Traumfänger

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Leovinus

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Traumfänger / Wer hat Fedde? / Geh zu ihr

Im Alter von 17 Jahren, 2 Monaten und 5 Tagen erkannte Konstantin, dass er die Träume seines Nachtschlafes bestimmen konnte. Dieses Talent musste sich über die Jahre entwickelt haben. Nun würde er es ausnutzen.

Den ganzen Dienstag-Nachmittag hatte er sich auf eine Mathe-Klausur vorbereitet. Vor dem Zu-Bett-Gehen stellte er sich vor, wie er am nächsten Tag versagen würde. Was geschieht, so dachte er, wenn ich am Ende der zwei Stunden ein leeres Blatt abgebe, mit nicht mehr beschrieben als Datum und Namen? Konstantin trank einen Schluck Wasser und schaltete das Licht aus. Nachdem die Nebel, Horizonte und Druckwellen des Übergangs zwischen Wachsein und Traum durch ihn hindurch gezogen waren, fand er sich in der Schule wieder. Vor ihm saß Julia. In den zwei Mathematik-Stunden bewunderte er ihr langes dunkelblondes Haar. Wie mochte der Hals darunter beschaffen sein? Sie hatte wohl seinen Blick gespürt. Sie drehte sich um. Mit dem Gefühl, er stürze kopfüber in einen Abgrund, drückte er den unbeschriebenen Aufgabenzettel dem Lehrer in die Hand, was ihm zwei Noten einbrachte. Eine Eins in Kunst und – natürlich – eine Sechs in Mathematik. Zwei kräftige Hände packten seine Fußgelenke und schoben ihn hinauf und hinauf und hinauf. Die Sonne schien in sein Bett.

Auf dem Weg zur Schule traf er seinen Freund René. Dessen Reaktion auf das neue Talent war eindeutig. „Ständig was Neues, hört diese Scheiß-Pubertät nie auf? Wie ich dich kenne, probierst du das heute in Mathe nicht aus, oder? Dabei könntest du’s dir leisten.“

Julia überholte sie. Im Vorübergehen streifte sie Konstantins Arm. Die Jungen blickten ihr nach bis sie außer Hörweite war. „Und?“, fragte René.

„Was und?“

„Wann sprichst du sie an?“

Konstantin trat gegen einen Stein, der langsam auf die Straße rollte. „Keine Ahnung. Vielleicht morgen.“

Sie bogen um die Ecke und betraten den Schulhof. „Verstehe“, sagte René. „Zuviel zu tun.“

Konstantin nickte. „Genau.“

René hielt ihn fest. „Die steht auf dich. Das sieht jeder!“

„Ich nicht.“ Konstantin machte sich frei.

Der Freund gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Da merkt man mal wieder, dass ne Eins in Mathe gar nichts bringt.“

Tatsächlich saß Konstantin während der Klausur hinter dem Mädchen. Es kann sein, dies verführte ihn zu Unkonzentriertheiten. Doch der Tag verlief ohne Zwischenfälle bis zur siebenten Stunde.

Die Klasse stellte sich im Kunstkabinett hinter den Staffeleien auf. Jeder sollte das Porträt eines Mitschülers zeichnen. Die Klassenkameraden tuschelten, während sie die Partner untereinander aushandelten. Konstantin wollte zu René hinüberwinken. Aber der Freund hatte Schwierigkeiten, sich von Theresa zu lösen, die ihn zu ihrer Staffelei zerrte.

Julia baute sich vor Konstantin auf und verkündete: „Ich male dich.“ Konstantin runzelte die Stirn. Julia wurde rot und fügte schnell hinzu: „Du hast so ein einfaches Gesicht. Da kann ich nichts falsch machen.“

Sie setzte sich ihm sofort gegenüber. Mit zusammen gekniffenen Augen vermaß sie sein Gesicht. Sie griff zum Stift, zögerte, sah genauer hin und runzelte die Stirn. Plötzlich nahm sie die Hand zurück, stand auf und ging um Konstantin herum. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie lächelte.

Konstantins Hirn verkrampfte. Wie sollte er Julia aufs Papier bringen, damit sie sich wiedererkannte? Seine Augen blickten starr geradeaus. Was mochte sie erwarten? Konstantin kritzelte. Er radierte und besserte aus. Mit jedem Strich wurde er unzufriedener. Endlich warf er den Stift zur Ablage. Der Bleistift löste sich aus seiner Hand. Aber er fiel nicht zu Boden. Mit fetten Strichen schmierte er das Wort „Fedde“ quer über das Blatt und tilgte es wieder. Zeichnete ohne Konstantins Zutun wahllos auf das Papier, das sich unter ihm wegkrümmen wollte. Der Junge beobachtete, wie sich der Stift weigerte, Julia zu malen.

Am Ende der Stunde präsentierte sich das Bild als halbfertiger Baum. Die Krone steckte in einem nebulösen Etwas. Dafür gab es eine klare Fünf. Viel schlimmer war Julias Kommentar: „Aha.“ Wie sie ihn gezeichnet hatte, bekam Konstantin gar nicht zu Gesicht.

