Trauer

Am Morgen

Sie wachte auf.
Sie machte den Abwasch und das Frühstück: Rührei und eine große Tasse Kakao. Ein Lied summend, schob sie das Rührei auf seinen Lieblingsteller und stellte ihn auf den Tisch, auf seine Lieblingsseite, zwischen Gabel und Tasse.
Ein paar Minuten später kam er aus dem Bad, gut und frisch riechend, und setzte sich an den Tisch. Lächelnd saß sie neben ihm und schaute zu, wie er aß. Er liebt Rührei, dachte sie.
"Willst du noch welche? fragte sie, als der Teller leer war.
Er schüttelte den Kopf und wischte den Mund mit einer Serviette ab. Stand auf, öffnete den Kühlschrank und nahm einen Schluck kalte Milch, direkt aus der Packung. Dann durchquerte er das Wohnzimmer, schwang die Tasche über die Schulter, öffnete die Wohnungstür und trat heraus.
"Ich liebe dich", sagte sie.
Aber er war schon weg.


Am Mittag

Sie machte die Wohnung sauber.
Sie machte das Bett und moppte den Boden. Dann saugte sie, putzte die Fenster und wusch ihre Wäsche. Als sie fertig wurde, war es schon fast halb zwei. Er müsste schon längst zu Hause sein, dachte sie. Warum ruft er nicht an?
Sie öffnete den Schrank im Schlafzimmer und nahm ein dickes Album heraus. Sie blätterte Seite um Seite um, betrachtete die Fotos, umrandete die winzigen Gesichter mit ihrem Zeigefinger, Fotos von ihrer Hochzeit, Fotos von ihren Reisen. Nach all den Jahren, dachte sie, sieht er noch immer gut und stark aus.
Sie berührte ihr Gesicht und verzog es wegen der vielen Falten und tiefen Augenringe, die sich in letzter Zeit sichtbar machten.
Sie setzte sich aufs Sofa, und wartete.


Am Abend

Er kam spät nach Hause, zerknittert und dreckig.
"Du bist spät", sagte sie und stand auf.
Er zog die Schuhe aus, schälte die Socken von den Füßen und steckte sie fest unter die Schnürbänder.
"Du hättest anrufen können", sagte sie, als sie die Schuhe von ihm entgegennahm.
Er schleppte sich durchs Wohnzimmer, seine nackten Füße quietschten wie Mäuse.
"Du hast bestimmt Hunger. Ich mache dir was zum Abendbrot."
Er drückte die Türklinke herunter, trat ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu.
Sie wollte anklopfen aber änderte dann ihre Meinung. Statt dessen starrte sie auf die Türklinke, stand da wie eine Tonfigur während ihr die Schuhe aus den Händen rutschten, sich in der Luft drehend als würden sie nie zu Boden fallen, gefangen in einem bestimmten Moment der Zeit.
"Liebst du mich denn nicht?"


In der Nacht

Sie schaute im Dunkeln fern.
Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie ging zur Tür hinüber, klopfte und wartete auf seine Antwort. Als sie keine erhielt, öffnete sie die Tür und trat ein.
Er saß vor dem Computer, Hände auf der Tastatur, Augen den Bildschirm fixierend. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante.
"Was machst du?" fragte sie während sie eine Nadel aus ihren Haaren zog und es auf die Schultern fallen ließ.
Er hustete und nahm einen Schluck von dem roten Zeug in seinem Glass.
Während wie zuschaute wie er trank, zog sie ihr T-Shirt über den Kopf und stand auf, ihre nackte Brust sank gegen ihre Rippen. Sie stellte sich hinter ihn, lächelte und streichelte seinen Hals.
Mit einem finsteren Blick wich er von ihrer Hand zurück und schlug die Hand auf den Tisch. Das Glas wackelte, fiel um und das rote Zeug lief über die Tischkante und auf den Teppichboden.
"Bitte, tue mir nicht weh!" rief sie, schlang ihre Arme um ihn und drückte ihre Brust gegen seinen Rücken.
"Bitte Mama". Er schloss die Augen und verkrampfte die Hand zur Faust. "Bitte hör auf."
"Liebst du mich denn nicht?"
Sie schluchzte und schaukelte ihn wie ein Baby.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aua!

zuerst dachte ich, das wird so eine wald und wiesenalltagsgeschichte, aber der schluß! das haut einen vom sockel. haste sauber hinbekommen. ganz lieb grüßt
 
G

Guest

Gast
Klasse Schluss!

