhängen schienen. So stellte sich das der Autor dieser Story in der Sowjetliteratur, ein russischer Obermacho, jedenfalls vor. Das man immer gleich so am Arsch ist, wenn ein Mann einen verlässt. Was würden Emma Goldmann, Simone de Beavoir und Shulamit Firestone dazu sagen. Ich war damals erst sechzehn, glaubte an den Kommunismus und dachte naiv, dass sich mit der Erstürmung des Winterpalais auch die Situation für die Frauen entscheidend verbessert hätte.

Ich habe mal im Fernsehen eine Sendung über Mädchen gesehen, die einfach nichts mehr essen wollten. Keiner konnte sich erklären warum, auch ihre Mütter waren ratlos. Ich dagegen wusste es. Mir war klar, dass sie keine Frauen werden wollten, und mit Hungern die Entwicklung weiblicher Formen unterdrückten. Das war ihre Art der Rebellion.

Von dem Frauendasein versprachen sie sich nicht allzu viel Gutes. Sie sahen, auch am Beispiel ihrer Mütter, dass das Frauendasein Anpassung bedeutet.

Ich konnte sie verstehen. Auch mir erschien die Frauwerdung so, als wenn sie einen in ein enges Korsett einschnüren und die Bänder dabei nach und nach immer mehr zuziehen.

Hinter mir am Strand wurde gelacht. Ich schaue ärgerlich von meiner Sowjetliteratur auf und bemerke das Mädchen, das in einer Bude an der Strandpromenade Bratwürste verkauft und ihren Freund. Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Die beiden laufen Hand in Hand ins Wasser und kugeln sich danach lachend im Sand. „So lässt man sich das Leben gefallen“, denke ich. Heute kann ich es ja zugeben: ich benutzte sogar einen Taschenspiegel, um dem interessanten Treiben zuzuschauen.

Irgendwo musste ich es ja lernen, aber natürlich haben sie nicht ... Ich kam aus einer matriarchalisch geführten Familie, in der keine Männer stattfanden. Auch die beste Freundin meiner Mutter war alleinerziehende Mutter, unsere beiden Rostocker Zimmervermieterinnen ebenfalls. Und mein Opa, den ich alle Jahre mal dabei erleben konnte, wie er mürrisch am Küchentisch saß und mit der Welt über eins war, riss es auch nicht raus.

In den Ferien schlief ich immer zwischen ihm und seiner zweiten Frau auf der Besucherritze, horchte misstrauisch auf ihre Atemzüge, während die Wanduhr schlug und bildete mir ein, dass ich morgens zwischen zwei Leichen aufwache. Das kam daher, weil sie über nichts anderes als über Krankheiten redeten. Aber der Sensenmann, den sie schon dicht auf ihren Fersen wähnten, ließ noch lange auf sich warten.

Meine Oma wurde 98 und mein Großvater 85. Warum hast du Opa geheiratet?“ fragte ich meine Oma. „Weil ich Witwe war und er ein Witwer, der eine Haushälterin brauchte, haben wir uns aus Vernunft zusammenschreiben lassen.“

Wenn ich mir die beiden so ansah, nahm ich mir vor, dass ich mich später von nichts anderem als von der reinen Leidenschaft leiten lassen würde.

Noch interessanter als die junge Bratwurstverkäuferin und ihren Freund fand ich ein Pärchen, beide höchstens siebzehn, die ein kleines Kind dabeihatten, das genauso aussah wie die Mutter. Sie knieten unbeweglich voreinander im Sand und schauten sich verzaubert in die Augen. Die Sprache der Liebe schien Schweigen zu sein. Neben ihnen spielte ihr Kind. Ich schaute verstohlen rüber. So stellte ich mir die Liebe vor.

Der Stadtbezirk, durch den ich in dieser Nacht im letzten Sommer vor dem Fall der Mauer laufe, ist mir vertraut. Hier war ich oft in den Ferien, da hier die Frau mit ihren beiden Töchtern wohnte, die uns immer ein Zimmer vermietete. Sie war vor ihrem Umzug in die Hochhaussiedlung, die Nachbarin unser ersten Wirtin am Kröpeliner Tor gewesen. Sie kam aus demselben Dorf wie wir, und meine Mutter und ich waren für sie ein Stück Heimat.