Abends beschloss er, der Heimlichtuerei ein Ende zu setzen. Ich brauche nur einen kleinen Testlauf, überlegte er. Ganz ohne Risiko, ohne Langzeitfolgen. Ich werde Julia ansprechen. Mutig. Im Traum werde ich sie einladen, mit mir im See baden zu gehen. Warum nicht?

So ging er zu Bett.

Er fiel in ein Fass voll dicker Tinte. Dunkelgraue und schwarze Wolken umhüllten ihn. Schachbrettartige Stimmen murmelten. Feddefeddefeddefedde.

Konstantin ruderte mit den Armen. Die Stimmen verdichteten sich zu einem klaren Gewirr. Er tauchte auf und landete am Rand des Schulhofs. Sein Freund René boxte ihm in die Schulter.

„Ab!“, sagte er. „Wenn es sich einer traut, dann du.“ Im Traum erschienen Konstantin diese Worte vollkommen logisch. Er sah sich um.

René streckte den Arm aus und zeigte mit dem Finger. „Da drüben, geh hin. He, kein Grund mir den Arm zu brechen.“ Auf der anderen Seite stand Julia mit ihren Freundinnen.

Konstantin stiefelte los. Er kam an einem kleinen Baum vorüber, der sich seit Jahren bemühte, groß zu werden. Biologisch betrachtet eine Kastanie, aber nicht ganz ernst zu nehmen.

Vor dem Jungen schlängelte sich ein Bach. Konstantin dachte nicht darüber nach. Er marschierte durch einen Wald. Vögel zwitscherten, hinter den Baumwipfeln klimperte die Sonne mit den Augen, nicht weit entfernt sprang ein Reh. In der Mitte einer Lichtung stand Julia allein. Konstantin ging geradewegs auf das sommersprossige Mädchen zu. Sie grinste. „Na, auf dich habe ich gewartet“, sagte sie mit tiefer Stimme, die ihn an Benjamin Blümchen erinnerte. „Alle anderen haben mich schon gefragt. Findest du mich etwa hässlich? Oder glaubst du, ich bin dumm?“

Im Traum war Konstantin eloquent, leidenschaftlich und nie um den passenden Spruch verlegen. Er sprach: „Töröööö!“

Julia lachte. Sie lachte und lachte, sie krümmte sich und es war nicht recht zu erkennen, ob vor Freude oder Schmerz. Das Mädchen wälzte sich im Gras. Konstantin wich einen Schritt zurück. Die Bäume rings um die Lichtung versanken, der Schulhof erschien. Hinter dem Jungen stand René.

„Was haste denn mit der gemacht?“

Konstantin zuckte mit den Schultern. Er reichte der am Boden Liegenden die Hand. Ihre Augen schauten genau in seine und ihm war, als sei darin der ganze Wald mit all seinen Bäumen, dem Bach und der Sonne vereint. Julia lächelte. „Heute Nachmittag um drei?“

Konstantin nickte. „Ja, klar.“ Er drehte sich um und ging zum Schulgebäude hoch. Die Treppe nahm kein Ende. Er stieg wohl an die hundert Stufen, bis er schließlich in seinem Bett erwachte.

„Schöner Blödsinn“, dachte er, „Dieses Talent kann ich getrost verschenken.“

Später, in der Hofpause, fragte René: „Warum Blödsinn?“

„Ein Bach, der plötzlich auftaucht“, sagte Konstantin, „ein Wald auf dem Schulgelände und eine Julia, die mir zu Füßen liegt.“

„Hast du es schon ausprobiert?“

„Ich bin schon ein paar Mal über den Schulhof gelaufen. Glaub mir, da ist kein Bach.“

René überlegte. „Und wie oft wolltest du dabei Julia daten?“

Konstantin schüttelte den Kopf. „Was hat das damit zu tun?“

„Fakt ist: Du weißt es nicht“, sagte René. „Bist du gar nicht neugierig? Jetzt geh endlich rüber. Da steht sie.“ Er wies mit der Hand auf die andere Seite des Schulhofes. „Mit Mathe allein wird das nichts.“

Konstantin hielt den Arm seines Freundes fest.

„Du bist echt … stur. Da ist nix Wald.“

„Und wenn doch?“

Konstantin zog die Augenbrauen hoch. „Mach ich für den Rest des Jahres deine Hausaufgaben.“

René pfiff leise. Obendrein lächelte er. „Das heißt, du gehst.“

„Heißt es das?“

„Natürlich“, sagte René.

Konstantin holte Luft. „Okay. Und wenn ich Recht habe, datest du Theresa.“

René jaulte. „Sowas will mein Freund sein.“

Die Hände klatschten aufeinander. Langsam löste sich Konstantin von der Kastanie. Als er ein paar Schritte gegangen war, noch immer über grauen Beton, rief ihm René hinterher: „Auch Physik und Bio?“

Konstantin sah zurück. „Denk lieber an Theresa, du Spinner.“ Er wandte sich der anderen Seite zu. Julia sah ihm über den Schulhof hinweg ins Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich skeptische Neugier. Konstantin wurde heiß. Hinter ihm wartete der sichere Hafen des Freundes. Aber er konnte sich gegen das Wasser nicht wehren. Eine riesige Flutwelle zog Konstantin den Boden unter den Füßen fort. Sie toste um ihn herum und wirbelte ihn an den warmen Sand eines Strandes. Schulhof, Gebäude und die mickrige Kastanie waren verschwunden. Die tiefschwarze Oberfläche eines Ozeans schaukelte hinter ihm. Es war Nacht. Der Himmel sternenklar, der Mond leuchtete so gelb und groß, dass er das halbe Firmament zu bedecken schien.

