Triage (V-XII)

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V.



Sie waren auch diesmal nicht die einzigen in der Fahrzeughalle.

„Sind das nicht die Kollegen von gerade?“, fragte Leszek, als er die Türen hinten geöffnet hatte.

Tatsächlich sahen sie Schönel und dessen Team gerade noch vor sich durch die Automatiktür verschwinden.

Otte konnte nichts sagen. Er glaubte, jeden Moment in seinem Anzug ersticken zu müssen, während ihm bei der Herzmassage immer wieder die Arme einknickten.

Mats kam um das Fahrzeug herum. Er bewegte sich immer noch wie ein Roboter.

„Mats, nimm dir einen Schutzanzug und hilf uns bitte“, sagte Leszek.

Mats gehorchte. Im Wechsel bauten zwei von ihnen die Geräte um, während einer weiterdrückte.

Um die Trage von der Ladefläche zu bekommen, mussten sie die Herzdruckmassage kurz unterbrechen. Sie waren mittlerweile bei der fünften Adrenalingabe angekommen, und noch immer regte sich das Herz der Patientin nicht. Kaum stand die Trage auf festem Grund, schwang sich Leszek rittlings auf die Patientin, um das Herz auch während der Fahrt in den Schockraum massieren zu können. Das Ganze ähnelte mittlerweile mehr einer Weltraum-Rodeo-Show als einer ernsthaften medizinischen Behandlung.

Als sie durch die Automatiktür rollten, wich das Personal der Notaufnahme vor ihnen zurück.

„Schockraum zwei!“, rief ihnen jemand zu.

Der Weg war kurz. Als die nächste Schiebetür aufging, sahen sie sich einem Ring wartender Menschen gegenüber, die genauso vermummt waren wie sie. Immerhin, die Leitstelle schien die Information einigermaßen korrekt weitergegeben zu haben.

Eine junge Frau, deren Haube die blonden Haare nicht vollständig bedeckte, trat aus dem Halbkreis um die Schockraumliege hervor.

„Erst Übergabe oder erst Umlagern?“, fragte sie und musterte dabei irritiert den auf der Patientin reitenden Leszek.

„Bitte lassen Sie uns erst umlagern“, sagte Otte, „wir brauchen dringend eine Ablösung bei der Herzdruckmassage.“

Die junge Frau übernahm das Kommando am Kopf der Patientin. Leszek kletterte von der Trage. Fast alle fassten mit an. So gelang es, die Patientin mit nur kurzer Unterbrechung der Herzmassage auf die Liege gleiten zu lassen.

An dieser Stelle endete Ottes formale Verantwortung für die Patientin. Unter anderen Umständen hätte ihn das erleichtert; jetzt aber fühlte er sich schuldig, fast wie ein Betrüger. Er war froh, dass er sich beim Umstellen auf die Krankenhausgeräte noch nützlich machen konnte. Ein kräftiger junger Mensch, den Otte trotz der Verkleidung als einen der Pfleger aus der Notaufnahme erkannte, übernahm eifrig die Herzdruckmassage. Es knackte noch zweimal. Noch immer schienen nicht alle Rippen gebrochen zu sein.

„Können wir jetzt bitte eine Übergabe haben“, sagte die junge Frau am Kopf.

Otte bemerkte eine leichte slawische Sprachfärbung in ihrer Stimme. Durch zwei Lagen Schutzbrille hindurch blickte er in blaue, von sorgfältig gezupften Brauen gekrönte Augen, die ihn streng ansahen.

Otte berichtete, was er wusste. Er schilderte auch den Unfall mit dem Jungen, und dass dieser gerade im unfallchirurgischen Schockraum nebenan behandelt wurde, erwähnte aber nicht die langen Minuten, die die Patientin unbeobachtet, unbehandelt, und wahrscheinlich tot im Wagen gelegen hatte.

„Wie lange reanimieren sie jetzt schon?“, fragte die junge Frau, bei der es sich vermutlich um die diensthabende Internistin handelte. Sie hatte mittlerweile den Platz am Kopf an das Anästhesie-Team übergeben und blätterte in den Verlegungsunterlagen.

„An die dreißig Minuten“, sagte Otte.

„Waren die Beatmungsdrücke die ganze Zeit so hoch?“, fragte der Anästhesist, ein kleiner Mann mit Brille, unter dessen Haube eine Glatze schimmerte.

„Annähernd“, sagte Otte, „wir mussten aber unterwegs noch weiter eskalieren.“

„Wie sind die Pupillen?“, fragte die Internistin den Anästhesisten.

„Weit, lichtstarr, entrundet.“

„Wie waren sie vorher?“, fragte sie Otte.

Otte schluckte. „Seit Beginn der Reanimation waren sie so“, sagte er, „als wir sie in Hagen übernommen haben, waren sie noch lichtreagibel.“

Die Automatiktür öffnete sich. Im Eingang stand ungeschützt ein Mitarbeiter der Patientenaufnahme, den Otte vom Sehen kannte. Als er die zahlreichen vermummten Gestalten sah, wich er einen Schritt zurück.

„Wird hier gerade eine Frau Romeita behandelt?“, fragte er aus sicher scheinender Entfernung.

„Ja, wieso?“, sagte die Internistin.

„Vorne am Haupteingang sammeln sich immer mehr Leute, die zu ihr wollen.“

Wieder traf Otte der strenge Blick.

„Wissen Sie etwas davon?“, fragte ihn die Internistin.

