Traumschatten

Liebe Franziska,
ich weiß nicht, war es dir von Anfang an klar? Aber spätestens am letzten Abend konntest du gar nicht anders, als es zu bemerken. Was den Männern so oft vorgeworfen wird, es ist wahr.
Nicht dass ich unsere ganz im Rahmen der Konventionen gebliebenen Abende nicht genossen hätte. Was ich dir zum Abschied sagte, dass mich deine Bekanntschaft sehr gefreut hat, ist eher noch untertrieben und bleibt weit zurück hinter der Freude, einen Menschen gefunden zu haben, der mit mir Zeit verbringt, der in gleichen Rhythmus wie ich durch den Wald geht, der mir erzählt, mir zuhört, mit mir lacht, mir die Einsamkeit in diesem Haus erträglich macht.
Du bist noch jünger, als ich gedacht hatte, und es sah so aus, als hättest du mir verziehen, dass ich dich älter geschätzt habe. Es ist schon erstaunlich, dass es dir etwas gegeben hat, mit mir altem, kranken Mann zusammen zu sein, wohlgemerkt, allein mit mir. Dazu kommt noch, dass meine Krankheit durchaus dazu angetan ist, Ekel zu erregen. Ich muss also für jedes Wort, dass du an mich richtest, für jede Verabredung, die du einhältst, für jeden Blick, den du erwiderst, dankbar sein, als wäre es ein Geschenk, das mir nicht im Entferntesten zusteht.
Das sagt sich einfach, das mit dem Dank. Die Wirklichkeit ist anders. Am letzten Tag unserer kurzen gemeinsamen Zeit habe ich schon angefangen, Ansprüche zu stellen, dich getadelt, dass du einen Teil des Abends mit Packen verbringen musst. Fürwahr, ein überaus dankbares Verhalten!
Dass meine geheimsten Wünsche ganz woanders hingehen, als dich mit Anekdoten aus meinem Leben aufzuheitern – anfangs habe ich es wohl ganz gut versteckt. Ist das schon Lüge? Aber stell dir nur vor, unsere Bekanntschaft hätte nicht einfach mit einer Einladung zum Tischtennis begonnen, sondern ich hätte stattdessen gesagt: ‚Eigentlich will ich ja in dein Bett, aber wir können auch erst mal zusammen Tischtennis spielen.‘ Ehrlichkeit hat eben auch ganz objektive Grenzen. Oder: Erstes Telephonat mit meiner Liebsten von der Kur aus, bin gut angekommen, ja, das Zimmer ist schön und hat einen angenehmen Ausblick, das Essen schmeckt so la la, aber horch mal, da ist eine junge Frau, die macht mich fertig, wenn ich sie nur von weitem sehe. Es ist doch keine Lüge, wenn ich das auslasse? Schweigen ist eben doch kein Betrug.
Schon mit dem Tischtennis fängt es an märchenhaft zu werden. „Können wir machen“ sprachst du in mein altes, faltiges Gesicht. Auch als es ernst wurde, Orte und Uhrzeiten ins Spiel kamen, machtest du keinen Rückzieher. War der Hammer. Nämlich weil mich das Spiel brutal an mein Alter erinnerte. Nach 20 Minuten musste ich um eine Pause bitten. Sehr freundlich, dass du mich mit dem Hinweis, du würdest auch schwitzen, getröstet hast.
Am nächsten Abend hat mich der Kurbetrieb bis nach sieben Uhr festgehalten, deshalb hatten wir uns erst für den nächstfolgenden Tag wieder verabredet. Als ich die letzte Anwendung endlich hinter mir hatte, stieg ich die paar Schritte zum Wald hinan.
Das Leben ist voller Möglichkeiten. Die meisten bemerken wir gar nicht. Andere, die unglücklicheren blenden wir – absichtlich oder unbewusst – aus, solange wir ihnen nicht angstvoll ins Auge sehen müssen. Noch andere beschäftigen uns als Hoffnung. Teils als Lebenstraum, teils als kurzfristige Träumerei, wobei, diese Träumereien, vielleicht sind sie nichts anderes als die einzelnen Kapitel unseres Lebenstraums. Die kleinen Träume werden, wie bescheiden sie auch sein mögen, in den meisten Fällen nicht Wirklichkeit. Ich habe den Verdacht, dass noch die unschuldigste Phantasie lebensfremd genug ist, dass man ihr Eintreten besser nicht erwartet. Und so wird es dich nicht wundern, dass ich, wann immer wir im Haus, im Städtchen, im Wald getrennte Wege gingen, von einer unverhofften Begegnung mit dir phantasierte, ja nahezu visionäre Empfindungen hatte, die, wenn sich ihre Unwirklichkeit herausstellte, Enttäuschung hervorriefen.