Auf der Landseite erstreckte sich ein Dschungel aus Gebüsch und Felsen. Mitten darin konnte Konstantin einen gewaltigen Baum erkennen, dessen Krone in eine Decke aus Nebel wuchs. Ein echter Kastanienbaum.

Aus dem Dschungel heraus spazierte René. Er setzte sich neben Konstantin und meinte: „Damit haste nicht gerechnet, oder?“

Konstantin sagte nichts. Sollte er mit einem geträumten René an einem geträumten Strand über Erwartungen diskutieren?

„Kein Traum – Realität!“, widersprach René seinen Gedanken.

Konstantin schüttelte den Kopf. „Davon gibt’s nur eine, und die hier ist es garantiert nicht.“

„Zeig mir die echte.“

„Wie soll ich dir aus einer geträumten Wirklichkeit heraus die wirkliche …“ Konstantin winkte ab.

„Alter, du träumst nicht. Das ist deine Welt.“

„Das würde heißen, ich wäre verrückt.“

„Nicht verrückter als in jeder Wirklichkeit.“

Konstantin stand auf.

„Und wie kommen wir von hier an die Schule zurück?“

René lächelte. „Denk dir was aus.“ Er stemmte sich hoch und klopfte den Sand von der Hose.

„Sehr witzig“, meinte Konstantin. Er dachte an einen Helikopter. Motorengeräusche knatterten über ihm, sanken aus dem Himmel herab näher, manifestierten sich zu einem Hubschrauber. In der Führerkabine flammte ein rotes Licht auf. Eine Lautsprecherstimme verkündete: „Bitte entfernen Sie sich vom Strand. Beachten Sie das Bundesnichtschwimmergesetz und helfen Sie uns. Wer hat Fedde? Ich wiederhole: Bitte entfernen …“

Eine Strickleiter klatschte auf den Strand. René sprintete los und erklomm die Leiter. Kaum war der Freund halb hoch geklettert, drehte der Hubschrauber ab und flog über das Meer fort. Im Dunkel der Nacht verschwand er.

Konstantin fühlte sich, als hätte jemand seine Füße eingegraben. Vom Strand entfernen, dachte er. Wozu soll das gut sein? Missmutig wandte er sich dem Dschungel zu. Von der Kastanie aus würde er sich einen Überblick verschaffen.

Doch die Krone des Baumes steckte noch immer in tiefstem Nebel fest. Keine fünf Meter hoch konnte Konstantin schauen. Er hörte die Blätter rauschen. Dazwischen mischte sich eine Stimme. „Ich will sehen, wer du bist.“ Konstantin rieb sich die Ohren. „Wo steckst du?“, rief er.

Die Stimme wurde deutlicher: „Lass dir was einfallen.“ Es war ein Mädchen.

Konstantin fragte: „Was tust du da oben?“

„Komm hoch“, antwortete das Mädchen jetzt sehr klar.

„Komm du runter!“ Er ballte die Fäuste.

Julias Stimme lachte. „Ich will sehen, wer du bist.“

„Dann sieh mich an. Hier stehe ich!“

Doch das Mädchen wiederholte nur: „Lass dir was einfallen.“

Konstantin umrundete den Baum und knurrte.

Er betrachtete den Stamm genauer. Was er zunächst für Rinde und Borke gehalten hatte, erkannte er nun als angepinnte Zettel, mit denen der Baum übersät war. Auf ihnen allen stand die gleiche Suchmeldung. „Wer hat Fedde?“ las Konstantin die mit breitem Edding geschriebenen Buchstaben. Daneben das unscharfe Bild je nach Betrachtungsweise eines schwarzgrauen Hundes, eines exotischen Kuscheltiers oder eines Kleidungsstücks mit rätselhafter Funktion. Unter dem Text noch die dicken roten Worte „Belohnung garantiert“. Anstelle des i-Punktes strahlten Konstantin verspielte Herzchen an.

„Wer hat Fedde? – Woher soll ich das wissen?“

Der nächste Ast lag drei oder vier Meter über ihm. So hoch zu springen, wäre er nicht einmal im Traum in der Lage gewesen.

Träumte er denn? Wann hätte er eingeschlafen sein sollen?

Denk dir was aus, überlegte Konstantin. Denk dir was aus.

Noch ein Hubschrauber! Ein überdimensionaler Traumfänger schwebte über ihn hinweg. Die unterste Feder streifte die Haare des Jungen, ehe er im Dschungel verschwand.

Denk dir was aus.

