Traum oder Vision?

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Traum oder Vision?

Schon unzählige Male hatte Daniel das Miniatur-Wunderland in Hamburg besucht. Und doch fand er jedes Mal wieder Dinge, die er zuvor nie bemerkt hatte.
Er stand gerade im Italien-Teil direkt vor dem Petersdom. Nachdem er sich alle Details des Gebäudes genau angesehen hatte, drehte er sich langsam nach rechts, um weiter zu gehen. Er war noch völlig in Gedanken. Da stieß er mit einer Frau zusammen.
„Oh, entschuldigen Sie“, sagte sie. „Ich habe nicht aufgepasst. Ich ...“ Da stockte ihre Stimme.
„Annabella?“, entfuhr es Daniel.
„Daniel? Ich fasse es nicht.“ Ihre Stimme klang rau, so kannte er sie gar nicht.
„Das ist ja eine tolle Überraschung. Wie lange ist das her?“
Annabella lachte leicht gequält, weil es ihr schwerfiel. Genau wie das Sprechen ohne Nebengeräusche.
Die beiden waren in der Oberstufe ein Paar. Für beide war es das erste Mal. Die eigenen Studienwünsche erforderten jedoch die Trennung. Sie wollte nach Japan, er nach Amerika. Das haben sie auch gemacht. Über dreißig Jahre war das her.

Sie schlenderten noch weitere drei Stunden durch die Ausstellung, nahmen sich ein ums andere Mal an der Hand, bevor es endgültig zu voll war und sie beschlossen, hinaus zu gehen.
„Du wohnst hier in Hamburg?“
„Sicher. Aber nur als Zweitwohnsitz. Ich bin die meiste Zeit immer noch in Tokio.“
„Das klingt spannend. Was hast du in den letzten dreißig Jahren denn so auf die Beine gestellt?“
„Ich habe eine Firma gegründet. Die Japaner sind da sehr skuril. Hier hätte ich das sicher nicht machen können.“
„Was für eine Firma?“
„Ja, wie nenn ich es? So eine Art Zukunftsplanung für den jüngsten Tag. 'Final dream' heißt meine Firma. Mit einer monatlichen Summe wirst du Teilhaber dieser Firma. Da sind auch große Unternehmen als Sponsoren mit drin.“
„Und was bekomme ich dann für mein Geld? Du sagtest 'für den jüngsten Tag'. Was soll das heißen?“
„Für mich persönlich heißt das, dass ich demnächst auf eine Raumstation fliegen werde, um meine letzten Tage dort zu verbringen“, sagt Annabella, als sei es die normalste Sache der Welt.
„Was redest du da? 'Deine letzten Tage'?“
„Solche Träume erfüllt diese Firma. Das ist der Sinn und Zweck dieser Gemeinschaft, die das finanziert. Jeder, der mindestens zwanzig Jahre eingezahlt hat, hat das Privileg eines ...“
„Moment, Annabella! Ich verstehe nicht ganz. Du bist doch genauso alt wie ich. Warum ...“
„Weil ich unheilbar krank bin. Meine Ärzte geben mir noch maximal drei Monate. Das ist die brutale Wahrheit, lieber Daniel.“
Daniel konnte sich nicht beherrschen. Er begann zu weinen. Mit traurigen Augen schaute er Annabella an. Sie war noch immer so hübsch, wie damals. Er konnte nicht fassen, dass diese wundervolle Frau sterbenskrank sein sollte.

Doch Annabella war auch eine starke Frau. Sie nahm Daniel liebevoll in die Arme, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht, küsste ihn. „Es wird der Höhepunkt meines Lebens, mein Lieber. Ich freue mich darauf.“
„Für mich war unsere erste Nacht der Höhepunkt meines Lebens, Annabella. Ich muss mir eingestehen, dass ich nie wieder eine andere Frau so sehr lieben konnte, wie ich dich geliebt habe. Das klingt jetzt total kitschig, aber so ist es. Das erkenne ich heute.“
„Oh, Daniel. Du bist noch genauso süß, wie damals. Ich habe oft an dich, an unsere Zeit gedacht. Wir waren sehr glücklich. Aber heute führt jeder sein eigenes Leben. Du hast doch sicher Frau und Kinder, oder?“
„Mitnichten. Und du?“
Sie schaute ihn entgeistert an. Das war dann wohl ebenfalls ein 'Nein'.
Es entstand eine Pause, weil beide ihre Gefühlswelt wieder ordnen mussten.
„Ich fliege übermorgen nach Tokio zurück. Und wenn alles gut geht, bin ich eine Woche später auf dem Weg ins All. Aber ...“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
„Ich will dich begleiten!“, rief er. „Nach Tokio, meine ich.“
„Das würdest du tun, Daniel? Oh, das wäre ...“ Ihre Gefühle quollen über vor Glück. Sie nahm Daniel erneut fest in die Arme und küsste ihn nun leidenschaftlich.
Es dauerte eine Weile, bis beide wieder zur Besinnung kamen.
„Ich möchte, dass du mit dem bestmöglichen Gefühl auf diese letzte Reise gehst, liebste Annabella.“
„Und du bist sicher, dass du das verkraftest, diese dann endgültige Trennung?“
„Ich möchte … Vielleicht gibt es da draußen im All eine Kraft, die dich wieder heilen kann.“
„Oh, Daniel. Du bist so süß. Sag, wohnst du auch hier in Hamburg?“
„Nein, aber ich habe jetzt noch zwei Wochen Urlaub. Ich hatte ein paar Ausflüge geplant. Heute war der erste davon. Die anderen werde ich dann wohl verschieben müssen.“
„Dann komm. Lass uns heim gehen. An alte Zeiten anknüpfen, ja?“
Hand in Hand gingen sie den knappen Kilometer, blieben immer wieder stehen, um sich zu küssen, bis sie nach fast dreißig Minuten schließlich das Ziel erreicht hatten.