„Ich weiß nur, dass das der Name einer ziemlich bekannten Großfamilie ist“, antwortete Otte.

„Hätten Sie uns das nicht sagen können?“

Otte wich ihrem Blick aus. „Ist ja jetzt nicht direkt eine medizinische Information.“

Die Internistin schüttelte den Kopf. „Rufen Sie die Polizei, wenn es Ärger gibt“, sagte sie zu dem Mann an der Tür, „ wir müssen uns jetzt erstmal um die Patientin kümmern.“

„Soll ich schon mal einen Draht für die ECMO vorlegen?“, fragte der Anästhesist.

„Nein, warten Sie“, sagte die Internistin, „ich rufe meinen Hintergrund an. Ich denke, wir sollten das hier beenden.“ Sie warf Otte einen letzten vernichtenden Blick zu, dann fischte sie ihr Telefon unter dem Schutzkittel hervor.

Otte nutzte die Gelegenheit, während die Internistin telefonierte, um sich möglichst unbemerkt aus dem Schockraum zurückzuziehen. Am Ausgang streifte er die schweißgetränkte Schutzausrüstung ab und desinfizierte sich die Hände und Arme bis unter die Achseln. Am liebsten hätte er sich komplett mit Desinfektionsmittel übergossen, so verkeimt fühlte er sich.

Leszek und Mats waren draußen damit beschäftigt, die Trage und die Geräte zu desinfizieren. Otte schloss sich ihnen an.

„Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen“, sagte er, während er mit einem Kohrsolin-getränkten Tuch über ein Bündel Kabel wischte, „das könnte hier gleich noch ungemütlicher werden.“

„Was meinst du?“, fragte Leszek.

„Die Familie unserer Patientin steht schon vor dem Haupteingang“, sagte Otte.

Leszek putzte schneller. Mats schien sie gar nicht gehört zu haben. Er sah in die Ferne und wischte schon zum dritten Mal den Bildschirm des Beatmungsgeräts ab.

„Schaffst du es noch, uns zurück zu fahren?“ fragte Otte ihn.

„Lass Mal“, sagte Leszek, „ich fahre schon.“




VI.



Sie schoben die Trage zurück auf die Ladefläche, befestigten die Geräte an den Wänden und stiegen alle drei nach vorne in die Fahrerkabine. Leszek und Otte nahmen Mats zwischen sich. Während Leszek sie vom Krankenhausgelände manövrierte, schwiegen alle. Die Sonne stand schon tief. Es musste zwischendurch kurz geregnet haben. An den Metallgeländern glitzerten die Tropfen.

Als sie auf der Hauptstraße waren, sah Otte das Zucken um Mats‘ Mundwinkel.

„Mats“, sagte Otte, „es tut mir echt leid, was dir da vorhin passiert ist.“

„Er war auf einmal vor mir“, sagte Mats, „ ich habe noch sein erschrockenes Gesicht gesehen. Ich habe versucht zu bremsen, aber es war zu spät, fuck, warum hat der uns denn nicht gehört oder gesehen, mit Blaulicht und Horn, und allem?“

„Er war wahrscheinlich taub“, sagte Otte, „jedenfalls hatte er Hörgeräte in den Ohren.“

„Du konntest nichts dafür“, sagte Leszek, „hätte jedem von uns passieren können.“

„Leszek hat Recht“, sagte Otte, „und du hast schnell reagiert, sonst wärst du wahrscheinlich noch über ihn drüber gefahren.“

Mats presste die Lippen zusammen.

„Das einzige, was ich nicht verstehe“, sagte Otte, „warum bist du durch dieses Wohngebiet gefahren?“

Jetzt lief Mats doch eine Träne an der Nase entlang zur Oberlippe. Leszek sah Otte streng von der Seite an.

„Schon gut“, sagte Otte. Leszek hatte vermutlich auch darin Recht, dass das jetzt nicht der richtige Augenblick war, um über die Sinnhaftigkeit der Schleichwege zu reden, auf deren Kenntnis sich so viele in der Branche etwas einbildeten.

Otte sah aus dem Fenster. Sie fuhren gleichauf mit einer Straßenbahn, in deren Innern wenige ältere Menschen weit voneinander entfernt hinter ihren Masken vor sich hin dämmerten.

Reichte es nicht, dass sie in einer so erbärmlichen Zeit lebten? Musste da wirklich noch ein Tag wie dieser sein? Soviel schiefgegangen bei einem einzigen Einsatz, das hatte er in seinen fast 25 Jahren auf der Straße noch nicht erlebt. Es war ein mieses Gefühl, mit schuld am Leid anderer zu sein.

Dabei hatte er von Anfang an gewusst, dass dieser Transport sinnlos war, dass die Patientin so oder so gestorben wäre. Und dafür hatten sie einer jungen Familie viel Leid gebracht, und den Kollegen in der Uniklinik eine Menge Ärger. Es war das alte Übel, über das Otte sich selbst so oft bei anderen aufregte. Weil keiner den Ärger haben wollte, wurde die Verantwortung von einem zum anderen geschoben, bis es nicht mehr ging. Und über dem letzten in der Kette brach dann alles zusammen.

Sein Magen überraschte ihn an einer Ampel mit einem hörbaren Knurren. Der Durst kam fast zeitgleich und wuchs schnell zu einem alles beherrschenden Verlangen.

„Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich muss jetzt ganz dringend irgendwas essen und vor allem: trinken!“, sagte Otte, „ich bin völlig ausgedörrt.“

Mats zuckte mit den Schultern.