Der Stamm der Kastanie war glatt, wie mit Seife eingeschmiert. An den wenigen Stellen zwischen den „Wer hat Fedde“-Zetteln, glänzte er. Konstantin mochte gar nicht erst versuchen, hoch zu klettern.

Ich bräuchte eine Leiter, dachte er. Für die Leiter Holz, das ist in den Ästen und die, sehr praktisch, sind da oben. Das Zeug aus dem Dschungel taugt nichts, viel zu weich. Was man haben kann, will man nicht und das andere… tja. Genau wie bei Julia. Ich will mit ihr ausgehen, weiß aber nicht wie. Wer küssen kann, ist klar im Vorteil. Für die Erfahrung müsste ich sie wenigstens mal ansprechen. Um sie anzusprechen… Und so weiter, du weißt schon. Konstantin plumpste auf den Boden. Den Rücken lehnte er an den Stamm.

Nein, mein Herr, ich weiß nicht, dachte Etwas.

„Es wäre prima, wenn du dich zeigen könntest“, sagte Konstantin. „Ich mag es, wenn ich sehe, wer etwas denkt. Und nicht nur den Gedanken spüre.“

Warum? fragte Etwas. Ein einsamer Gedanke genügt doch als Anfang. Mit Verlaub, Sie haben ja noch nicht einmal angefangen.

„Was soll ich denn tun?“

Egal!, dachte es. Sie stehen hier herum und trauen sich nicht, Sie – verzeihen Sie den Ausdruck - Faultier.

„Halt die Klappe.“

Sie würden ein Mädchen nicht einmal ansprechen, wenn es Ihnen höchstpersönlich den Kiefer auf und zu klappt, Sie Schisser.

„Lass mich.“

Sonst?

„Vergiss es.“

Bald sind wohl Sie vergessen, verehrte Taubnuss.

„Du sollst mich in Ruhe lassen!“

Fangen Sie mich doch!

„Was?“

Fangen Sie mich! Ich bin schließlich Ihr Gedanke.

Konstantin arbeitete sich hoch. „Wo bist du?“

Hier, der Herr!

Irgendwo knapp über Konstantin klebte der Gedanke am Baum.

Konstantin schaute sich um. Er wollte sich eine Leiter denken. So sehr er auch seine Phantasie anstrengte, jede zerfiel sofort zu Staub, sobald er sie berührte.

Fangen Sie mich nun, Gütigster?

Der Junge schlich um den Baum herum. Wütend riss er einzelne Suchmeldungen ab. „Ich stopf dir deine vornehme Denkerei mit dem Geschreibsel zu.“ Er zerknüllte das Papier. Bald war der Boden mit Fetzen bedeckt. Feddefeddefeddefedde. Keine Ahnung, wer das Teil hat, dachte Konstantin. Weiß ja nicht mal, wer oder was das sein soll. Jungs- oder Mädchenname? Fräulein Fedde, bitte zum Diktat. Konstantin stampfte vor sich hin. Herr Fedde, würden Sie mir mal die Leiter reichen? Er ist Fedde, sie ist Fedde, du bist Fedde, wir, ihr, sie sind Fedde. Ich bin Fedde.

Ich? Wieso ich?, dachte Etwas.

Ich habe Fedde, dachte Konstantin und blieb stehen. Er sollte sich was ausdenken. Kein Problem.

Jemand wollte wissen, wer Fedde hat. Nichts war klarer als das. Wer sollte etwas anderes behaupten? Was ich will, das ist Realität.

Mir scheint, Sie verstehen, dachte Etwas.

Konstantin schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Wer Fedde hat, bekommt die Belohnung. Es war so einfach. Er war groß. Er war stark. Er war ein Baum.

Konstantin stellte sich mit beiden Füßen fest auf die Erde und träumte nicht. Seine Wurzeln drangen tief in den Boden ein. Die Arme wurden zu Ästen. Er wuchs in die Höhe, durchstieß die Nebelbank. Darüber war es heller Tag. Seine Augen, von der plötzlichen Sonne geblendet, schauten in Julias Gesicht. Julia war die Kastanie.

Das Mädchen sah ihn an und lächelte. „Ich habe auf dich gewartet.“

„Hier bin ich“, sagte Konstantin.

„Du kennst das Geheimnis.“

„Ja.“

„Du hast Fedde.“

„Ich bin ein Baum.“

Konstantin blinzelte in die Sonne. Eine Wolke schob sich dazwischen. Der Junge öffnete die Augen.

Er lag auf dem Schulhof. Über ihn beugte sich Julia. „Na? Gut geträumt?“

„Vielleicht“, antwortete er. „Aber hier ist es schöner.“

Sie schaute ihn spöttisch an. „Was besseres fällt dir nicht ein?“ Sie drehte sich um.

„Warte“, rief Konstantin. Julia blieb stehen.

Er sagte: „Ich habe auf dich gewartet. Alle anderen haben mich schon gefragt, du nicht. Bin ich dir zu hässlich oder hältst du mich für dumm?“

Sie half ihm hoch und noch im Aufstehen konnte er es nicht verhindern, zu sagen: „Heute Nachmittag um drei. Am See.“

Julia lächelte, nickte kurz und schwebte von dannen. Konstantin schaute hinterher.

