Traum eines Adligen

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Mein Name ist Götz von Hintersinnen, ich bin zweiundfünfzig Jahre alt und letzter Spross derer von Hintersinnen. Sollte sich nichts Gravierendes in meinem bisherigen Verhalten in Bezug auf Fortpflanzung ändern, bliebe es dabei. Das wäre ganz im Sinne meines verstorbenen Vaters. Der hatte vor Jahren schon einmal mit dem Gedanken gespielt, das von aus dem Namen zu streichen, damit wäre die Adelslinie schon mal formal hinfällig gewesen. Seine geschiedene Frau, meine Mutter, stört ihn dabei nicht, sie ist ohnehin eine Bürgerliche. Die hat er gezielt so ausgesucht; denn er hat panische Angst vor den genetischen Folgen der häufig in europäischen Adelshäusern praktizierten Form der Dynastiebewahrung, der Endogamie. Mit drastischen Beschreibungen von bizarren Folgen genetischer Verwerfungen europäischer Adelsgeschlechter etablierte mein Vater verstörende Schreckenszenarien in seinem Umfeld. Obwohl als Adelshaus seit Generationen unbedeutend, ist unser Gen-Pool vererbungstechnisch eng mit dem Hochadel europäischer Fürstenhäuser verbandelt. Für meinen Vater, als dogmatischen Alt-68er, wäre alleine schon das Eliminieren des von im Namen ein sinngebender Schritt gewesen. Mit viel Überredungskunst gelingt es seinem Lieblingsonkel Baldur damals, dieses zu verhindern.

Mein aktuelles Leben spielt sich weit entfernt von der oft als feudal vermuteten Lebensart eines Adligen ab. Ich würde es als wenig aufregend, eher langweilig bezeichnen. Einzig ein besonderes Traumerlebnis bringt etwas Bewegung in die festgezurrten Strukturen meines gelebten Alltags. Seit einiger Zeit stören des Nacht ungewohnte Abläufe die Welt meiner Träume. Und hier ist es ein einziger, immer wiederkehrender Traum, mit dem ich mich jetzt schon seit über sieben Monaten täglich beschäftigen muss. Es ist keineswegs einer von der grusligen Art, eher einer bedrückender mit erträglichem Verlauf, weil er nie ein böses Ende nimmt: Ich träume regelmäßig, ich wäre schwanger. Ich wache jeden Morgen mit diesen Eindrücken auf, glücklicherweise musste ich in diesem Traum bisher den Geburtsvorgang nicht durchmachen. Das Traumthema als solches stört zwar meine Gefühlswelt; es sind jedoch dessen Klarheit und die penetrante Regelmäßigkeit, die mich belasten.

Mit anderen Menschen mag ich nicht darüber sprechen. Nur einer einzigen Person habe ich mich bisher anvertraut, sehr verhalten, und nur über die Häufigkeit dieses Traums, über den Inhalt mag ich zunächst auch mit ihr nicht im Detail reden. Es handelt sich um die Gleichstellungsbeauftragte des Amtes, in dem wir beide beschäftigt sind, Agnes Wohlmuth. Nach äußerem Anschein ist sie etwas alternativ angehaucht, auf mich wirkt sie vertrauensvoll und empathisch. Bei einer unserer Begegnungen in der Cafeteria berichte ich ihr irgendwann dann doch vom Inhalt des Traums; zuerst zögerlich, dann erfährt sie alle Einzelheiten. Mit ihrem gutgemeinten Ratschlag, es doch mal mit Traum-Yoga zu versuchen, kann ich mich nicht anfreunden; denn ich bin schon mehrfach am Erlernen des normalen Yoga gescheitert. Agnes spürt an dieser Stelle meine Skepsis, sie ist deswegen aber keineswegs enttäuscht. Ihren Rat, mich an den auf Traumdeutungen spezialisierten Psychologen Dr. Beowulf Stollenbruch zu wenden, der in der Nachbarstadt seine Praxis hat, nehme ich dankend an.