Also, ich dachte ja erst, hier kommt jetzt die Szene, wo er ihr seine Untreue beichtet. Halt die klassische Herz-Schmerz-Szene mit bekannten Folgen. Wäre dann bestimmt auch eine gute Story geworden, aber ohne den Effekt, den du mit deinem Ende ausgelöst hast, wo du dem Leser prompt zeigst, in welcher Verbindung die beiden Personen stehen.
Herrlich, ich mag die Geschichten mit Knalleffekt, sie haben eine gewissen Nachwirkung, es bleibt etwas haften!
Dein Schreibstil gefällt mir ebenso. Er ist kurz und zackig ohne aber trocken zu wirken, sondern lebendig u. aufschlussreich!
Schön, wenn du die Leselupe mit noch mehr solcher Stories bereichern würdest!!!
Viele Grüße,
Guido
 
T

Tenshi

Gast
wow!

Hallo!

Na, das nenn ich doch mal eine Kurzgeschichte nach klassischem Muster! Ich hab sonstwas gedacht, was da nun Schreckliches kommen könnte (rote Flüssigkeit? Ist es gar ein Vamir?), aber auf die letztendlich Lösung bin ich nicht gekommen!
Wow! Wirklich toll und absolut lesenswert mit einem tollen Überraschungseffekt am Ende!

Ich frage mich nur, ob die Story nicht noch besser wirken würde, wenn Du sie im Präsens geschrieben hättest. Dann ist man als LeserIn noch näher am Geschehen dran und wird vielleicht sogar noch intensiver überrascht.

Gibt's noch mehr solcher Geschichten? Wäre wirklich klasse!

Lieben Gruß zur Nacht
Tenshi
 

rustin parr

Mitglied
hmm

Nicht so konsquent, wie ich es erwartet hätte. Anfänglich dachte ich: "Na, ob das gut geht?"
Später dann kam mir in den Sinn, dass diese Sprache Absicht sei. Da hieß es dann Umdenken. Aber "Das rote Zeug" ist nunn wirklich ein bisschen viel. Es steht doch fest, dass es sich um Wein handelt, sobald man den Satz liest, warum schreibst du es dann nicht? Die Pointe am Ende ist in Ordnung.
Du hast anscheinend einen Blick für Momente, aber sprachlich gibt es da Einiges zu verbessern.
 
Thanks for reading and commenting.

@Rustin: Wär nett, wenn Du bezüglich des Sprachstils ein bisschen konkreter werden könntest...ich habe bewusst eine einfache Sprache gewählt, um das Alltägliche dieser Situation zu reflektieren. Wo gehe ich zu weit, was ist sprahlich "unschön", etc?

S
 

rustin parr

Mitglied
worte, alles voller worte...

Halli hallo

Vielleicht hab ich mich da ein wenig verhauen.
Ich meine, dass deine anscheinend bewusst gewählte Einfachheit der Sprache ein bisschen zu einfach gehalten ist.
Am meißten stieß mir tatsächlich "das rote Zeug" auf, und das anscheinend so sehr, dass ich das verallgemeinert hab.
Was mir nicht so gefällt, sind die vielen Satzanfänge mit "Sie machte..." und Ähnliches.
Das ist zwar am Anfang ganz witzig, aber auf Dauer...
Ansonsten, wie gesagt: mir gefällt's.
 
Rustin,

ok, trotzdem danke, dass Du noch mal geantwortet hast :) Mit dem "roten Zeug" meinte ich eher so was wie Vodka Blutorange, der Junge ist so um die 17 (ich weiß, dass kann man aus dem Text eher nicht erfahren), und ich dachte mir, dass Jungs in dem Alter sowas trinken... für die Mutter ein "unbekanntes" Getränk, deshalb die Formulierung...aber ich ändere es glaube ich trotzdem, danke :)

S
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

ich würde das rote zeug lassen, es trägt zur stimmung bei. zu genaue definition kann manchmal zerstören. ganz lieb grüßt
 
G

Guest

Gast
Hin und Her!

Also, ich finde es völlig wurscht, ob da nun "rotes Zeug" , "Wein" oder "Blutorange mit irgendwas" steht. Darum geht es hier doch nicht! Wichtig ist doch die Pointe am Schluss! Details sind ja wichtig, aber auch hier sollte man fleißig Abstriche machen, um am Ende das Thema nicht zu sehr in den Hintergrund geraten zu lassen.
 



 
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