Treuchtlingen

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anbas

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Treuchtlingen

Kennst Du Treuchtlingen? Ich bis eben nicht. Doch nun bin ich hier. Zwischenstopp auf meiner Fahrt von Hamburg nach Ingolstadt. Eigentlich sollte ich ganz woanders sein. Doch wegen Bauarbeiten wurde mein ICE umgeleitet, und ich muss in Treuchtlingen umsteigen. Hätte ich mir meine Reiseunterlagen genauer angesehen, dann wäre ich nicht so überrascht gewesen, als mir das vor etwa zwanzig Minuten auffiel.

"Write a poem", sagte der Amerikaner mit dem ich mich während der Fahrt ein wenig unterhalten hatte. Er begleitete seine Frau zu einem literarischen Kongress in Österreich. Beide waren früher als Professoren an verschiedenen deutschen Universitäten tätig gewesen. Doch ihr Deutsch und mein Englisch waren zu eingerostet, um sich wirklich gut unterhalten zu können. Auf jeden Fall hatten sie mir ein wenig von ihrer Arbeit und ihrer Liebe zu Bayern erzählt, und ich ihnen, von Hamburg und dass ich in meiner Freizeit schreibe.

"Write a poem, " sagte er, als ich ihm erzählte, dass ich gleich 45 Minuten Aufenthalt in einem Ort haben werde, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Nun bin ich also hier in Treuchtlingen. 45 Minuten Wartezeit – so dachte ich jedenfalls. Doch der Anschlusszug verspätet sich um 30 Minuten… nein, 35 – gerade springt die Anzeige um.

Treuchtlingen – ein Ort so spannend wie sein Name. Die Freundin in Ingolstadt kennt die Stadt. Ich habe sie angerufen, um ihr die Verspätung mitzuteilen. Sie lacht.

"Treuchtlingen ist das Tor zur Welt. Nach 3-4 Minuten Treuchtlingen, will man in die Welt hinaus."

Sie wird die Verspätung im Internet verfolgen. Ich brauche sie nicht wieder anzurufen. Habe also 45 Minuten plus X Zeit. Es ist ein milder Sonntagnachmittag im Frühling. Gehe um den Bahnhof herum. Den Trolley ziehe ich hinter mir her. Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich diesmal weniger als sonst eingepackt habe. Der Koffer und der kleine Rucksack reichen aus. Etwa 100 Meter entfernt sehe ich einen mächtigen Kirchenbau. Schlendere hinüber. Auf einem Zettel an der Infotafel in der Nähe des Eingangs entschuldigt sich der Pfarrer dafür, dass er aus gesundheitlichen Gründen für einige Zeit ausfällt, und bittet um Gebete.

Weiter in den Ort hinein will ich nicht gehen. Es gibt nichts, was mich dazu reizen würde – erst recht nicht, mit dem Gepäck, das ich bei mir habe. Auf dem Stadtplan schräg gegenüber der Kirche sehe ich, dass es ein Schloss gibt. Werde zu Hause mal googeln. Wenn ich Pech habe, dann ist es ein super-wichtiges Schloss, das ich unbedingt hätte sehen müssen. Das wäre dann wirklich großes Pech – wer weiß, ob und wann ich jemals wieder hierher kommen werde.

Ich gehe zurück zum Bahnhof. Die Straße heißt "Bahnhofstraße". – Wie viele "Bahnhofstraßen" es wohl in Deutschland geben mag? Während einer Wanderung war ich mal in einem mir fremden Ort gelandet und wollte von dort aus in mein Quartier zurückfahren. Ich stieß auf die Bahnhofstraße und dachte, dass ich nun meine Rückfahrmöglichkeit gefunden hätte. Doch die Straße führte gar nicht zum Bahnhof, was ich aber erst nach fünfzehnminütigem Herumirren feststellte. Dieser war schon vor Jahren platt gemacht worden, nachdem man lange Zeit zuvor den Bahnverkehr eingestellt hatte. Ich musste damals den Bus nehmen.

Hier in Treuchtlingen wird man den Bahnhof sicherlich nicht platt machen. Auf jeden Fall nicht in der Zeit, in der ich hier bin. – Obwohl der Bahn inzwischen fast alles zuzutrauen wäre. Also lasse ich mir auf meinem Rückweg Zeit. Nein, diesen Bahnhof wird es noch lange geben. Es ist ein großer Bahnhof mit sieben Gleisen und mit Fahrstühlen, die zu ihnen führen. Fahrstühle, bei denen man auf der einen Seite ein- und auf der gegenüberliegenden Seite der Kabine wieder aussteigt. Die Benutzung dieser Fahrstühle wird einer meiner Höhepunkte in Treuchtlingen sein. Auch einen großen Kiosk gibt es hier. In ihm werden neben den üblichen Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten auch Gebäck, heiße Getränke und Würstchen verkauft. Den haben sie sicherlich nur gebaut, weil man wusste, dass der ICE Hamburg – München nach Treuchtlingen umgeleitet wird. Und dann hat man ganz gezielt für lange Wartezeiten und Verspätungen der Züge gesorgt. Jetzt ist dieser Kiosk sicherlich eine Goldgrube.

Lautsprecher schallen über die Gleise. Eine Frauenstimme mahnt, man solle sein Gepäck nicht unbeaufsichtigt lassen. Ich sehe keine zwanzig Menschen – auf alle Bahnsteige verteilt. Lethargisch blicken sie in die Richtung, aus der sie ihren Zug erwarten, rauchen oder starren einfach so vor sich hin. Ja, Treuchtlingen scheint ein gefährliches Pflaster zu sein.

Ich betrete den Kiosk und entdecke Postkarten. Postkarten von Treuchtlingen! Die Postleitzahl ist vierstellig – also schon etwas älter. Damals schien es ein schöner Ort gewesen zu sein – nun, vielleicht ist er es ja immer noch. Wenn nicht, dann hatten sie einen guten Fotografen zur Hand.

Ich kaufe eine Karte. Habe genug Zeit zum Schreiben von Urlaubsgrüßen. Briefmarken gibt es am Automaten neben dem Bahnhof. Gleich nachdem ich die Marke geholt habe, fährt ein Auto zügig vor. Der Fahrer steigt aus, geht im Laufschritt zu dem Briefkasten, der neben dem Automaten steht und am nächsten Tag geleert wird, wirft einen Brief ein und eilt dann zu seinem Wagen zurück, um gleich darauf rasant wieder fortzufahren. Wow, hier in Treuchtlingen geht wirklich die Post ab, da ist was los.

Setze mich auf eine Bank an Gleis 1, hole aus meinem Rucksack einen Kugelschreiber hervor und beginne den Urlaubsgruß mit den Worten:

"Kennst Du Treuchtlingen? Ich bis eben nicht…"


(Treuchtlingen, am 28.04.2013, nach dem Schreiben einer Postkarte. Meine Entschuldigung geht an alle Treuchtlinger und Treuchtlingen-Fans – aber das musste damals einfach raus…)
 

revilo

Mitglied
..wieder mal eine herrliche nebensächliche Geschichte von Meister anbas....sehr gerne gelesen......

Lg revilo
 

revilo

Mitglied
aber immer wieder gerne..kannst Du Dich in dem Kaff nach dieser Story noch blicken lassen? Oder bewerfen Dich die Anwohner mit Katzenscheiße, wen Du dort mal wieder auftauchst..:D......

LG revilo
 



 
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