TraumbuchGolem

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Max Neumann

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Wie man TraumbuchGolem liest? Da gibt es kaum Unterschiede zu anderen Büchern. Doch, vielleicht einen. Beim Lesen des letzten Satzes von jeder Seite brausen die Buchstaben nämlich auf die nächste Seite, um dort zusammenzufinden. Sie sind ruhelos, deshalb ständig in Bewegung.

Aber ungelesen verblassen die Golembuchstaben, verkümmern zu schwarzer Kruste, Krümeln, Ruß, auf Böden und zwischen Holzdielen geweht, letzten Endes in Rillen des Vergessens. Bitte lies das Traumbuch Golem.


***

Ich bin „geworden“.
„Ich“ bin geworden.

Die Sprache des Golems verlieh dem Werden ein Gehirn und eine Hand. Das Gehirn erinnerte und die Hand schrieb die Erinnerungen auf:

Meine Urgroßmutter, Seiltänzerin des Blütenbaches, arglose Frau mit krausem Haar und quadratischen Gedanken; ihre federleichten Töchter, spätere Großeltern der Kirmes; deren großer Bruder Isaac, der 1942 mit einem Bierkrug das Gesicht eines SS-Generals entstellte; Isaacs Sohn, mein Vater, Mann der Akkorde, Riffs, Engel und Eisberge, als er mir in Hannover-Nordstadt von Gasöfen vorlas; Mutter und Mutterinszenierungen auf Theaterbühnen, Kleider und Verkleidungen, auswendig gelernte, zunichte gespielte Theater-Manuskripte, durchgeblättert, markiert, zerfleddert und wie Escher-Treppen die Endlosigkeit vorgetäuscht; die Niederlande: Groningen und Liefde in oorlogstijd, nicht, ohne das Glaubensverkümmern der Haardts und Hirschhorns einzufordern; Frankfurt-Nordend einmal gegen und für Hochkultur, Merkmale in frostiger Juliabwendung; drunten, am Briefkasten, der Literatur-Kritiker im Knast seiner Zuneigung, klobige Nase, die populäre Brille mit Goldrand auf dem Gesicht jenes Mannes, der in jungen Jahren feminin, ernst und einfühlsam in die Kamera blickte und fünfzig Jahre darauf zum diktatorischen Maulwurf geworden war; unsere flüchtige Begegnung auf der Eschersheimer Landstraße, unweit seiner Residenz, sie wurde beschirmt von Altbauten und Jugendstilverzierungen eines Bonzenjahrhunderts. Unterlegt von goldäugigen Gehsteigen.

Zu Seite X des Traumbuchs Golem: Willkommen Golem in Daseinsgleichzeitigkeit. Alles ist dual. Nichts einseitig. Jede Erkenntnis mehrperspektivig. Nur Ambivalenz ist Wahrheit, denn rückwärts gelesen bedeutet Wahrheit in der Golemsprache das Wort Lüge. Hand aufs Herz.

Es gibt Kerne, es gibt Schalen. Stell Dir mit mir eine Schale ohne innere Frucht vor. Nachdem Du den Gedanken entfaltet hast, breite ihn vor meinen Füßen aus, damit ich mich auf ihn lege, um mit offenen Augen darauf auszuruhen.

Zuvor müssen wir zurückkehren in die Nordstadt, wo das vor kurzem so belebte Nebenzimmer der Sozialwohnung 0.148 nach einem Selbstmord entmenschte und seither durchdrungen ist von der Trauer meines Vaters um die Frau, die sich darin erhängte. Lange Jahre war sie nämlich Vaters Lebensgefährtin. Das grauenvolle Gedächtnis davon, wie sie am Strick baumelte und Vater sie entdeckte. Ein solches Erinnerungsbild strahlt die Psyche grell aus.
Als ich nach dem Selbstmord mit Vater telefonierte, schluchzte er über Monate ins Telefon. Seine Stimme klang, als spräche er mit einem Lebenden, um währenddessen ins Jenseits zu horchen. Immer wieder die eine Frage zu stellen. Wie ein Mensch zu so etwas fähig ist: Sein Leben zu beenden.

Im selben Zimmer derselben Sozialwohnung – Blickwechsel. Wir verengen den Fokus: Und stehen ehrfürchtig, wie ein Erwachsener vor einem Hochhaus, als Kleinkind vorm Holzschrank. Wir vermuten in die Zukunft hinein, was sie uns einmal an Erinnerbarem vorlegen wird. Heben den Kinderkopf zur fruchtlosen Schale droben auf dem Schrank. Sie steht auf einer surrenden Musikanlage. (In defektem Zustand spielt diese Anlage weder Jazz noch Klezmer noch Blues aber alle anderen Musikrichtungen.) Daneben Dinge aus dem Leben meines Vaters: Mit Staub bedeckte EPs aus den frühen 1980ern, umgeben von schillernden Murmeln. Zudem Sterbeurkunden, geglättet vom Gewicht einer purpurfarbenen Geheimschatulle. So manches entdeckte ich in Zimmer 0.148.
Bald darauf wurde ich schläfrig. Und da trat Golem ein. Ich glaubte zunächst nicht, ihn wirklich vor mir zu sehen, sondern hielt ihn für eine Täuschung. Trotzdem überzog sofort Kälteschweiß meine Hände. Ich blinzelte mehrmals, um der Vermutung einer Illusion auf den Grund zu gehen. Doch Golem war immer noch da.
Golem war ungeheuer athletisch, riesig und anziehend. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Golem wiederum schaute mich mit kuriosem Aufforderungsblick an. Mit den Augen schien er mir etwas mitteilen zu wollen. Um seinen Mund floss ein Lächeln in silber-grünen Farben.