Betty und Marie, beide lieblich und sanftmütig und ein paar Jahre jünger als ich, waren meine Freundinnen, und ich nannte sie, bei denen ich schon dabei zugesehen hatte, wie sie als Babys auf dem Küchentisch ihrer Oma in der Wanne gebadet wurden, meine beiden Mädels. Ihre Großmutter war in unserem Dorf meine Kinderfrau gewesen. Ich liebte sie wie Schwestern.

Leider mussten sie bald nach unserer Ankunft immer für drei Wochen ins Betriebsferienlager und danach noch in ein anderes von der Schule, und zum Schluss waren noch zwei Wochen FDGB Heim mit ihrer Mutter dran. Die ganzen herrlichen acht Wochen Sommerferien waren verplant. Ihre Mutter hielt die Leinen kurz. Sie, die alleinerziehend war, wollte nichts falsch machen, und hatte Angst, dass Betty und Marie bei zu viel Freiheit in der großen Stadt auf die schiefe Bahn geraten, und zu früh mit der Liebe anfangen.

Misstrauisch beobachtete sie die Mädchen, die unten am Fuße der Hochhäuser mit Jungs zusammenstanden, oder die mit einem Ghettoblaster auf der Tischtennisplatte saßen, und die Beine baumeln ließen.

Sie dachte da bestimmt an Gesine, die Tochter der Nachbarin aus ihrer alten Wohnung am Kröpeliner Tor.

Diese zog ihre Tochter auch allein groß. Als Gesine in die Pubertät kam, drehte sie völlig ab, riss von zu Hause aus, schwänzte die Schule und landete in den Fängen der Schwarzen Pädagogik. Aus dem Jugendwerkhof, in dem man sie einsperrte, brach sie immer wieder aus, und die Polizei fragte bei ihrer Mutter nach.

Wenn sich die Erwachsenen über Gesine unterhielten, hörte ich Ausdrücke wie Streunerin, Herumtreiberin und leichtes Mädchen. Ich dagegen hatte mich in die lustige Gesine, die sich sehr um mich kümmerte, vernarrt, obwohl ich erst fünf war und sie achtzehn, und wollte deshalb auch ein „Leichtes Mädchen“ werden. Endlich interessierte sich mal jemand für mich, die sonst immer nur missmutig als fünftes Rad am Wagen hinter den Erwachsenen herlief. Ich konnte nie begreifen, wie ihre mürrische Mutter zu ihrer vor Leben sprühenden Tochter gekommen war.

Harte Sitten damals bei uns in der DDR. Die Zustände, die in diesen Werkhöfen herrschten, kamen erst nach der Wende ans Licht der Öffentlichkeit. Meine Mutter hatte mir davon erzählt, dass auch mein Vater eine Weile als sogenannter „Erzieher“, ein passenderes Wort dafür wäre bestimmt Gefängniswärter gewesen, in so einem Werkhof gearbeitet hat. Ihn, der verheiratet war, haben sie dahin strafversetzt, nachdem ihr Verhältnis aufgeflogen war.

Vielleicht hat die Mutter von Betty und Marie mit der Kontrolle ein wenig übertrieben, denn es könnte der Grund dafür sein, dass die beiden jetzt weit entfernt von ihr und der großen Stadt an der Küste leben.

Ich brachte sie morgens immer zum Bus. Sie stiegen mit wenig begeisterten Gesichtern ein. Ich konnte sie verstehen, denn ich kannte Ferienlager. Drei Wochen mit ständigem Badeverbot, Magenknurren, Doppelstockbetten, Lungenhaschee, Mückenstichen und ätzender Langeweile lagen vor ihnen. Das Essen war meist so schlecht gewesen, dass wir uns abends, wenn wir im Bett lagen, immer gegenseitig sehnsüchtig etwas von knusprigen Eierkuchen und Schokoladenpudding vorgeschwärmt haben.

Trotz der Mühseligkeiten hatten diese Aufenthalte doch etwas Gutes für mich gehabt, denn im Schwimmlager wurde ich aufgeklärt, wie Kinder entstehen, von einem Mädchen, die im Doppelstockbett über mir schlief, und dessen Mutter damit unverklemmter umging als meine. Ihr Liebesleben war Dorfgespräch. Ich hätte nie vermutet, dass ein gewisser Körperteil, den ich schon öfter bei Jungs gesehen hatte, dabei Bedeutung hat. Meine Mutter, die mir auf meine Fragen etwas vorgelogen hatte, wollte sich bei dieser Frau beschweren, anstatt ihr dankbar zu sein.