„Was schlägst du vor?“, fragte Leszek.

„Wie wäre es mit Ali Baba? Ich lade euch auch ein“, sagte Otte.

Sie bogen von der Herner Straße rechts ab. Leszek manövrierte den 7,5Tonner mit erstaunlicher Leichtigkeit in eine Parklücke, in die dieser gerade so eben passte.

Während sie auf ihre Döner warteten, leerten Leszek und Otte jeder eine große Flasche Wasser. Mats nippte nur an seiner Cola. Er hatte nichts zu essen bestellt.

„Komm schon“, sagte Leszek, „ auf den Schreck muss man was Anständiges essen. Oder magst du keinen Döner? Gibt auch vegetarisch hier, Falafel und so.“

„Boah nä, hör mir auf“, sagte Mats, „das gibt’s schon zuhause immer. Meine Freundin kocht neuerdings nur noch vegan.“

„Oh Mann, das tut mir leid.“ Leszek nickte verständnisvoll, „dann brauchst du jetzt erst recht was Richtiges. Noch einen Döner, bitte!“

„Nee, lass mal“, sagte Mats.

„Du kannst ihn ja später essen. In Alu bleibt der lange warm“, sagte Leszek.

„Ach, na gut, du hast wahrscheinlich recht“, sagte Mats.

Sie entfernten sich, wie vorgeschrieben, etwas von dem Imbiss und setzten sich auf eine Bank vor einem schmalen Dreieck aus Gras. Das Gras stand zum Glück so hoch, dass man die vielen Hundehaufen nur erahnen konnte.

Dreimal mit alles und scharf, da war die Welt für einen Augenblick wieder in Ordnung.

Während sie alle schwiegen und kauten, betrachtete Otte Mats‘ Profil. Ein hübscher Bursche, nur die hohe Stimme irritierte immer wieder. Wahrscheinlich flogen die Frauen auf ihn, bis er das erste Mal den Mund aufmachte.

Otte hoffte, dass das abzusehende Nachspiel dieses Tages den Jungen nicht völlig aus der Bahn werfen würde. Wenn es gut lief, würde er vielleicht eines Tages zu den Besonneneren im Geschäft gehören.

Sie rollten in der Abenddämmerung auf den Hof der Firma. Um diese Zeit übertönte der Gesang der Vögel den abflauenden Sonntagsverkehr. In den Büroräumen brannte kein Licht mehr. Otte verabschiedete sich von den beiden, die noch das Auto putzen mussten. Er war froh, die durchgeschwitzte Arbeitskleidung in den Abwurf geben zu können. Am liebsten hätte er noch vor Ort geduscht. Er hatte aber weder ein Handtuch noch frische Wäsche dabei. Deshalb desinfizierte er sich erneut großzügig die Hände und Unterarme, während er sich in seinen klammen Unterhosen im Waschbeckenspiegel betrachtete. Er war schon mal besser in Form gewesen, schien es ihm, aber nie so gut wie seine jungen Kollegen heute. Es erstaunte ihn immer wieder, wie viele durchtrainierte junge Männer es mittlerweile gab. Mats war auch so einer. Ob ihm seine Muskeln helfen würden, sich aus der Scheiße wieder herauszuziehen, in die er sich geritten hatte?



VII.



Otte schlüpfte zurück in seine Zivilkleidung, in sein privates Selbst. Er war wieder Erik, der gerne Motorrad fuhr, und der am Wochenende Ausflüge mit Menschen machte, die er nur oberflächlich kannte, und die nur diese eine Vorliebe mit ihm teilten, auf lauten alten Maschinen zu sitzen, an denen sie nach Möglichkeit selbst herumgeschraubt hatten. Die Beule, die sich nach dem Aufprall an seiner Stirn gebildet hatte, machte sich schmerzhaft bemerkbar, als er versuchte, den Helm darüber zu ziehen.

Er winkte zu Mats und Leszek hinüber, deren Silhouetten sich durch die Innenbeleuchtung des Intensivmobils scharf abzeichneten, während der Rest des Hofs immer dunkler wurde. Sie bemerkten ihn erst, als seine Enduro ansprang und ihr Lichtkegel den dunklen Hof zerschnitt. Ein letzter Gruß, dann passierte Otte dasTor.

Die kühle Abendluft zog in die Ritze zwischen Helm und Jacke, die er nicht richtig geschlossen hatte. Für das kurze Stück war Otte zu faul nochmal anzuhalten. Die großen Straßen waren leer, um diese Zeit. Er war versucht, einfach Gas zu geben und durchzubrettern. Aber er hielt brav an jeder Ampel. Für solche Spielchen fand er sich langsam wirklich zu alt.

Auf dem Garagenhof geriet für einen Augenblick wieder der Mann mit dem Tropenhut mit seinem dümmlichen Lächeln ins Scheinwerferlicht.

Der Griff des Garagentors klemmte schon wieder. Sanft rütteln und im richtigen Moment anheben, so ging es. Als er dem Garagentor den letzten Stoß verpasste, damit es einrastete, verspürte er wieder das verdammte Reißen zwischen den Schulterblättern. Ich muss dringend wieder was für meinen Rücken tun, dachte Otte, aber nicht mehr heute. Aus der Garage entwich warme muffige Luft, über den Tag von der Sonne aufgeheizt, hinaus in den kühlen Aprilabend. Von der Wand der Garage reflektierte die Leuchtweste, die er immer vergaß anzuziehen. Er stellte die Enduro an den exakt gleichen Platz in der Mitte des Raumes zurück, von dem er sie am Mittag weggerollt hatte.