Also, die Sonne sank schon in die am Weg stehenden Büsche und ich schritt dem Waldrand zu. Zwei Wanderwege kreuzen sich dort, ich sah den Wegweiser, ich sah die Bank, die dabei stand, sie war besetzt. Kein Problem, ich wollte weiter. Als nächstes fiel mir das T-Shirt auf, es hatte dieselbe Farbe wie das, das ich zuletzt an dir gesehen hatte. Als ich nahe genug heran war, warst du es wirklich und ludst mich mit einer Handbewegung ein, mich zu dir zu setzen. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann zum letzten Mal ein Traum so in Erfüllung gegangen ist. Ja, ich will mich noch höher versteigen: Es war eine nie gekannte Erfahrung, dich dort sitzen zu sehen, als hätte der Herrgott persönlich ein Erbarmen gehabt und dich so platziert, dass ich dich treffen musste. Kein Mensch weit und breit zu dieser vorgerückten Abendstunde, ein wohliges Gefühl herbeigewünschter Zweisamkeit stellte sich bei mir ein und ich müsste mich sehr irren, wenn dir das Sitzen mit mir in der Abendsonne nicht auch angenehm gewesen ist.
Ich habe viel und wohl auch ein wenig aufgeregt geredet. Sorgfältig habe ich aufgepasst, dass der Rahmen eines Plauschs zwischen zwei zufällig zusammengetroffen Bekannten nicht überschritten wird, dass ich nicht unversehens näher rücke, dass ich dich nicht auf ganz persönliche, vielleicht sogar intime Dinge anspreche. Selbst meine Blicke waren kurz und verstohlen. Vielleicht zu verstohlen um unauffällig zu bleiben? Vielleicht habe ich zu viel, zu privates von mir erzählt? Ein ganz neutrales Thema über Energieformen und Elektromobilität habe ich abgewürgt. Das wollte ich nicht.
Jedenfalls warst du bereit, dich am nächsten, deinem letzten Abend wieder mit mir zu treffen. Du trafst nicht mehr denselben. Ich weiß, ich war inkonsequent, war schwach, war vielleicht eine Zumutung. Mit dem inzwischen eingetretenen Abstand, kommt es mir sogar so vor, als hättest du dich kühler zu mir verhalten. Ich begann, Gelegenheiten, dich zu berühren, auszunutzen, schaute dir unverfroren aus nächster Nähe ins Gesicht, gierte nach einem Lachen, das mich frontal traf, fragte, warum du so dünn bist. An einem Stück schmalen Wegs ließt du mich voran gehen. Klar, du musstest ja befürchten, dass ich den Blick nicht von deinem Arsch wenden kann, wenn ich als letzter gehe.

So weit die äußere Geschichte einer Kurbekanntschaft. Aber es gibt noch eine innere, an der du nicht beteiligt gewesen bist. Von uns existieren ja in den Gehirnen unserer Mitmenschen zahllose Abbilder, die ein Eigenleben führen, das wir nicht beeinflussen können. Manche Abbilder, die ich von meinen Mitmenschen in mir trage sind statisch wie Gemälde. Die rufen, wenn sie aus den Tiefen des Gedächtnisses auftauchen auch kaum Emotionen hervor. Andere erweisen sich als sehr lebendig, handeln, verhalten sich freundlich oder abweisend zu mir, zeigen Trauer, Freude, Ärger und rufen solche Empfindungen auch bei mir hervor. Ja und eine Frau, der ich mich so intensiv zuwende wie dir, ist äußerst lebendig in meinem Gehirn und stellt die verrücktesten Sachen an. Gerade weil ich die Intensität der Zuwendung dir gegenüber zu verbergen versuche, wird die innere Franziska um so lebendiger.
Ich habe mich fürchterlich in dich verliebt.
Entschuldigung, vergiss es.