Und mit zwölf, im Ferienlager auf dem Darß, wurde durch das Gerede der anderen, die alle aus der Großstadt waren, und mit ihren Erfahrungen angaben, mein Interesse für Zungenküsse geweckt. Kurz darauf konnte ich das mit eigenen Augen sehen. Es war in Leipzig, und wir kamen gerade von der Kleinmesse, einem Rummel. In dieser Stadt hatte meine Mutter studiert, und es zog sie immer wieder hierher.

Interessiert beobachtete ich einen Mann und eine Frau, die sich küssten.

Das Bild, wie die beiden engumschlungen an der Straßenbahnhaltestelle stehen, die Frau sich zu dem Mann hochreckt, und wie er sich zu ihr runterbeugte, werde ich nie vergessen. Und ich sah es mit eigenen Augen. Die Frau hatte dem Mann ihre Zunge in den Mund gesteckt. Eine Ahnung der Lust wehte mich an.

In meinem letzten Ferienlager, es war auch an der Ostsee, auf Rügen, und ich war mit fünfzehn die älteste, kletterten nachts immer ein paar Jungs in unsere Baracke. Eigentlich hatte fast jede einen Freund.

Das war harmloser, als es sich anhört. Ich glaube, da passierte nicht viel, obwohl, ich weiß es nicht. Es ging in erster Linie um Nähe. Sie kuschelten wohl nur, und es wurde nach dem kleinen Unterschied getastet. Bestimmt sind sie später gute Ehefrauen und Stützen der Gesellschaft geworden, und denken noch manchmal, wenn sie in ihrem Büro sitzen, oder vor einer Schulklasse stehen, denn Kinder ergreifen ja oft den Beruf ihrer Eltern, und das Ferienlager war von der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, an unser Ferienlager der Liebe zurück.

Im Grunde waren wir alle brave Mädchen, was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man mit dem Lehrer zusammen am Frühstückstisch sitzt. Da kann man es seinen Eltern nicht antun, dass einem vor dem Fahnenappell ein Tadel ausgesprochen wird, weil man in der großen Pause hinter dem Geräteschuppen geraucht hat.

Wenn wir abends in unseren Doppelstockbetten lagen, unterhielten wir uns über die Liebe, die ja noch vor uns lag. Die jüngste von uns, sie war dreizehn, und hatte die größte Klappe, behauptete sogar von sich, keine Jungfrau mehr zu sein. „Mein Freund ist achtzehn und Lehrling bei der Werft. Er hat mir gesagt, ich bin noch zu jung dafür.“ Aber sie setzte sich durch. Das Mädchen kam übrigens auch aus der Stadt am Meer, in der ich immer in den Sommerferien war.

„Kennt ihr den Film „Die letzte Vorstellung“?“ fragte sie. Sie, als Tochter eines Schuldirektors, durfte bestimmt bei sich zu Haus keine Westfernsehen kucken, obwohl man das in der großen Stadt am Meer empfangen konnte, und es alle in ihrer Klasse sahen. Aber vor kurzem war dieser amerikanische Film von Peter Bogdanovich an einem Sonnabendabend im ersten DDR Programm gelaufen, und hatte mich gründlich verstört. „Habt ihr auch gehört, wie das Bett geknarrt hat? wollte sie von uns wissen.

Ich sah die Frühreife ein paar Jahre später am Strand in ihrer Stadt wieder, da war sie siebzehn und hochschwanger, was mich auch nicht wunderte. Da hatte sie also rechtzeitig vorgesorgt, dass wir Fischköpfe nicht aussterben.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich verrückt nach Filmen bin?

Wir konnten zu Hause nur das erste Programm aus dem Osten empfangen. Nachmittags im Ferienprogramm liefen immer russische Filme. Ich vergoss Tränen bei „Die Kraniche ziehen“, oder bei Filmen über den kleinen Trompeter und seine Genossen, die alle Aussagen in der Gestapohaft verweigerten. Im Abspann stand dann immer, in welchem Konzentrationslager der Held gestorben war.

Das war wohl alles ein bisschen geschönt. Nach der Wende konnten Historiker in den Gestapoakten lesen, wie sehr die Reihen des Widerstandes von Spitzeln unterwandert waren.