Otte genoss den kurzen Spaziergang durch die reine Abendluft entlang der verstummten Hauptstraße. Unter den Ebereschen am Straßenrand sprießte frische Gras. Wie aus dem nichts tauchte ein Streifenwagen neben ihm auf.

„Hallo!“, rief jemand durch die heruntergelassene Scheibe.

Otte sah sich um. Außer ihm war da niemand, der gemeint sein konnte.

„Sie wissen, dass Ausgangssperre ist?“, fragte der Polizist aus dem Auto.

Otte sah ihn kurz verständnislos an. „Ach ja“, sagte er dann, „habe ich nicht dran gedacht.“

„Wir brauchen dann einmal ihre Personalien“, sagt der Polizist, öffnete die Fahrertür und schwang sich aus dem Auto. Er war gut einen halben Kopf größer als Otte.

„Ich komme von der Arbeit“, sagte Otte.

Der Polizist, obwohl deutlich jünger, sah wie ein strenger Vater auf Otte herab. Er trug seine Maske nicht ganz über der prominenten Nase und eineinhalb Meter Abstand hielt er auch nicht ein.

„Hätten Sie das nicht gleich sagen können?“, fragte er, „ich brauche dann trotzdem einmal Ihren Arbeitgeber und Ihre Adresse, damit wir das überprüfen können.“

Otte sah, wie sich die Beifahrertür öffnete, und die Kollegin des Polizisten ausstieg, noch so eine, von der er kaum glauben konnte, dass sie schon mit der Schule fertig war. Er hatte das unangenehme Gefühl, wie in einem Traum, bei etwas erwischt worden zu sein, ohne zu wissen, was es war.

„Firma Transint Intensivtransporte in Herne“, sagte Otte.

Otte zog sein abgewetztes italienisches Lederportemonnaie, ein Geschenk seiner Exfrau, aus der Innentasche seiner Jacke. Er tat es bewusst langsam, nicht dass sie noch dachten, er zöge eine Waffe, man kannte das ja, aus Filmen. „ Hier ist die Visitenkarte der Firma, mein Arztausweis und mein Personalausweis. Ich wohne gleich da vorne.“

Otte hielt den Polizisten die Papiere hin.

„Wir überprüfen das.“ Die Polizistin nahm ihm die Papiere aus der Hand und ging damit zum Auto zurück.

Der Polizist sah sich neugierig die Beule an Ottes Stirn an.

„Was haben Sie denn da gemacht?“

„Vollbremsung während des Transports“, antwortete Otte.

„Intensivtransport, ja?“, fragte der Polizist, „da haben Sie wahrscheinlich auch viel zu tun im Moment?“

„Eigentlich nicht mehr als sonst auch“, antwortete Otte und sah dabei an dem Polizisten vorbei auf die leere Straße.

Von da an schwiegen sie sich an. Ottes Blick suchte und fand auf einem Dachfirst das Amselmännchen, das seinen Balzgesang in den Abend hinausschmetterte. Hoffnung auf Fortpflanzung, es war lange her, das Ottes Handeln davon bestimmt gewesen war. Aber etwas aus jenem Lebensabschnitt lebte fort, wenn er an seinen Enkel dachte, an sein erstaunlich dichten, so gar nicht babyhaften Locken, die schwarz glänzten wie das Federkleid der Amsel dort oben. Er wollte ihn unbedingt wiedersehen.

Es schauderte ihn bei dem Gedanken, wie nachtragend Martina sein konnte. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Was mische ich mich auch in ihr Leben ein, dachte Otte. Aber ist es nicht normal, dass man sich als Vater Sorgen macht? Bin ich denn wirklich ein Rassist, wie sie sagt, nur weil ich Bedenken kriege, wenn ich höre, dass ihr Musikermann auf ihre Kosten lebt? Angeblich hat er ja vor Corona gut verdient mit seiner komischen Musik – ach, was soll’s, es geht mich wirklich nichts an, Hauptsache, sie ist glücklich.

Die Polizisten ließen ihn ziehen, entschuldigten sich sogar für die Unannehmlichkeiten. Auf einmal war er einer der ihren, einer von denen, die die Ordnung aufrechterhalten mussten, während alle anderen schliefen, oder feierten, oder sich einfach mal erholten. Sich erholen, gutes Stichwort, das wollte Otte jetzt auch ganz dringend.

Kaum war Otte an der Haustür, bog Toni aus dem Torbogen, der in den Innenhof führte. Sie miaute und rieb ihre Wange an seinem Hosenbein. Otte beugte sich zu ihr und kraulte sie hinter der Ohren.

„Na, Toni“, sagte Otte, „ich hoffe, dein Tag war besser als meiner.“

Toni folgte ihm die Treppen hoch. Schon im zweiten Stock merkte Otte, wie ihm die Luft knapper wurde. Verdammt, ich muss wirklich wieder mehr Sport machen, dachte er. Und dann: mehr ist gut, überhaupt mal wieder, wohl eher. Der Kohlgeruch aus der Wohnung der alten Frau Neisse einen Stock unter ihm machte Otte zu schaffen. Er ließ Toni rein und machte schnell die Tür hinter sich zu.