Jemand schlug ihm anerkennend auf die Schulter. „Phantastisch, Alter“, sagte René. „Als wärste nicht von dieser Welt.“

„Was denn für ‘ne Welt?“

„Keine Ahnung. Vom Rumphilosophieren krieg ich Pickel“, sagte René. „Komm mit rein. Haste mal ‘n T-Shirt für mich? Bin nassgeschwitzt, als wär ich ins Meer gefallen.“

„‘n sauberes Hemd wär besser“, meinte Konstantin. „Wegen Theresa und so.“

Renés Hände warfen sich um Konstantins Hals. Einander würgend kabbelten die Freunde den Hof entlang, stolperten die Treppe hoch und rannten in das Gebäude, das hell in der gleißenden Mittagshitze lag. Die Schulglocke tönte.
 

Leovinus

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Traumfänger / Wer hat Fedde?

Siebzehn Jahre brauchte Konstantin, um sein Talent zu erkennen. Nur, wozu war es nützlich, die eigenen Nachtträume zu bestimmen? In dieser Dienstag-Nacht würde er es ausprobieren. Konstantin löschte das Licht. Was geschieht, so dachte er, wenn ich morgen in der Mathe-Klausur ein leeres Blatt abgebe, mit nicht mehr beschrieben als Datum und Namen?

Nachdem die Nebel, Horizonte und Druckwellen des Übergangs zwischen Wachsein und Traum durch ihn hindurch gezogen waren, fand er sich in der Schule wieder. Vor ihm saß Julia. In den zwei Mathematik-Stunden bewunderte er ihr langes dunkelblondes Haar. Wie mochte der Hals darunter beschaffen sein? Sie drehte sich um. Mit dem Gefühl, er stürze kopfüber in einen Abgrund, drückte er den unbeschriebenen Aufgabenzettel dem Lehrer in die Hand. Das Ergebnis war eine Eins in Kunst und – natürlich – eine Sechs in Mathematik. Zwei kräftige Hände packten seine Fußgelenke und schoben ihn hinauf und hinauf und hinauf. Die Sonne schien in sein Bett.

Auf dem Weg zur Schule traf er seinen Freund René. Dessen Reaktion war eindeutig. „Prima, ein neues Talent! Hört diese Scheiß-Pubertät nie auf? Wie ich dich kenne, probierst du das heute in Mathe nicht aus, oder? Dabei könntest du es dir leisten.“

Julia überholte sie. Im Vorübergehen streifte sie Konstantins Arm. Die Jungen blickten ihr nach bis sie außer Hörweite war. „Und?“, fragte René.

„Was und?“

„Wann sprichst du sie an?“

Konstantin trat gegen einen Stein, der langsam auf die Straße rollte. „Keine Ahnung. Vielleicht morgen.“

Sie bogen um die Ecke und betraten den Schulhof. „Verstehe“, sagte René. „Zuviel zu tun.“

Konstantin nickte. „Genau.“

René hielt ihn fest. „Die steht auf dich. Das sieht jeder!“

„Ich nicht.“

Der Freund gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Da merkt man mal wieder, ne Eins in Mathe bringt gar nichts.“

Tatsächlich saß Konstantin während der Klausur hinter dem Mädchen. Doch der Tag verlief ohne Zwischenfälle bis zur siebenten Stunde.

Im Kunstkabinett stellte sich die Klasse zum Porträt-Zeichnen hinter den Staffeleien auf. Die Klassenkameraden tuschelten, während sie die Partner untereinander aushandelten. Konstantin wollte René herüberwinken. Aber der Freund hatte Schwierigkeiten, sich von Theresa zu lösen, die ihn zu ihrer Staffelei zerrte.

Julia baute sich vor Konstantin auf und verkündete: „Ich male dich.“ Konstantin runzelte die Stirn. Julia wurde rot und fügte schnell hinzu: „Du hast so ein einfaches Gesicht. Da kann ich nichts falsch machen.“

Sie setzte sich ihm gegenüber. Mit zusammen gekniffenen Augen vermaß sie sein Gesicht. Sie griff zum Stift, zögerte, sah genauer hin und legte den Kopf schräg. Plötzlich nahm sie die Hand zurück, stand auf und ging um Konstantin herum. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie lächelte.

Konstantins Hirn verkrampfte. Wie sollte er Julia aufs Papier bringen, damit sie sich wiedererkannte? Seine Augen blickten starr geradeaus. Was mochte sie erwarten? Konstantin kritzelte. Er radierte und besserte aus. Mit jedem Strich wurde er unzufriedener. Endlich warf er den Stift zur Ablage. Der Bleistift löste sich aus seiner Hand. Aber er fiel nicht zu Boden. Mit fetten Strichen schmierte er das Wort „Fedde“ quer über das Blatt und tilgte es wieder. Zeichnete ohne Konstantins Zutun wahllos auf das Papier, das sich unter ihm wegkrümmen wollte.

Am Ende der Stunde präsentierte sich das Bild als halbfertiger Baum. Die Krone steckte in einem nebulösen Etwas. Dafür gab es eine klare Fünf. Viel schlimmer war Julias Kommentar: „Aha.“ Wie sie ihn gezeichnet hatte, bekam Konstantin nicht zu Gesicht.