Was mir mein Gehirn am häufigsten vorgaukelte, bist du, die plötzlich in meiner Zimmertür steht. Du wirst mich verabscheuen, wenn ich alles erzählt haben werde. Natürlich überfallen mich die Bilder vor dem Einschlafen, die Dunkelheit im Zimmer macht sie farbiger. Ich rufe sie nicht, im Gegenteil, denn sie sind die Boten einer schlaflosen Nacht. Du sagst nichts, ich grinse über beide Backen. Dann werde ich meiner Nacktheit gewahr. ‚Wenn du nicht gezwungen sein willst, einen Arsch zu erblicken (ich spreche in der Vision tatsächlich dieses Dieter-Hildebrandt-Zitat), müsstest du schnell noch einmal vor die Tür oder ins Klo und Tür zu. Ansonsten steht noch der Schrank zur Verfügung.‘ Du verschmähst es, dich vor meinem mit Verfallserscheinungen gezierten Körper zu verbergen. Ich springe aus dem Bett und habe in Sekundenbruchteilen den Schlüpfer hochgezogen und eine frische Vorlage eingelegt. Auf Socken verzichte ich, obwohl ich meine Füße eigentlich nicht gern zeige, ziehe Hose und T-Shirt über. ‚Setz dich!‘ Ich weise auf den Sessel, die einzige Sitzgelegenheit und setzte mich selbst auf die Bettkante. Beide behalten wir unsere Hände bei uns. Das Schweigen ist eigentlich nicht drückend, es ist wie eine Pause, eine kurze innerliche Vorbereitung, was passieren wird, ist klar, wir werden unsere Körper zueinander bringen wollen. ‚Ich bin seit der Operation impotent.‘ Es fehlen immer deine Antworten. Wollte ich Kitsch produzieren, legte ich dir ‚Das macht nichts.‘ in den Mund. Ein solcher Satz kam in der Vision aber nicht vor. Ich hole Luft. Ein paar Sätze zu meiner Situation erscheinen mir notwendig. ‚An meiner Empfindungsfähigkeit hat sich gar nichts geändert, es gibt keinen Grund mich nicht zum Ziel führen zu wollen. Es sieht nur so aus, als wäre ich nicht auf Sex eingestellt. Du brauchst den Baumel-Willi auch gar nicht beachten, entgegen landläufigen Vorstellungen von männlicher Sexualität habe ich mehr erogene Zonen, als du glaubst. Es gibt aber noch etwas viel Schlimmeres. Du wirst aufstehen und gehen, wenn ich es gesagt habe. Ich habe zwar die Phase der Inkontinenz erfolgreich überwunden. Wenn ich heftigen Gemütsbewegungen ausgesetzt bin, passiert es aber immer wieder, dass sich ein Spritzer Urin löst. Ich kann für nichts garantieren.‘ Deine Hand legt sich auf meinen Oberschenkel, dein Kopf neigt sich mir etwas entgegen. Mehr Antwort brauch ich nicht. ‚Koitus muss freilich ausfallen. Ich werde alles tun, dir mit dem, was mir bleibt – Hände Zunge und wenn du willst Füße, Hinterkopf oder was auch immer – Lust zu bereiten. Cunnilingus, G-Punkt-Massage, was immer du willst, sag es mir.‘ Auch die Muttermundmassage zu erwähnen traute ich mich nicht. Dafür ergriff, ja überschwemmte mich die Vorstellung – diese intensive Art Vorstellung, von der dieser ganze Text handelt –, ich würde mir bereits deinen Kitzler in den Mund saugen. Ich schließe fest die Vorhänge. Das Bett ist eindeutig zu schmal. Wir schieben Tisch und Sessel an die Wand, das Bett hinterher, so weit es geht. Die Kurverwaltung hatte mich doppelt mit Bettüberzügen ausgestattet, die kamen auf den Teppich, die Matratze mit dem Laken auf den einen, die Bettdecke auf den anderen Überzug.
Ende der Vision. Kein Traum. Ich war die ganze Zeit wach. Man sollte meinen, es läge in meiner Macht, das Geschehen weiter auszuspinnen. Geht nicht. Absichtsvolle Gedanken bleiben trocken, spröde und zerbröseln, bevor sie sich zu einem vernünftigen – oder auch unvernünftigen – Geschehen zusammenfügen lassen. Es ist nicht anders als bei einem Verhinderungstraum: Ich gehe und gehe, komme aber nicht von der Stelle. Ich phantasiere eine Liebesnacht mit dir, aber die Erfüllung bleibt mir vorenthalten. Unruhig wälze ich mich im Bett, an Schlaf ist nicht zu denken, Selbstbefriedigung unmöglich. Dabei ist es doch ein so hoffnungsvoller Anfang, du in meiner Zimmertür. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mein Gehirn eine Wiederholung produziert. Ich bin ein Gefangener meiner Begierden.