Otte trat auf den Balkon. Toni hatte tatsächlich einen erfolgreichen Tag gehabt. Ein paar sauber präparierte Mäusenieren, die er auf den kleinen bunten Fliesen fast übersehen hätte, und in die er fast hineingetreten wäre, zeugten davon. Otte kehrte sie auf die bereitliegende Schaufel. Er warf einen prüfenden Blick auf die benachbarten Balkone, dann schleuderte die sterblichen Überreste der Maus hinunter in das Gebüsch, das die Müllcontainer im Innenhof umgab.

Er brachte Toni ihr Trockenfutter und frisches Wasser, dann ging er duschen. Bei ihm oben kam das kalte Wasser nie ganz kalt und das heiße Wasser nie ganz heiß an. Es gab Tage, an denen ihn das ärgerte. Heute war es ihm egal. Er stand ewig in dem lauwarmen Strahl. Die Beule an seiner Stirn vertrug ohnehin nichts Warmes. Der kleine elektrische Heizlüfter sorgte dafür, dass er nicht fror. Die Luft sättigte sich mit Dampf. Der Spiegel beschlug. Alles tropfte. Otte summte „I Walk The Line“ vor sich hin. Sein Blick ruhte dabei auf dem schwärzlichen Fleck auf der Innenseite des Duschvorhangs, der durch nachlaufendes Wasser nahezu perfekt in die Form eines Oberarmknochens im Röntgenbild zerflossen und dann festgetrocknet war. Der Fleck war da, seit Elisabeth einmal nach einer Tour durchs Sauerland bei ihm übernachtet und geduscht hatte. Wahrscheinlich Wimperntusche, dachte Otte.

Eigentlich war Otte keiner, der Gedanken an die Arbeit mit nach Hause nahm. Er machte seinen Job immer so gut es ging, er sammelte brav seine Fortbildungspunkte, die er alle fünf Jahre bei der Ärztekammer vorweisen musste. Das Leid derer, die er täglich behandelte, konnte er gut bei denen lassen, die es tatsächlich betraf. Doch jetzt, unter der Dusche, kehrten die Bilder zurück. Die Schwellung am Hals des Jungen, an der dieser zu ersticken drohte, der Brustkorb der alten Dame, der sich unter ihren Händen zu Brei verwandelt hatte, der Blick der Kollegin, der er diese ganze Schweinerei übergeben hatte – zum ersten Mal seit langem, seit seiner Assistentenzeit, in der er ihm noch häufig Fehler aus Unwissenheit passiert waren, hatte er wieder das Gefühl am Ende des Tages nicht genügt zu haben.

Als er sich abgetrocknet hatte, trat er, nur mit einem kratzenden Handtuch um die Hüften bekleidet, aus dem Bad in die Diele und griff nach seinem Telefon neben der Obstschale. Die Fruchtfliegen blieben unbeeindruckt sitzen. Es dauerte eine Weile, bis er mit dem diensthabenden Unfallchirurgen verbunden war.

„Al Slimani, Unfallchirurgie, wer spricht da?“

„Otte, mein Name, Anästhesist aus dem Marienhospital, sie haben doch heute Nachmittag einen circa sechsjährigen Jungen im Schockraum versorgt, der von einem Intensivtransporter angefahren wurde. Ich bin der Arzt, der die Erstversorgung gemacht hat.“

Der unbekannte Kollege räusperte sich. „Sie wissen, dass wir am Telefon keine Auskunft geben dürfen. Wir hatten schon mehrere Anfragen von Reportern deswegen. Manche geben sich auch als Kollegen aus.“

„Bitte, nur ganz grob. Ich lasse ihnen auch gerne meine Personalien da, damit sie das überprüfen können.“

„Der Junge liegt nicht mehr bei uns. Wir haben ihn in die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie nach Langendreer verlegt.“

„Danke.“

Na großartig, dachte Otte, das fehlte noch. Er nahm sich vor, am nächsten Tag mehr in Erfahrung zu bringen. Für heute reichte es ihm.

Er holte sich ein Bier vom Balkon, klappte seinen Rechner auf dem Wohnzimmertisch auf, und ließ sich neben Toni aufs Sofa sinken. Nach den ersten zwanzig Minuten von „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ war er eingeschlafen.

VIII.



Langendreer. Da war Otte aufgewachsen. In einer Siedlung, in der die Väter nahezu alle im nahen Werk des deutsch-amerikanischen Autobauers schafften.

Langendreer war auch ein Standort der Bochumer Uniklinik, die es eigentlich nur dem Namen nach gab, weil sie in Wirklichkeit aus vier großen Kliniken unterschiedlicher Trägerschaft bestand, die mal besser, mal schlechter zusammenarbeiteten und in vielen Disziplinen eher miteinander wetteiferten.

Das Krankenhaus in Langendreer betrat Otte immer mit einem Gefühl böser Ahnung, seit er dort am Bett seines toten Vaters gesessen hatte. Er fuhr trotzdem am nächsten Morgen dorthin. Passenderweise hatte er sich den Montag ohnehin als überstundenfrei eingetragen.

Eigentlich hatte er eine Tagestour nach Trier machen wollen, mit Manfred, einem hoch geachteten Schrauber aus Dortmund, und Elisabeth, jener Hebamme aus Witten, die er für den Fleck an seinem Duschvorhang verantwortlich machte. Beide kannte er nur flüchtig, von früheren Ausfahrten. Die Tour hatte er abgesagt. Die Lust war ihm vergangen.