Sie waren Menschen mit Fehlern und Schwächen wie alle, und nicht die in Stein gemeißelten unbeugsamen Helden auf den Statuen, die bei uns im Osten an jeder Straßenecke standen.

Ich muss dem Fernsehen bei uns ein Lob aussprechen.

Zu der gleichen Zeit, in der meine zukünftigen Kumpel, die ich später in Berlin kennenlernen sollte, und die in Gegenden von Ostdeutschland aufwuchsen, wo man Westfernsehen empfangen konnte, sich mit dem Robocop- und Terminatorquatsch die Gehirnzellen verkleisterten, sah ich im Ostfernsehen die ganzen geilen Sachen: den italienischen Neorealismus von de Sica und Passolini mit „Fahrraddiebe“ und „Rocco und seine Brüder“, „Il Conformista von Bertolucci, die Amis mit „Wer hat Angst vor Virginia Wolff“, den genialen Tennessee Williams Verfilmungen wie „Die tätowierte Rose“, „Der Mann in der Schlangenhaut“, das junge lateinamerikanische Kino mit „Orpheu Negro“, die ganzen Stanley Kramer Sachen wie „Das Narrenschiff“ oder „Nur Pferden gibt man einen Gnadenschuss“ von Sydney Pollack, oder „Harold und Maud“ von Hal Ashby. Meine Lieblingsschauspielerin war Jane Fonda, ich wollte immer so schön sein wie sie. Ich hielt sie für eine Rebellin, und war schwer enttäuscht von ihr, als sie einen Milliardär heiratete. Schauspieler werden wohl oft mit ihren Rollen verwechselt.

Und diese Filme liefen immer zur besten Sendezeit, sonnabends nach der bunten Sendung. Zur selben Zeit, in der ich in der filmischen Hochkultur schwebte, hatten sich Kumpels von mir, die Westfernsehen empfangen konnten, den Kopf mit Müll vollgestopft.

Ein Freund aus Berlin, mit dem ich mal eine Weile zusammen war, wir hatten uns kennengelernt, als ich eines Nachts in Halle in der Bahnhofs Mitropa strandete, und zwei junge Männer mit langen Haaren, die auch ihren Zug verpasst hatten, sich zu mir gesellten, wollte, dass ich mit ihm in seiner Wohnung „Goldfinger“ anschaue, seinen Lieblingsfilm, den er schon fünfmal gesehen hatte. „Wie kann man nur so einen Quatsch kucken?“, staunte ich.

Damals war ich ihm gegenüber wohl zu überheblich. Er war mal eine Weile sehr dick gewesen, und hatte bestimmt als molliger Teenager James Bond um seine Chancen bei Frauen beneidet.

Ohne Fernsehen hätte ich mir mein Leben gar nicht vorstellen können. Es war für mich, die auf dem Dorf aufwuchs, mein Auge in die Welt. Bevor meine Mutter einen Fernseher anschaffte, da war ich acht oder neun, verliebte ich mich immer in Schülerinnen von ihr. Ich wusste es nicht besser. Ich hatte kein Vorbild für eine Mann Frau Beziehung. Ich lernte die Liebe aus dem Fernseher.

Ich winkte Betty und Marie, die ins Ferienlager fuhren, hinterher. Der Abschied brach mir das Herz, denn ich würde meine beiden Lieblinge erst im nächsten Sommer wiedersehen.

Aber bestimmt trafen sie ja nach drei Wochen, den Kopf angefüllt mit neuem theoretischem? Wissen über Kusstechniken und die Funktion gewisser Körperteile, wieder in ihrer Heimat ein.

Ich liebte die beiden Mädchen und auch unsere Zimmervermieterin.

Die Mutter von Betty und Marie, die mehr eine Intellektuelle war, würde bestimmt nichts dagegen gehabt haben, wenn sie beruflich in eine künstlerische Richtung gegangen wären. Aber eine Karriere beim Film hätte ihnen nicht offen gestanden. Wie sollte das gehen? Bei ihnen wurde der Fernseher fast nie eingeschaltet, so dass ihr Wissen auf dem Gebiet der Filmkunst sich in Grenzen hielt. Warum ihre Mutter das verboten hatte, konnte ich nicht verstehen.

wird fortgesetzt
 
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