Er ließ nichts anbrennen. Ohne Zeit zu verlieren, schritt Golem entschlossen auf mich zu, hob mich hoch, legte mich in seine Handschalen und verbarg mich, in sich, für die Dauer eines Übergangs ins Werdende. Ins Geborgene. Dabei summte er ein Lied, das zu vergessen mir in der Jugend von den Widersachern der Erinnerung unter Strafandrohung befohlen worden war. Anfangs kam ich dem nicht nach, worauf sie mich folterten, indem sie meine Augen über Wochen mit Nadeln und Klammern aufsperrten. Ich war vierzehn Jahre alt. Erst als Erwachsene begriff ich, mir diese Tortur selbst zugefügt zu haben. Denn ich hasste und scheute Erinnerungen.

Golem unterstützte mich beim Zulassen meiner Identität, einzig, indem er dieses Lied summte. Und ich lauschte. Hörte zu. Relaxte.
Jenes Lied musste ich vor noch meiner Geburt mitbekommen haben, im Bauch während der Kerzenzeit. Es war wie die Melodie einer Zeitreise. Drang mir in die Ohren wie Geruch in eine Nase, vernetzte sich über meinen Sinnen, vereinnahmte mich in einem Schleier aus Balsam und verdrängter Vergangenheit. Das geschah nicht ohne Nebenwirkungen. Allmählich, wie Frost entsteht, wurde mein Gehirn taub. Ich konnte nichts mehr denken oder tun. Mir drohte die Ohnmacht.

Um mich zurückzuholen, klatschte der Golem nasse Handtücher gegen meine Stirn, und zwar im Tempo der Liedmelodie, solange, bis ich die Augen wieder öffnete, zu Bewusstsein kam. Sorgsam betrachtete Golem mich, so, wie ein empathischer Arzt seinen Patienten untersucht.

Und einen Augenblick später streichelte Golem meine Stirn, fuhr mit seinen Pranken meinen Körper hinab, bedeckte mit Stammesfingern die Innenseiten meiner Oberschenkel, um mir zwischen die Beine zu fassen. Zuerst fürchtete ich mich, aber die Zärtlichkeit in Golems Fingerspitzen nahm mir die Angst. Zaghaft gierend tastete ich mich mit den Händen vor, ich umgriff, was wuchs, mit allem was ich war und hatte, beugte mich hinab (–)

und fand mich in einem Wasserbecken wieder. Dies Becken lag tief verborgen in einem unerschlossenen Erdteil, inmitten märchenhafter Gärten.
Am Rande des Beckens hockte Golem, die Füße im azurblauen Wasser. Wie bei einer antiken Statue waren seine Muskeln bis zum Zerbersten angespannt. Zwischen den geöffneten Oberschenkeln entdeckte ich, wie er für mich bereit war.
Es dämmerte, am Himmel Wolken in lila, orange, rot, gelb, die Luft feuchtwarm, dazu kühlender Wind. In den Gärten herrschte das ganze Jahr über milde Wärme, Tag und Nacht.

Spielereien in den Grübchen des Golems, sündhafter Vater grinsend. In der Abenddämmerung leuchteten seine grünen Augen meterweit. Mein Herz klopfte, im Bauch schlug eine Kugel aus Kälte und Hitze gegen die Körperwände, die Schläfen pochten, das Herz raste.

Blindlings riss ich mir die Kleider vom Leib, sprang kopfüber ins Becken. Unter Wasser erblickte ich Golems Knie. Sie glichen Felsen. Als ich auftauchte, landete mein geöffneter Mund zufällig vor seinem aufgebäumten Glied. Es stand aufrecht und hart wie ein Turm. Golems Handflächen nach links und rechts auf den grünen Marmorboden des Wasserbeckens gelegt, und wie ich Golem in den Mund nahm, glitt sein Oberkörper zur Seite, und seine Hände, als er bärenhaft aufstöhnte, umgriffen meine Schläfen, den ganzen Schädel. Unter sanftem Druck bewegte ich meinen Kopf wie eine Ja-Sagerin, auf und hinab, hoch und runter, befreites Verstummen, vom Mitteilen und der Suche nach Anerkennung enthoben, unabhängig von fremden Blicken, mit mir und dem Golem, im warmen Wasser beschützt...

Da verwandelte sich die Daseinsgleichzeitigkeit, die Rede von der Ambivalenz, in eine Dreiheit. Eine Dreiheit von Seele, Glied und Mund, gewordene Lebensform zwischen Sozialwohnung 0.148 und der Märchenwelt.




***

Ich schlief ein und fühlte, wie riesengroße Handflächen über meinen Rücken rieben. Ich hörte Golem die vertraute Melodie summen. Die Melodie meiner Rückkehr.
Dann wachte ich auf. Alleine lag ich in meinem Bett des Jugendstilhauses im Frankfurter Nordend. Ich blinzelte, mehrmals, um mich meiner Umgebung zu vergewissern.

Ich fasste mir an die Schläfen, wo ich immer noch einen gewissen Druck fühlte. Und als nächstes nahm ich TraumbuchGolem wahr, wie's aufgeschlagen auf meinem purpurfarbenen Nachttischlein lag. In ihm stand kein einziger Buchstabe mehr drin, die Seiten strahlten perlweiß in die Dunkelheit.
 



 
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