Nachdem er irgendwann doch noch vom Sofa ins Bett umgezogen war, hatte er nicht mehr richtig schlafen können. Die Bilder aus dem Einsatz waren immer wieder zurückgekehrt, so lebhaft, wie er das sonst nicht kannte: die vorwurfsvollen Gesichter von Dr. Yilmaz und der anderen Kollegin, deren Namen er nicht erfragt hatte, ihre bizarre Vermummung, die Vollbremsung, das Fahrrad unter dem Auto, der Junge im Gras, die Schwellung am Hals, die auf halb acht hängenden Schutzanzüge, die sie hatten aussehen lassen, als seien sie von irgendwo entlaufen, Schönels arrogante Fresse, die endlose Reanimation.

Statt nach Trier zu fahren, hatte er sich gleich morgens mit seinem Motorrad an dem Stau, der sich seit Jahren täglich an der Großbaustelle auf der Ausfallstraße nach Langendreer bildete, vorbei geschlängelt, und dafür viel Gehupe in Kauf genommen.

Bevor er in die Krankenhaus-Einfahrt abbog, machte er einen Abstecher zu dem kleinen Holzpavillon, der inmitten einer T-Kreuzung zwischen einem Wohngebiet und einer Schrebergarten-Kolonie auf einer Verkehrsinsel einen Kiosk und einen Blumenladen beherbergte. An dem Kiosk kaufte er ein Comic-Heft mit einem angeklebten Spielzeugauto und die Bochumer Ausgabe einer regionalen Tageszeitung. Er blätterte sich noch vor dem Eingang zum Kiosk durch, bis zum Lokalteil. Bevor er sich jedoch auf die Überschriften konzentrieren konnte, erschreckte ihn eine Stimme hinter sich.

„Entschuldigung!“

Otte brauchte einen Augenblick, bis er den Kioskbesitzer, einen irgendwie indisch aussehenden älteren Mann, hinter der spiegelnden Scheibe als den Sprecher erkannt hatte.

„Entschuldigung!“ Der Mann sah ihn ängstlich aus großen dunklen Augen an.

„Was ist denn?“, fragte Otte.

„Entschuldigung, nicht stehen bleiben. Wegen Corona, Entschuldigung.“

„Nein, tut mir leid“, sagte Otte und machte Platz für den nächsten Kunden, der brav in einigem Abstand mit seinen zwei leeren Bierflaschen gewartet hatte.

Otte ging über die Straße dorthin, wo er sein Motorrad abgestellt hatte. Gegen den Sitz gelehnt, schlug er die Zeitung wieder auf. Schnell fand er die beiden Überschriften, die er suchte: „Horrorunfall: Kind von Krankenwagen überfahren“ und „Clan-Krawall vor dem Krankenhaus“ Die Berichterstattung war fehlerhaft, wie er es erwartet hatte. Immerhin entnahm er dem Artikel, das Kind sei „außer Lebensgefahr“, was immer das heißen sollte. Vor der Unfallklinik sei es zu „tumultartigen Szenen“ gekommen, die Polizei habe „hart durchgreifen“ müssen. Otte stopfte die Zeitung samt dem Comic-Heft in seinen Rucksack, dann ging er wieder über die Straße, diesmal zum Blumenladen auf der anderen Seite des Pavillons.

Otte bat die Blumenverkäuferin, die er aus floralen Träumen inmitten ihres Blumenmeers aufgeschreckt zu haben schien, ihm etwas Buntes, Frühlingshaftes für zwanzig Euro zusammenzustellen. Das runde Gesicht der Frau strahlte, während ihre kurzen Finger behände der Strauß banden. Sie wirkte tatsächlich, als könne sie sich nichts Schöneres als ihren Beruf vorstellen. Welch seltene Gabe, dachte Otte. Sein Blick fiel auf ein aufwändiges Gesteck aus blauen und weißen Blüten, das den VfL-Schriftzug nachahmte. Die Blumenverkäuferin folgte seinem Blick und ihr Lächeln wurde noch verträumter.

„Was meinen Sie, schaffen wir es dieses Jahr?“, fragte sie

„Ich glaube fest daran“, sagte Otte.

Gerade, als er den Blumenladen verließ, schaffte es die Frühlingssonne über die Hausdächer. Er ließ das Motorrad stehen, und lief das Stück zum Krankenhaus hinüber.

Am Eingang wollte man ihn zunächst nicht hineinlassen. Er musste sein Anliegen erst dem Wachmann, dann der Empfangsdame erklären, die sich nur erweichen ließ, als er seinen Arztausweis vorzeigte.

Der Junge hieß Enis Bila und lag auf der chirurgischen Intensivstation, soviel wusste Otte jetzt.

Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, die Abteilung, in der sich Krankheit und Verwundung nicht verleugnen, nicht verschweigen, nicht vertuschen ließen, weil sie einen von überall her anstarrten, aus dem Spiegel, aus den erschrockenen Gesichtern der Angehörigen, aus den versehrten Gesichtern der Mitpatienten. Die Abteilung, in der Otte vor mehr als dreißig Jahren als Pflegeschüler gearbeitet hatte, während im selben Haus sein Vater im Sterben lag. Die Abteilung, in der die Ärzte nicht nur die sechs Jahre Medizinstudium, sondern auch noch einmal so lange Zahnmedizin studiert haben mussten. Otte hatte sich immer gefragt, wer diese Menschen waren, die sich ein solches Kreuz selbst auferlegten. Es hatte ihn sehr erstaunt, als er eines Tages erfuhr, dass ausgerechnet Jörg Hanke, ein Kommilitone, der ihm als wenig engagiert und sehr feierfreudig im Gedächtnis geblieben war, diesen Weg eingeschlagen hatte.