Die Heimlichtuerei musste ein Ende haben. Ich brauche nur einen kleinen Testlauf, überlegte Konstantin abends im Bett. Ganz ohne Risiko, ohne Langzeitfolgen. Ich werde Julia ansprechen. Mutig. Im Traum werde ich sie einladen, mit mir im See baden zu gehen. Warum nicht?

Er fiel in ein Fass voll dicker Tinte. Dunkelgraue und schwarze Wolken umhüllten ihn. Schachbrettartige Stimmen murmelten. Feddefeddefeddefedde.

Konstantin ruderte mit den Armen. Die Stimmen verdichteten sich zu einem klaren Gewirr. Er landete am Rand des Schulhofs. Sein Freund René boxte ihm in die Schulter.

„Ab!“, sagte er. „Wenn es sich einer traut, dann du.“ Konstantin sah sich um.

René streckte den Arm aus und zeigte mit dem Finger. „Geh rüber! He, kein Grund mir den Arm zu brechen.“ Auf der anderen Seite stand Julia mit ihren Freundinnen.

Konstantin stiefelte los. Er kam an einem kleinen Baum vorüber, der sich seit Jahren bemühte, groß zu werden. Eine Kastanie, aber nicht ganz ernst zu nehmen.

Vor dem Jungen schlängelte sich ein Bach. Konstantin marschierte durch einen Wald. Vögel zwitscherten, hinter den Baumwipfeln klimperte die Sonne mit den Augen, nicht weit entfernt sprang ein Reh. In der Mitte einer Lichtung stand Julia allein. Konstantin trat dem sommersprossigen Mädchen entgegen. Sie grinste. „Na, auf dich habe ich gewartet“, sagte sie mit tiefer Stimme, die ihn an Benjamin Blümchen erinnerte. „Alle anderen haben mich schon gefragt. Findest du mich etwa hässlich? Oder glaubst du, ich bin dumm?“

Im Traum war Konstantin eloquent, leidenschaftlich und nie um den passenden Spruch verlegen. Er sprach. Was er sagte, verstand er nicht.

Julia lachte. Sie lachte und lachte, sie krümmte sich und es war nicht recht zu erkennen, ob vor Freude oder Schmerz. Das Mädchen wälzte sich im Gras. Konstantin wich einen Schritt zurück. Die Bäume rings um die Lichtung versanken, der Schulhof erschien. Hinter dem Jungen stand René.

„Was haste denn mit der gemacht?“

Konstantin zuckte mit den Schultern. Er reichte der am Boden Liegenden die Hand. Ihre Augen schauten genau in seine und ihm war, als sei darin der ganze Wald mit all seinen Bäumen, dem Bach und der Sonne vereint. Julia lächelte. „Heute Nachmittag um drei?“

Konstantin nickte. „Ja, klar.“ Er drehte sich um und ging zum Schulgebäude hoch. Die Treppe nahm kein Ende. Er stieg wohl an die hundert Stufen, bis er schließlich in seinem Bett erwachte.

„Schöner Blödsinn“, dachte er, „Dieses Talent kann ich getrost verschenken.“

Später, in der Hofpause, fragte René: „Warum Blödsinn?“

„Ein Wald auf dem Schulgelände“, sagte Konstantin, „und eine Julia, die mir zu Füßen liegt. Was soll das?“ Er lehnte sich an das Kastanienbäumchen.

„Hast du es schon ausprobiert?“

„Ich bin schon ein paar Mal über den Schulhof gelaufen. Glaub mir, da ist kein Bach.“

René überlegte. „Und wie oft wolltest du dabei Julia daten?“

Konstantin schüttelte den Kopf. „Was hat das damit zu tun?“

„Fakt ist: Du weißt es nicht“, sagte René. „Bist du gar nicht neugierig? Jetzt geh endlich rüber. Da steht sie.“ Er wies mit der Hand auf die andere Seite des Schulhofes. „Mit Mathe allein wird das nichts.“

Konstantin hielt den Arm seines Freundes fest.

„Du bist echt … stur. Da ist nix Wald.“

„Und wenn doch?“

Konstantin zog die Augenbrauen hoch. „Mach ich für den Rest des Jahres deine Hausaufgaben.“

René pfiff leise. Obendrein lächelte er. „Das heißt, du gehst.“

„Heißt es das?“

„Natürlich“, sagte René.

Konstantin holte Luft. „Okay. Und wenn ich Recht habe, datest du Theresa.“

René jaulte. „Sowas will mein Freund sein.“

Die Hände klatschten aufeinander. Langsam löste sich Konstantin von der Kastanie. Als er ein paar Schritte gegangen war, noch immer über grauen Beton, rief ihm René hinterher: „Auch Physik und Bio?“

Konstantin antwortete: „Denk lieber an Theresa, du Spinner.“ Er wandte sich der anderen Seite zu. Julia sah ihm über den Schulhof hinweg ins Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich skeptische Neugier. Konstantin wurde heiß. Hinter ihm wartete der sichere Hafen des Freundes. Aber er konnte sich nicht wehren. Eine riesige Flutwelle zog ihm den Boden unter den Füßen fort. Sie toste um ihn herum und wirbelte Konstantin an den warmen Sand eines Strandes. Schulhof, Gebäude und mickrige Kastanie waren verschwunden. Die tiefschwarze Oberfläche eines Ozeans schaukelte hinter ihm. Es war Nacht. Der Himmel sternenklar, der Mond leuchtete so gelb und groß, dass er das halbe Firmament zu bedecken schien.

