Traumweber

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Die Wohnung war fremd. Kathleen hatte nicht dabei sein können, als Vati, Mutti und ihr älterer Bruder Jan sie bezogen hatten. Sie war erst gestern heimgekommen, in diese unbekannten Räume, die ihr genau das noch nicht waren - Heim. Neugierig war sie durch Flur und Zimmer gewandert; ja, hier konnte man das - Wandern. Das neue Domizil hatte eine Fläche von fast zweihundert Quadratmetern. Es gab diesen langen Gang, den sie mit ihren Rollerblades befahren hatte, um dann an seinem Ende nach links, in ihr Zimmer abzubiegen, ihr erstes eigenes Reich.

In der alten Wohnung hatten Jan und sie einen gemeinsamen Raum gehabt, der gerade genug Platz für ihre Betten, zwei Stühle und einen kleinen Tisch bot. Die Kleidung hing damals im Schlafzimmerschrank, von wo sie Mutti holte, wenn die Kinder frische Sachen brauchten.
Das, was sich hier um sie schloss, als sie hinein rollerte, war ... ein Palast. Die Eltern hatten die alten Möbel weggeworfen und ihr Zimmer komplett neu eingerichtet. Alles war bunt. Ein blauer Himmel mit weißen Wölkchen erstreckte sich über die Zimmerdecke, in der Ecke, in der das eichenhölzerne Bett stand, war die Wand mit einer Fototapete beklebt, die eine Waldszene zeigte. Die Szene ging in die Darstellung einer Hügellandschaft mit grünen Wiesen und goldenen Feldern über und endete in der gegenüberliegenden Ecke in einer Aussicht vom Dach eines Hochhauses, von wo man den Blick über eine fantastische Stadt genießen konnte. Dort stand ihr Arbeitstisch, auf dem ihr neuer Computer seinen Platz hatte. Ein riesiger flauschiger Teppich lud auf dem Parkettboden ein, sich darauf auszustrecken und den Blick in den Deckenhimmel zu versenken.


Kathleen war sprachlos gewesen. Den ganzen Rest des Tages hatte sie mit ihren Erkundungen der neuen Heimat verbracht. Und nun lag sie zum ersten Mal in ihrem Bett und fand keine Ruhe. Vati hatte ihr die Schalter gezeigt, die sich am Kopfende befanden. Er hatte an alles gedacht. Der linke Knopf schaltete das Nachtlicht ein, während der mittlere leise Musik erklingen ließ. Der ganz rechts angebrachte Taster diente als Notruf.
Kathleen mochte ihn nicht, trotzdem wusste sie, dass er wichtig war, sollte sie ...
Sie schaltete das schummrige Nachtlicht ein, was den Tapetenwald in ein zauberhaftes bläulich-weißes Licht tauchte, das einen erwarten ließ, gleich träte hinter einem der dicken, bemoosten Stämme ein Einhorn, ein Zwerg oder eine Waldnymphe hervor.
Ihr Kopf tat weh - wieder - und wieder so schlimm. Unwillkürlich griff ihre Hand zu der Stelle, an der die kahle Haut von der Narbe ...
Sie tastete nach der Stelle, in der sinnlosen Hoffnung, sie könne den Schmerz durch die Wärme lindern. Das klappte nicht, hatte es noch nie ...


Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie ließ ihren Blick wandern. Da! Unter dem kleinen Wandregal, das die Eltern über dem Bett angebracht hatten, saß ... eine dicke Spinne. Eine kleine Furcht beschlich Kathleen. Was, wenn das Vieh in der Nacht herab käme und ...? Sie wagte nicht, weiter zu denken. Mit verhaltenem Atem beobachtete sie, wie das hässlicheTier sein Netz spann, unaufhaltsam, als gäbe es nur diese winzige Ecke und nur dieses Werk.
„Du musst Dich nicht fürchten", hörte Kathleen eine kleine Stimme sagen. Sie riss die Augen weit auf und schaute sich im Raum um.
„Du hast mich schon gesehen. Ich bin über Dir, an der Wand."