So also geht es mir. Wie das bei dir ankommt, wage ich gar nicht, mir auszumalen. Ich habe gehört, dass Frauen einen Ekel davor empfinden, dass Männer sie sich beim Sex vorstellen. Vielleicht sollte ich dem Brief eine Warnung voranstellen. Ich werde wohl nie wieder von dir hören.

Mit deiner Abreise machten solche Visionen anderen Bildern Platz. Der Gedanke daran macht mich jetzt noch ganz beklommen. Ich kann es nicht einordnen. Mein Gehirn hat dich ermordet. Wieder muss ich noch einen Satz anfügen, damit du mich nicht falsch verstehst: Ich hege keinesfalls Mordgedanken oder auf andere Art Rachegelüste gegen dich. Ich war bestürzt, ach was, bestürzt ist gar kein Ausdruck, über das, was mein Gehirn dir angetan hat. War es der Ausgleich dafür, dass ich dich mit mir zusammen das Zimmer umräumen sehen durfte? Oder war es einfach die Steigerung dessen, dass ich unser erotisches Zusammensein nicht sehen konnte?
Wir machten Entspannungsübungen, acht Patienten, jeder auf seiner Matte liegend. Die Therapeutin führt unsere Gedanken: Stellen sie sich ihren Körper vor, nehmen sie bewusst die Stellen wahr, an denen er die Matte berührt. Zeichnen sie in Gedanken die Form nach, mit der diese Stellen die Matte berühren, den Hinterkopf, die Schultern, den Po, die Fersen. Jetzt machen wir dasselbe mit jenen Körperstellen, die die Matte nicht berühren.
Ich habe die Augen geschlossen und folge den Anweisungen der Therapeutin. Schon nach wenigen Sätzen schaltet mein Gehirn um. Ich selbst verschwinde einfach, löse mich auf. Statt dessen fühle ich, wie dein Körper auf der Matte liegt, umreiße gedanklich den Bereich, auf dem deine Schulterblätter ruhen, spüre, wie deine Fersen das Gewicht der Unterschenkel auf die Matte übertragen. Du hast schon richtig gelesen, ich habe mich nicht verschrieben, deine Fersen habe ich gespürt, nicht meine. Und gespürt habe ich sie, nicht mir vorgestellt. Und da sagt die Therapeutin: „Stellen sie sich vor, den Körper an seiner Mittellinie zu teilen“.
Apokalypse. Heißer Höllenwind. Horrortrip. Schmerz durchrast meinen Körper. Ich sehe Blut und höre Knochen krachen. Du stirbst wie ein aufs Rad geflochtener mittelalterlicher Bösewicht. Das Teilen geht in die Vorstellung des Pfählens über (keine Ahnung, ob man das mit Frauen gemacht hat).
Der Schrei hat sich nur fast aus meiner Kehle gelöst, so sehr war ich dann doch nicht in der Vision befangen. Aber ich habe mich auf die Seite gerollt und gekrümmt vor Schmerz. Ich wollte nur weg. Die grausamen Bilder waren zwar schnell unterdrückt, aber die weiteren Worte der Therapeutin habe ich nicht gehört. Meine Brille war klappernd neben die Matte gefallen. Irgendwann habe ich mich aufgerafft, bin aufgestanden und habe den Raum verlassen. Im meinem Zimmer saß ich lange unbeweglich auf der Bettkante.
Mein rationaler Kopf weiß, dass dir nichts passiert ist, dass es eine Ausgeburt meines metaphysischen Kopfes ist. Der Schreck klang nach und nach ab. Aber, wie kann man nur so eine Aufforderung aussprechen? Oder wäre es, hätte mein Kopf nicht die Körper vertauscht, ganz harmlos geblieben? Alle anderen sind ja seelenruhig liegen geblieben. Ich werde es nie erfahren. Die grausamen Bilder werden mich verfolgen, steigen in meinem Inneren auf, versinken wieder. Vielleicht wirst du sagen, solche Bilder sieht man in jedem zweiten Film. Das ist ganz etwas anderes, das kommt von außen. Dein Tod ist in mir drin. Ich werde dich nie wiedersehen.
 



 
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