Auf der Landseite erstreckte sich ein Dschungel aus Gebüsch und Felsen. Mitten darin konnte Konstantin einen gewaltigen Baum erkennen, dessen Krone in eine Decke aus Nebel wuchs. Ein echter Kastanienbaum.

Aus dem Dschungel heraus schlenderte René. Er setzte sich neben Konstantin und meinte: „Damit haste nicht gerechnet, oder?“

Konstantin schwieg. Sollte er mit einem geträumten René an einem geträumten Strand über Erwartungen diskutieren?

„Kein Traum – deine Welt!“, widersprach René seinen Gedanken.

Konstantin schüttelte den Kopf. „Davon gibt’s nur eine, und die hier ist es garantiert nicht.“

„Zeig mir die echte.“

„Wie soll ich dir aus einer geträumten Wirklichkeit heraus die wirkliche …“ Konstantin winkte ab.

„Alter, du träumst nicht.“

„Das würde heißen, ich wäre verrückt.“ Konstantin stand auf. „Wie kommen wir von hier wieder zur Schule?“

„Denk dir was aus.“ René stemmte sich hoch und klopfte den Sand von der Hose.

„Sehr witzig“, meinte Konstantin. Er dachte an einen Helikopter. Motorengeräusche knatterten über ihm, sanken aus dem Himmel herab, manifestierten sich zu einem Hubschrauber. In der Führerkabine flammte ein rotes Licht auf. Eine Lautsprecherstimme verkündete: „Bitte entfernen Sie sich vom Strand. Beachten Sie das Bundesnichtschwimmergesetz und helfen Sie uns. Wer hat Fedde? Ich wiederhole: Bitte entfernen …“

Eine Strickleiter klatschte auf den Strand. René sprintete los und erklomm die Leiter. Kaum war der Freund halb hoch geklettert, drehte der Hubschrauber ab. Er flog über das Meer fort.

Konstantin fühlte sich, als hätte jemand seine Füße eingegraben. Vom Strand entfernen, dachte er. Warum? Missmutig ging er in den Dschungel. Von der Kastanie aus konnte er sicher einen Überblick bekommen.

Doch die Krone des Baumes steckte noch immer in tiefstem Nebel fest. Keine fünf Meter hoch reichte Konstantins Blick. Der Junge hörte die Blätter rauschen. Dazwischen mischte sich eine Stimme. „Ich will sehen, wer du bist.“ Konstantin rieb sich die Ohren. „Wo steckst du?“, rief er.

Die Stimme wurde deutlicher: „Lass dir was einfallen.“ Es war ein Mädchen.

Konstantin fragte: „Was tust du da oben?“

„Komm hoch“, antwortete das Mädchen jetzt sehr klar.

„Komm du runter!“ Er ballte die Fäuste.

Julias Stimme kicherte. „Ich will sehen, wer du bist.“

„Dann sieh mich an. Hier stehe ich!“

Doch das Mädchen wiederholte nur: „Lass dir was einfallen.“

Konstantin umrundete den Baum und knurrte.

Er betrachtete den Stamm genauer. Was er zunächst für Rinde und Borke gehalten hatte, erkannte er nun als angepinnte Zettel, mit denen der Baum übersät war. Auf ihnen allen stand die gleiche Suchmeldung.

„Wer hat Fedde?“ las Konstantin die mit breitem Edding geschriebenen Buchstaben. Daneben das unscharfe Bild eines schwarzgrauen Hundes, eines exotischen Kuscheltiers oder eines Kleidungsstücks mit rätselhafter Funktion. Unter dem Text noch die dicken roten Worte „Belohnung garantiert“. Anstelle des i-Punktes strahlten Konstantin verspielte Herzchen an.

„Wer hat Fedde? – Woher soll ich das wissen?“

Der nächste Ast lag drei oder vier Meter über ihm. So hoch zu springen, wäre er nicht einmal im Traum in der Lage gewesen.

Träumte er denn? Wann hätte er eingeschlafen sein sollen?

Denk dir was aus, überlegte Konstantin. Denk dir was aus.

Noch ein Hubschrauber! Ein überdimensionaler Traumfänger schwebte über Konstantin hinweg. Die unterste Feder streifte die Haare des Jungen, ehe er im Dschungel verschwand.

Denk dir was aus.

Der Stamm der Kastanie war glatt, wie mit Seife eingeschmiert. An den wenigen Stellen zwischen den „Wer hat Fedde“-Zetteln, glänzte er. Konstantin mochte nicht versuchen zu klettern.