Kathleens Augen wandten sich wie von selbst wieder dem netzbauenden ... Ding zu. Das war doch verrückt! - Spinnen sprachen nicht. Niemals! Sicher war das ein Anfall. Sie tastete nach dem Notruf-Knopf.
„Warte!" Sie erstarrte mitten in der Bewegung.
„Ich bin kein giftiges Ungetüm, wie Du vielleicht denkst. Ich bin ein Traumweber. Lass mich Dir zeigen, was ich zu tun vermag!"
Es war seltsam. Diese Worte beruhigten Kathleen ein bisschen, mehr noch, sie richtete sich in ihrem Bett auf und betrachtete das achtbeinige Tier genauer. Es war ... anders als alle Spinnen, die sie bisher gesehen hatte. Auf dem dicken Hinterleib schien sich ein Sternenhimmel auszubreiten. Als sie sich hinkniete und ihr Gesicht - sehr vorsichtig - ganz nahe zum Netz der Kreatur brachte, sah sie, dass dort, auf samtblauem Hintergrund, winzige Sterne blinkten.
„Siehst Du?", ließ sich die Spinne wieder vernehmen. „Ich bin kein Monster. Lass uns gemeinsam einen Versuch unternehmen! Lege Dich hin und entspanne Dich!"
Unwillkürlich nickte Kathleen und sank wieder auf die Matratze zurück. Sie zog ihre Daunendecke bis zum Kinn, mummelte sich gemütlich ein und richtete ihren Blick auf die ungewöhnliche Spinne, deren Stimme erneut in ihrem Kopf ertönte: „Schließe Deine Augen! Ich will Dir einen Traum weben."

Kathleen tat, wie ihr geheißen. Der Schmerz, der wie ein riesiges Gewicht auf ihrer Schädeldecke gelastet hatte, verebbte langsam und war nach ein paar Augenblicken beinahe völlig verschwunden. Mit einem Mal nahm sie eine winzig kleine Kugel wahr, eine Perle, die in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Dieses Gebilde schwebte leuchtend im Raum, begann, sich auszudehnen, wuchs zur Größe eines Balles, eines Ballons ... und plötzlich umschloss es Kathleen.

Als sie sich umschaute, befand sie sich in einem Wald.
Halt! Das war nicht irgendein Forst, sondern derjenige, dessen Bild ihr Bett umgab. Es roch nach feuchter Erde und modrigem Unterholz. Sie drehte sich um sich selbst und entdeckte einen Pfad, der sie lockte, ihm zu folgen. Die Vögel sangen, ein lauer Wind strich durch die Baumwipfel, durch die hier und da goldene Sonnenstrahlen fielen. Sie ließen auf Blättern und Zweigen zauberhafte Lichteffekte entstehen, die beinahe lebendig wirkten. Tiefer Frieden lag über der Szene. Kathleen schlenderte neugierig den Weg entlang, an dessen Rand zarte, bunte, herrlich duftende Blümlein wuchsen. Sie pflückte einige davon und wand sich einen hübschen Kranz, den sie auf ihrem Kopf platzierte.
 Moment! Ihr Schädel war nicht mehr unbehaart, sondern trug volles blondes Haar, das ihr in dichten Wellen auf die Schultern fiel, so, wie es früher gewesen war, bevor die Kopfschmerzen ... Sie nahm den Kranz wieder ab und strich gedankenverloren mit der freien Hand über ihr Haar.

Kathleen wanderte weiter. In der Nähe plätscherte ein Bach. Sie eilte dorthin, nahm den Kranz ab und betrachtete sich im klaren Wasser einer Biegung, wo das Fließen fast zum Stillstand kam. Sie war ... gesund, mit wallendem Haar, dichten Augenbrauen und einer Haut, die keine Spuren des Ausschlags der letzten Wochen zeigte, sondern glatt und rosig ihr Gesicht bedeckte. Still, andächtig beinahe, setzte sie sich ihre Blumenkrone wieder aufs Haupt. Dann riss sie sich von dem Bild los und kehrte zum Pfad zurück. Glück durchströmte ihr Bewusstsein. Sie begann zu hüpfen und zu tänzeln und nach wenigen Momenten wirbelte sie singend über die ausgetretene Erde des Weges.
Diese Stimme! - Nichts war geblieben, vom schwachen, brüchigen Krächzen, das sie von sich gegeben hatte, nach der ... Therapie.