„Wonach steht dir der Sinn, meine Liebste?“
„Sollte es da eine falsche Antwort geben? Nein! Ich will mit dir ins Bett!“
Daniel machte große Augen. „Himmel! Du gehst aber gleich ran.“
„Lass uns keine Zeit verlieren, Süßer!“, sagte sie und ging ihm sofort an die Wäsche.
In ihrer grenzenlosen Leidenschaft fanden sie auch bis zum nächsten Morgen noch kein Ende.

Am selben Tag buchten sie zwei Tickets nach Tokio und fuhren wenige Stunden später nach Frankfurt, um in den Flieger zu steigen.
Die vier Tage bis zu Annabellas Reise zu den Sternen, wie sie es nannte, genossen die beiden in immerwährender Hingabe zu Liebe, Lust und Leidenschaft. Sie hatten so viel nachzuholen.
Und dann kam der Tag X. Es fiel Daniel so unendlich schwer, seine Annabella gehen zu lassen, aber er wusste, dass es kein Zurück gab.

Zurück in Deutschland war Daniel furchtbar müde von den Strapazen der Reisen, aber auch wegen des Schlafmangels, um keine Sekunde ohne Annabella zu sein. Als er am nächsten Tag aufwachte, wusste er nicht mehr, ob das alles Realität gewesen war oder nur ein unglaublicher Traum. Er wusste nicht, ob diese Zukunftsvision tatsächlich möglich sein würde, dass ein Mensch zum Sterben auf eine Raumstation geschickt wird, weil er sich das so gewünscht hatte, und dann nach seinem Ableben mit einer Kapsel in die Weiten des Alls entlassen werden würde.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Rainer Zufall,

offenbar sieht Daniel es Annabella nicht an, dass sie in drei Monaten sterben wird. Sie ist ja noch genauso hübsch wie früher und verhält sich später wie ein junges Mädchen.

Wie kann das sein?

Ansonsten ist Deine Zukunftsvision gar nicht so weit weg. Inzwischen verfügen Menschen auch, ihre Asche auf den Mond "beerdigen" zu lassen, was möglich ist ...

Deine Geschichte ist mir aber prinzipiell zu nüchtern erzählt. Sie muss doch vor Gefühlen nur so bersten!

Viele Grüße von

DS
 
Hallo DocSchneider,

es gibt Krankheiten, die sieht man dem Betroffenen auf den ersten Blick nicht an. Außerdem hatte ich den Hinweis auf eine ungewohnt raue Stimme eingebracht. Ich hatte ein ähnliches Erlebnis mal mit einem Kollegen. Den habe ich drei Wochen (!) vor seinem Tod noch gesprochen. Da war nicht viel zu erahnen, aber es ging dann sehr plötzlich zuende.

Annabella ist eine starke Frau, auch das hatte ich erwähnt. Sie lebt ihr Leben halt bis zum Schluss, anstatt in Resignation zu verfallen. Und mit Daniels Blick durch die rosa Brille erkennt dieser auch nicht den Ernst der Lage - oder will ihn nicht wahrhaben.
Und das mit den starken Gefühlen, ja, ich wollte es nicht übertreiben, denn es ging im Grunde um das Thema, um diesen 'Final dream'. Sicher hätte ich es noch breiter ausarbeiten können, aber dann wäre es vermutlich eher eine erotische Geschichte geworden. Das wollte ich in diesem Fall nicht. Und die Geschichte sollte auch nicht zu lang werden. Und außerdem ist es doch so: der Leser soll noch Raum für die eigene Fantasie behalten.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

steyrer

Mitglied
Hallo!

Am Ende zweifelt der Protagonist daran, ob alles wahr sein kann. Ein solcher Hinweis gehört, meine ich, schon in den ersten Satz, oder wenigstens ersten Absatz und sei es nur, um kritischen Einwänden zuvorzukommen. Ein Hinweis im Titel ist zu wenig, zumal „Traum oder Vision“ wie ein reiner Arbeitstitel wirkt.