Ich bräuchte eine Leiter, dachte er. Das Zeug aus dem Dschungel taugt nichts, viel zu weich. Was man haben kann, will man nicht und das andere… tja. Genau wie bei Julia. Ich will mit ihr ausgehen, weiß aber nicht wie. Wer küssen kann, ist klar im Vorteil. Für die Erfahrung müsste ich sie wenigstens mal ansprechen. Um sie anzusprechen… Und so weiter, du weißt schon. Konstantin plumpste auf den Boden. Den Rücken lehnte er an den Stamm.

Nein, mein Herr, ich weiß nicht, dachte Etwas.

„Es wäre prima, wenn du dich zeigen könntest“, sagte Konstantin.

Warum? fragte Etwas. Ein einsamer Gedanke genügt doch als Anfang. Mit Verlaub, Sie stehen hier herum und tun nichts, Sie – verzeihen Sie den Ausdruck - Faultier.

„Halt die Klappe.“

Sie würden ein Mädchen nicht einmal ansprechen, wenn es Ihnen höchstpersönlich den Kiefer auf und zu klappt, Sie Schisser.

„Lass mich.“

Sonst?

„Vergiss es.“

Bald sind wohl Sie vergessen, verehrte Taubnuss.

„Du sollst mich in Ruhe lassen!“

Wenn sie mich fangen!

„Was?“

Fangen Sie mich! Ich bin schließlich Ihr Gedanke.

Konstantin arbeitete sich hoch. „Wo bist du?“

Hier, der Herr!

Irgendwo knapp über Konstantin klebte der Gedanke am Baum.

Konstantin schaute sich um. Er wollte sich eine Leiter denken. So sehr er seine Phantasie auch anstrengte, jede zerfiel sofort zu Staub, sobald er sie berührte.

Fangen Sie mich nun, Gütigster?

Der Junge schlich um den Baum herum. Wütend riss er einzelne Suchmeldungen ab. „Ich stopf dir deine vornehme Denkerei mit dem Geschreibsel zu.“ Er zerknüllte das Papier. Bald war der Boden mit Fetzen bedeckt. Feddefeddefeddefedde. Weiß ja nicht mal, wer oder was das sein soll, dachte Konstantin. Jungs- oder Mädchenname? Fräulein Fedde, bitte zum Diktat. Konstantin stampfte vor sich hin. Herr Fedde, würden Sie mir mal die Leiter reichen? Er ist Fedde, sie ist Fedde, du bist Fedde, wir, ihr, sie sind Fedde. Ich bin Fedde.

Ich? Wieso ich?, dachte Etwas.

Ich habe Fedde, dachte Konstantin und blieb stehen. Ich soll mir was ausdenken. Kein Problem. Was ich will, das ist Realität. Ich habe Fedde.

Mir scheint, Sie verstehen, dachte Etwas.

Wer Fedde hat, bekommt die Belohnung. Konstantin schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Es war so einfach. Er war groß. Er war stark. Er war ein Baum.

Konstantin stellte sich mit beiden Füßen fest auf die Erde und träumte nicht. Seine Wurzeln drangen tief in den Boden ein. Die Arme wurden zu Ästen. Er wuchs in die Höhe, durchstieß die Nebelbank. Darüber war es heller Tag. Seine Augen, von der plötzlichen Sonne geblendet, schauten in Julias Gesicht. Julia war die Kastanie.

Das Mädchen sah ihn an und lächelte. „Ich habe auf dich gewartet.“

„Hier bin ich“, sagte Konstantin.

„Ich sehe dich“, sagte Julia.

„Gut.“

„Du hast Fedde.“

„Ich bin ein Baum.“

Konstantin blinzelte in die Sonne. Eine Wolke schob sich dazwischen. Der Junge öffnete die Augen.

Er lag auf dem Schulhof. Über ihn beugte sich Julia. „Na? Gut geträumt?“

„Weiß nicht“, antwortete er.

Sie schaute ihn spöttisch an und ging los.

„Warte“, rief Konstantin. Julia blieb stehen.

Er sagte: „Alle anderen haben mich schon gefragt, du nicht. Bin ich dir zu hässlich oder hältst du mich für dumm?“

Sie half ihm hoch und noch im Aufstehen konnte er es nicht verhindern, zu sagen: „Heute Nachmittag um drei. Am See.“

Julia lächelte, nickte kurz und schwebte von dannen. Konstantin schaute hinterher.

Jemand schlug ihm anerkennend auf die Schulter. „Phantastisch, Alter“, sagte René. „Als wärste nicht von dieser Welt.“

„Was denn für ‘ne Welt?“

„Keine Ahnung. Vom Rumphilosophieren krieg ich Pickel“, sagte René. „Haste mal ‘n T-Shirt für mich? Bin nassgeschwitzt, als wär ich ins Meer gefallen.“

„‘n sauberes Hemd wär besser“, meinte Konstantin. „Wegen Theresa und so.“

Renés Hände warfen sich um Konstantins Hals. Einander würgend kabbelten die Freunde den Hof entlang, stolperten die Treppe hoch und rannten in das Gebäude, das hell in der gleißenden Mittagshitze lag. Die Schulglocke tönte.
 



 
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