Der Wald lichtete sich und die Landschaft erstreckte sich sonnenbeschienen vor ihr. In der Ferne sah man ein Dorf, über dem, auf einem steilen, hohen Felsen eine prächtige Burg stand. Goldene Fahnen wehten im Sommerwind und es schien Kathleen, als riefen sie nach ihr. Sie eilte zwischen Wiesen und Feldern dahin, ohne die Atemlosigkeit, die sie so gequält hatte. Ihre Brust hob und senkte sich kraftvoll, das Herz schlug mit Macht, pumpte Leben durch die Adern.
Endlich erreichte sie das Dorf. Eine Gruppe von Menschen trat ihr entgegen, in Leinenkleider gehüllt und geschmückt, als gelte es, einen Festtag zu begehen.

„Willkommen, Prinzessin Kathleen!", riefen alle ...

Der Festzug geleitete sie den steilen Weg entlang, zur Burg empor. Dort erwartete sie eine ebenso festlich geschmückte Hofgesellschaft. Man führte sie vor den Thron, auf dem das Königspaar saß, Mutti und Vati.

Eine leise, lockende Melodie ertönte, die immer lauter wurde. Kathleen schaute sich um. Sie schlug die Augen auf und sah den Einhorn-Wecker, von dem die Musik ausging. Das Horn der kleinen Plastikfigur leuchtete rhythmisch. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder zurechtfand, in der Wirklichkeit.
Was ihr von dieser Nacht blieb, war eine neue Freude, eine Kraft, wie sie sie seit langer Zeit nicht gefühlt hatte. Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Rollschuhe. Dann durchquerte sie den langen Flur, rollte in die Küche hinein, wo die Eltern saßen, die gemeinsam mit Jan frühstückten.
Mutti machte große Augen.

„Nanu, mein Schatz, Du bist schon munter? Willst Du Dir nicht etwas Wärmeres anziehen, damit Du nicht frierst?"
Vati betrachtete sie und staunte. "Du siehst frisch aus. Hast Du gut geschlafen?"
„Sehr gut sogar", sagte Kathleen und kletterte auf seinen Schoß.
Sie verspeiste eine ganze Schüssel Müsli, das ihr mundete, als sei es eine besondere Delikatesse.


Später, als die Eltern und ihr Bruder Jan gegangen waren, kehrte Kathleen in ihr Zimmer zurück und schaute nach der Spinne. Die ruhte in ihrem fertiggestellten Netz und schien sie zu beobachten.
„Danke, Traumweberin!", flüsterte das Mädchen und betrachtete das Wesen ganz ohne Ekel und Furcht.
Von nun an, wob das Zaubertier allnächtlich seine wunderbaren Träume für Kathleen, der es zusehends besser ging. Bald kam der Tag, an dem sie in die Schule zurückkehren konnte. Wenige Tage später ging sie zum ersten Mal mit ihren Freunden zum Spielen, fuhr, als ein Monat vergangen war, mit ihnen gemeinsam mit dem Rad zum Badesee und wanderte, nach einem weiteren Monat, im Kreise ihrer Kameraden zu der alten Burgruine, die hinter dem Osbecker Wald lag, an der Bahnstrecke, die sich unweit des Baches durch Felder und Wiesen wand.

Das Leben wurde wieder ... schön, bis zu dem Tag, an dem Kathleen plötzlich, mitten im Ballspiel, zusammenbrach und der Schmerz erneut in ihrem Kopf explodierte. Die Freunde riefen einen Krankenwagen, der sie nach Hause transportierte. Die Eltern packten ihre Sachen zusammen und brachten sie ins Krankenhaus. Von all dem nahm Kathleen nichts wahr. Sie spürte nur den Schmerz ... Erst als die Infusion zu wirken begann, an die man sie in dem schmucklosen weißen Zimmer der Intensivstation angeschlossen hatte, wurde die Welt wieder erkennbar.
Mutti saß an ihrem Bett und hielt ihre matte Hand fest.

„Alles wird gut, mein Schatz", sagte sie und strich ihr über den Kopf mit den zaghaft wachsenden Haarstoppeln. „Dein Zimmer wartet auf Dich. Und ich habe auch die hässliche Spinne entfernt, die da an der Wand ..."


Die Welt verschwamm und Kathleen nahm nichts mehr davon wahr. Nur in ihrem schmerzgepeinigten Kopf erklang, wie aus weiter Ferne, die kleine Stimme:
„Lebe wohl!"
 



 
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