Aber da kann man gar nicht oft genug hin, denn bei jedem Besuch findet man etwas, was bis dahin nicht entdeckt worden war. Das war seine Meinung.
Das ist eine allgemeine Behauptung, die gleich darauf relativiert wird. Vielleicht sollte anderes formuliert werden: „… denn bei jedem Besuch fand er etwas, das er bis dahin nicht bemerkt hatte.“

Er stand gerade im Venedig-Teil direkt vor dem Petersdom.
In Venedig steht der Markusdom.

In einer Kurzgeschichte ist nichts zufällig. Wenn also bereits die Einführungsszene in einem künstlichen Miniatur-Wunderland spielt, so gehe ich davon aus, dass der Rest der Handlung ähnlich zu verstehen ist.

Das Beste sind die Dialoge, der beschreibende Teil klingt dagegen oft Papierdeutsch: Was ist etwa gegen das Wort „Tod“ einzuwenden? „Ableben“ klingt wie ein bürokratischer Akt.

Schöne Grüße
steyrer
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
es gibt Krankheiten, die sieht man dem Betroffenen auf den ersten Blick nicht an. Außerdem hatte ich den Hinweis auf eine ungewohnt raue Stimme eingebracht. Ich hatte ein ähnliches Erlebnis mal mit einem Kollegen. Den habe ich drei Wochen (!) vor seinem Tod noch gesprochen. Da war nicht viel zu erahnen, aber es ging dann sehr plötzlich zuende.

Das verstehe ich! Okay.

Und das mit den starken Gefühlen, ja, ich wollte es nicht übertreiben, denn es ging im Grunde um das Thema, um diesen 'Final dream'. Sicher hätte ich es noch breiter ausarbeiten können, aber dann wäre es vermutlich eher eine erotische Geschichte geworden. Das wollte ich in diesem Fall nicht. Und die Geschichte sollte auch nicht zu lang werden. Und außerdem ist es doch so: der Leser soll noch Raum für die eigene Fantasie behalten.

Erotik hätte nicht die Hauptrolle spielen müssen. Es ist schwer, diese dabei entstandenden Gefühle wiederzugeben. Eine totgeweihte Frau zu lieben, in diesem Wissen, das ist sehr schwer zu schreiben und vielleicht einfach eine Nummer zu groß (gewesen).

@steyrer:

Danke für Deinen Hinweis mit dem Petersdom in Venedig. Hatte ich glatt überlesen!
 

ahorn

Mitglied
Hallo Rainer Zufall,
ich möchte nicht auf den Inhalt deiner Geschichte eingehen, dies taten bereits die Vorschreiber.
Die Einleitung hat es mir angetan. Eine Einleitung, die den Leser nicht expliziert einlädt, weiter zu lesen. Es fällte noch ein Satz, dass er sich Butterbrote geschmiert hat. Dein Text benötigt keine Einleitung, spring gleich in die Geschichte.
Idee:
Auf dem Weg vom Grand Canyon zum Alpenvorland stieß Daniel zwischen Venedig und dem Petersdom mit einer Frau zusammen.
Nutz die Surrealität des Ortes aus.
Wenn es dir wichtig ist, wie oft oder wann er bereits dort war, dann bring dieses in einem Dialog mit Annabella.
Dafür würde ich die Dialoge, indem sie austauschen, was sie seit ihrem letzten Treffen erlebt haben, indirekt erzählen. Der Vorteil liegt darin, dass dein Protagonist im gleichen Zuge, dieses interpretieren kann.

Liebe Gruß
Ahorn
 
Hallo steyrer,

kritische Einwände hin oder her. Es war nicht gewollt, dass so früh klar wird, worauf sich der Titel bezieht. Das sollte erst im Laufe der Geschichte immer weiter aufgedeckt werden.
Aber 'künstliches Miniatur-Wunderland' ist doppelt gemoppelt. ;) Der Besuch des MiWuLa lohnt sich wirklich.
Die Handlung hingegen ist frei erfunden. Allerdings basiert sie auf einem realen Traum, der mir vor ein paar Tagen recht gut im Gedächtnis geblieben war, dass ich ihn aufschreiben konnte.
Dass meine Dialoge nicht die schlechtesten sind, hat man mir hier schon häufiger attestiert. Danke also auch Dir für dieses Lob.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 
Hallo DocSchneider,

sicher hast Du recht. Es ist schwer, so etwas in Worte zu fassen. Und vielleicht kann ich es tatsächlich nicht. Deshalb habe ich die Situation wohl auch so nüchtern, wie Du es beurteilt hast, geschrieben.

Hallo ahorn,

mit der etwas langen Einleitung war ich auch nicht zufrieden. Aber mir kam einfach keine zündende Idee, als ich es fertig hatte. Jetzt habe ich sie aber gekürzt.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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