Otte stieg aus dem Aufzug im vierten Stock. Den längst renovierten Gängen fehlte jede Vertrautheit. Aber auch der frische mintgrüne Anstrich hatte sie nicht ihrer allgemeinen Trostlosigkeit beraubt. Er fand schließlich den Eingang zur Intensivstation und betätigte die Rufanlage. Als sich eine genervte Stimme meldete, sagte er zunächst nur, dass er zu dem Jungen wolle.

„Das geht nicht“, sagte die Stimme, „es ist schon jemand da, und wir dürfen nur einen Besucher pro Patienten reinlassen.“

Otte blieb nichts anderes übrig, als erneut seine ganze Geschichte zu erzählen. Am Ende erbarmte die Stimme sich, und die Tür ging auf.

„Das finde ich aber wirklich bemerkenswert!“ Die Intensivschwester musterte anerkennend den großen Blumenstrauß in Ottes Hand. Otte lächelte mit zusammengepressten Lippen.

„Sprechen Sie denn Bulgarisch?“ fragte die Schwester, „sonst könnte es nämlich schwierig werden.“

Otte verneinte.

„Uns hat vorhin eine Schwester aus der Inneren geholfen. Ich kann fragen, ob sie nochmal rüberkommen kann.“

„Das wäre sehr nett“, sagte Otte.

Die Schwester kam. Sie hieß Sofia. Lustig, dachte Otte, wer kommt denn auf die Idee sein Kind wie die Landeshauptstadt zu nennen. Er musste an seinen alten Kumpel Holger Berlin denken, aber für seinen Nachnamen konnte ja keiner was.

Sofia war noch sehr jung. Sie schien stolz zu sein, dass ihr auf einmal eine so wichtige Rolle zukam.

Die Schiebetür vor dem Zimmer des Jungen war geschlossen. Durch das Fenster in der Tür sah Otte, dass der Junge wach und nicht mehr beatmet war. Der gebrochene Unterarm wurde vom Gestänge eines Fixateur externe in Stellung gehalten. Auch die Mutter erkannte Otte gleich wieder. Sofia betrat munter das Zimmer, während Otte draußen wartete. Drinnen wurde es kurz laut. Als Sofia wieder herauskam, sah sie erschrocken aus.

„Die Mutter möchte nicht, dass Sie reinkommen“, sagte sie, „sie sagt, Sie seien schuld daran, dass es ihrem Sohn so schlecht geht.“

„Das tut mir sehr leid, dass sie das so sieht“, sagte Otte, „könnten Sie ihr zumindest den Strauß und das Heft für den Jungen von mir geben?“

Sofia tat ihm den Gefallen, verschwand dann aber schnell und sah immer noch verstört aus.

Irgendwie komme ich so aus dieser Schlechtes-Gewissen-Nummer nicht raus, dachte Otte. Er verabschiedete sich von der Schwester, die ihn eingelassen hatte und wollte zu seinem Motorrad zurückkehren. In der Eingangshalle kam ihm Enis‘ Vater immer noch in dem gleichen grünen Kapuzenpulli entgegen.



IX.



Sie gingen an einander vorbei. Der Vater hatte ihn nicht erkannt. Otte trat ins Freie. Die Aprilsonne wärmte schon ordentlich. Ein balzendes Taubenpaar peitschte mit seinen Flügeln auf das dünne Geäst des Straßenbaums ein, unter dem Otte die Enduro abgestellt hatte. Vor Aufregung hatten die Tiere wohl nicht mehr an sich halten können. Otte durchsuchte seine Taschen nach etwas, womit er den Taubenschiss von seinem Sitz wischen konnte. Schließlich benutzte er eine Seite aus dem Anzeigenteil der Zeitung dafür. Es blieb ein hässlicher Streifen zurück, um den er sich später würde kümmern müssen.

Otte blieb neben seinem Motorrad stehen und überlegte. Wiedergutmachung, das komisch zusammengesetzte Wort verriet es schon, war doch an sich eine absurde Idee. Fehler, Unglücke, Unterlassungen, nichts davon ließ sich einfach wieder aus der Welt schaffen. Aber sollte man deswegen einfach weitermachen, so tun, als sei nichts passiert, auf Vergessen hoffen?

Es half nichts. Auch nach dem Debakel gerade, musste er weiter zu Martina um dort zu schaffen, was ihm hier missglückt war. Was hatte auch das eine mit dem anderen zu tun? Hier ein doppeltes Unglück, in das ihn medizinische Entscheidungen verstrickt hatten. Entscheidungen, die er schnell hatte treffen müssen, und die er immer noch vor sich rechtfertigen konnte, auch wenn sie am Ende mehr Leid gebracht als gelindert hatten. Dort die Sorge um das Wohl seiner Tochter, aus der heraus er dumme Dinge gesagt hatte. Martinas Wutausbrüche hatte Otte schon früh fürchten gelernt, als sie sich überraschend entschlossen hatte, Mutter und Schwester hinter sich zu lassen und bei ihm einzuziehen, eine Vierzehnjährige mit Nasenring und schwarz gefärbten Haaren. Auch wenn sie heute als Grundschullehrerin braver aussah, konnte ihr Zorn ihn immer noch wie ein Platzregen treffen.

Es half nichts. Wenn er in den nächsten Monaten seinen Enkel wiedersehen wollte, musste er das Büßergewand anlegen, hoffen, dass er den richtigen Moment erwischen würde, in dem ihre Wut verflogen war.