Einige Wochen später habe ich meinen ersten Termin bei Dr. Stollenbruch. Er ist mir sofort sympathisch: Ein Mittfünfziger von hagerer Gestalt, mit schütteren, weißen Haaren und freundlichen, lebhaft blickenden Augen hinter einer runden Nickelbrille – mehr Klischee für einen Psychomann geht kaum. Und er kann gut zuhören. Ich beschreibe ihm ausführlich mein Traumproblem, er schreibt viel mit, nickt hin und wieder und fragt mich dann über mein Leben aus. Aha, letztes Glied in einer langen Ahnenkette, die Ängste meines Vaters - das sind schon mal Anhaltspunkte für ihn. Dann seine vorläufige Diagnose: eine partielle mentale Anomie in Verbindung mit diffusen semi-fluiden Interaktionen bei der Problembewältigung. Kommt selten vor, ist aber behandelbar, so der Therapeut. Erfolge durch eine Selbstbehandlung, wie mit Traum-Yoga, schließt er aus. Und im Übrigen, Männer mit Schwangerschaftstraum gibt es häufiger, als man glauben würde, meint er. So. Das lasse ich mir erst einmal auf der Zunge zergehen, ich habe so meine Zweifel, behalte sie aber für mich.

Ich bleibe weiterhin sein Patient, ich möchte diesen quälenden Traummarathon endlich beenden. Nach vielen intensiven Gesprächen, sehr einseitigen, denn Beowulf hört überwiegend nur zu, kommt der Durchbruch. Die reine Gesprächstherapie wird später um Hypnose-Séancen erweitert. Und dann wird Dr. Stollenbruch fündig. Er stellt fest, dass es in der Welt meiner Träume einen Traum hinter dem Traum gibt. Es müsse zu einer Fraktur dieser Hybrid-Träume kommen. Ich schaue mit Befremden in sein freundliches Therapeutenantlitz. Mein erster Gedanke ist: “Der hat einen an der Waffel.” Dennoch höre ich weiter zu, und das, was er mir nun erklärt, klingt gar nicht mal so schräge. Er glaubt erkannt zu haben, ich träume die Ängste meines Vaters weiter und hätte dadurch eine unbewusste Furcht vor Nachkommenschaft entwickelt. Nach vielen quälenden Sitzungen, mit und ohne Hypnose, dann die Erlösung: Der mich so lange stark belastende Traum mit der Schwangerschaft ist gänzlich verschwunden, die Verbindung zu den Ängsten meines Vaters ist gekappt. Ich habe in der Folge nur noch normale Träume, mitunter auch bedrückende, aber alleine der Wechsel der Inhalte bringt mich in Hochstimmung, welch eine Befreiung!

Im Laufe der vielen Wochen intensiver Gespräche hat sich zwischen mir und Beowulf eine Freundschaft entwickelt. Eines Tages lädt er mich für den darauffolgenden Sonnabend zu sich nach Hause ein. Aromatischen Kardamom-Tee soll es geben, dazu marokkanisches Honiggebäck mit Sesam, das könne niemand so gut backen wie seine Lebensgefährtin. Ich erscheine pünktlich zu dieser Verabredung. Dr. Stollenbruch öffnet die Tür und bittet mich freundlich einzutreten. “Unser Besuch ist da, Agnes”, ruft er in die Wohnung, in der es wunderbar aromatisch duftet. Und da sehe ich sie, meine Kollegin Agnes Wohlmuth. Sie räumt gerade den Ecktisch frei, um dort Tee und Gebäck auftragen zu können. In einer anderen Stelle des Zimmers blicke ich vor der dortigen Wand auf einen großen Tisch, auf dem unterschiedliche Gegenstände um kleine Altäre herum angeordnet sind. Diese werden von mehreren Lichtspots dezent beleuchtet. Dazwischen sehe ich Kerzen in vielen Farben und Größen, schimmernde Kristalle, dazu Gefäße mit Duftölen, Tarotkarten und einiges mehr. Und an der großen Wand dahinter, da hängt ein Tableau mit keltischen Symbolen, astrologischen Diagrammen und Zahlenreihen, die auf bestimmte Namen gerichtet sind; einer davon ist meiner.
 

Sammis

Mitglied
Hallo Horst!

Was ist passiert? Deine Geschichte beginnt mMn etwas zäh, doch wenn man sich auf das Thema einlässt, baut sie durchaus Spannung auf und siehe da, die liebe Agnes kommt zur rechten Zeit. Auch ein potenzialer Roman, der nicht mehr angegangen wird? Wäre schade, da steckt ordentlich was drin.

Beste Grüße,
Sammis
 
Netter Versuch, Sammis. Interessant zu erfahren, dass hier jemand unterwegs ist, der plumpe Ironie benutzt und diese offensichtlich für eine der subtilen Art hält.
Mit kollegialem Gruß.
Horst M. Radmacher
 

Sammis

Mitglied
Hallo Horst,

ich verstehe nicht, warum du dich angegriffen fühlst? Ich meine die Worte so, wie sie da stehen. Ich fand etwas schwer in deine Geschichte und habe dennoch weitergelesen, da ich weiß, dass du bisher immer etwas zu sagen hattest. Mit der Zeit wurde ich neugierig, wollte ich wissen, was es damit auf sich hat. Und die Überraschung kam dann für mein Empfinden zur rechten Zeit. Die einleitende Frage zielte lediglich darauf ab, dass du dich selbst nicht im Segment Spannung siehst. Und auch die Frage nach der Romanlänge und meine Einschätzung dazu sind vollkommen ernst gemeint. Sollte ich mit meinem Kommentar irgendetwas in dir zum Klingen gebracht haben, von dem ich nichts wissen kann, tut mir das leid.

Beste Grüße,
Sammis
 

petrasmiles

Mitglied
@Sammis
Ich finde das sehr nobel von Dir, dass Du nicht eingeschnappt reagiert, sondern ein Missverständnis aufgeklärt hast. Ich war da zunächst nicht so großzügig, sondern dachte mir, dass man diesen Autoren besser meiden sollte, wenn er mit solch eisernem Besen vor seiner Tür kehrt. Jetzt will ich mich nicht lumpen lassen.

@Horst M. Radmacher
Gegen Deine 'Empfindlichkeit' spricht schon die 4-Sterne-Bewertung. Selbst mit echter, unliebsamer Kritik kann man anders umgehen.

Ich hätte es anders formuliert, aber hatte einen ähnlichen Eindruck, dass der Anfang eher zäh war, aber spätestens seit der Offenbarung, dass ein Mann anhaltend davon träumte, schwanger zu sein, nahm der Text Fahrt auf; den letzten Absatz fand ich dann ein bisschen lang, da versank die Pointe in zu vielen Wörtern - für meinen Geschmack.
Die Idee fand ich richtig gut; nun grüble ich also, ob dem Mann wirklich geholfen werden konnte, oder er einem teuren Placebo aufsaß, das nur (?) seine Selbstheilungskräfte aktivieren half.
Insgesamt gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 
@Sammis:
Hallo Sammis. Nun, ich werde meine schroffe Replik auf das Konto Missverständnis buchen. Ich kann es nicht ganz ausschließen, dass diese z. T. einer aufkeimenden Altersparanoia oder Dünnhäutigkeit geschuldet ist. Deine vorherigen Kommentare, selbst die 'schulmeisterhaften', habe ich überwiegend ernstgenommen und mintunter für angebracht gehalten. Ja, das Thema, eventuell vorhandene Substanz bei einigen meiner Geschichten für längere Formate, habe ich in einem Beitrag angesprochen. Die putzige kleine Story, Traum eines Adligen, gehört ganz sicher nicht in diese Auswahl, selbst bei einer nicht auszuschließender Überbewertung eigener 'Werke'. Dass hier nun aus deiner Feder eine Romantauglichkeit auch nur angedeutet werden könnte, hätte ich niemals erwartet, daher meine Vermutung in Richtung Ironie, welcher Art auch immer.
Herzliche Grüße.
Horst
 
@petrasmiles:
Hallo Petra. Es spricht für Dich, einem Kommentator beizustehen, der Deiner Meinung nach zu unwirsch behandelt wurde. Du magst es glauben, oder auch nicht, mit unliebsamer, oder auch harter Kritik kann ich umgehen - die von Dir so benannte Methode des 'eisernen Besens' muss es sicher nicht immer sein, wenngleich ich der Meinung bin, dass Kritiken, auch möglicherweise fehlinterpretierte, pointiert beantwortet werden dürfen.
Von welcher faktischen Gemengelage ich dabei ausgegangen bin, habe ich in der Antwort an Sammis beschrieben. Es spricht auch für Dich, trotz Deiner geäußerten Kritik, den Text eines Deiner Meinung nach überreagierenden Autors zu besprechen. Es freut mich, dass Du die Geschichte gerne gelesen hast. Durch welche Maßnahme dem Protagonisten tatsächlich geholfen wurde, bleibt gewollt im Unklaren.
Herzliche Grüße.
Horst
 

Sammis

Mitglied
Ja, das geschriebene Wort verkehrt sich nicht selten im Ohr des Lesenden. Plus Stimmung im Moment des Empfangs, minus Stimme und Mimik des Senders, gleich Missverständnis. Von meiner Seite aus alles gut.
Viel schlimmer ist ohnehin, überhaupt keine Reaktion auf einen Text zu erhalten. :oops:
 



 
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