„Na, noch ein Krankenbesuch heute? Das lob ich mir aber!“ Die Blumenverkäuferin strahlte schon wieder, dass es kaum zu ertragen war.

„Diesmal geht es eher um eine Entschuldigung“, sagte Otte.

„Oh, da habe ich ein paar gute Ideen, lassen Sie mich mal machen!“, sagte die Blumenverkäuferin.

Otte verließ das Geschäft mit einem eindrucksvollen Strauß. Er roch daran und war, wie immer, enttäuscht, dass die bunten Blumen aus fernen Ländern nach nichts als geschnittenem Grün rochen, als hätte sie auf ihrem langen beschwerlichen Weg in den Blumenladen einen Teil ihres Blumeseins zurücklassen müssen.

Am Motorrad angekommen, wurde er sich seines Denkfehlers bewusst. Wie sollte er dieses Monstrum von einem Strauß heil nach Wiemelhausen bekommen? Die Gepäckbox war definitiv zu klein. Am Ende fiel ihm nichts Besseres ein, als sich das untere Ende des Straußes hinten in den Gürtel zu stecken, und immer nur ganz sachte zu beschleunigen. Er musste selber zwischendurch lachen, wenn er die Gesichter neben sich an der Ampel sah und sich vorstellte, was für ein Bild er abgab, mit seinem bunten Schweif.



X.



Der Strauß war nur leicht ramponiert, als Otte vor Martinas Wohnung ankam. Martina wohnte wie er selbst in einem der höheren Stockwerke eines Mietshauses. Er klingelte mehrmals, aber niemand öffnete. Als er gerade wieder gehen wollte, ging die Haustür auf und Martina trat heraus. Sie trug eine kükengelbe Bluse und sah sehr froh aus – bis sie Otte erblickte.

„Papa? Was machst du denn hier?“ Sie sah ungläubig auf den Wulst aus zerknittertem Papier, den Otte vor sich hertrug.

Sie war nicht allein. Hinter ihr trat ein schlanker junger Mann mit schwarzen Locken und einem sehr hübschen, fast weiblichen Gesicht aus dem Haus. Er hatte ein Babytragegeschirr um den Bauch geschnallt, und an seine Brust gelehnt schlief Ottes Enkel Elias.

Otte sah hilflos zwischen den beiden hin und her.

„Ich…äh, ich wollte mich … entschuldigen für vorgestern, es war nicht so gemeint – hier, der ist für dich!“ Otte riss ungelenk das unten durchweichte Papier von dem Strauß und hielt ihn Martina hin. Der junge Mann nickte ihm anerkennend zu, während Martina zögerte. Schließlich nahm sie den Strauß an und betrachtete ihn.

„Das ist aber ein schöner Strauß, Papa, danke!“

Sie nahm die Blumen wie einen Brautstrauß in den rechten Arm, stellte sich neben den jungen Mann, und machte mit der Linken eine präsentierende Geste.

„Darf ich vorstellen: das ist Younous, mein Freund und Elias‘ Papa.“

Sie nickte zu Otte hinüber. „Und das ist mein Papa, von dem ich dir schon so viel erzählt habe, Younous.“

„Freut mich sehr, Sie kennenzulernen“, sagte Younous mit eindeutig französischem Akzent.

Die beiden Männer setzten zum Händeschütteln an, hielten aber beide in der Bewegung inne. Martina sah plötzlich besorgt aus.

„Vielleicht lieber nicht gerade“, sagte sie, „Elias nimmt doch alles in den Mund. Besonders gerne Papas Finger, stimmt‘s?“ Sie strahlte Younous an.

Die Männer versuchten durch viel Nicken und Lächeln die missglückte Begrüßung wieder gut zu machen.

„So, und jetzt muss ich meine schönen Blumen ins Wasser stellen. Wartet ihr hier auf mich?“

Martina wartete die Antworten nicht ab, sondern verschwand durch die Haustür. Die beiden sahen ihr erschrocken nach.

„Schön, dass ich jetzt auch mal den Papa meines Enkelkinds kennenlerne.“ Ottes Mundwinkel begannen vom angestrengten Lächeln zu schmerzen.

„Martina erzählt ganz viel von Ihnen“, sagte Younous, „Sie haben einen tollen Beruf!“

„Na ja, toll, ich weiß nicht…“ Otte wiegte den Kopf hin und her.

„Doch, doch, Sie helfen Menschen, das ist toll!“

Otte presste die Lippen zusammen. Wirklich, dachte er, ist das wirklich so toll?

„Sie sind Musiker, hörte ich, das ist doch auch ein sehr schöner Beruf.“

Younous senkte den Blick.

„Es ist schwierig gerade, keine Auftritte, kein Geld.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen…was machen Sie denn für Musik?“

„Ach, das ist so eine Mischung aus marokkanischer Musik und Popmusik. Unsere neue CD ist gerade fertig, ich kann Ihnen eine geben, wenn Sie wollen…“

Der kleine Elias begann sich an Younous‘ Brust zu rühren. Er drehte seinen Kopf hin und her und schmatzte mit den Lippen. Younous bot ihm seine Finger an, das schien ihn fürs Erste zufrieden zu stellen.

„Lange schafft er es noch nicht ohne Mama“, sagte Younous.

„Ja, ich erinnere mich noch gut, man muss die kleinen Zeitfenster nutzen. Ich wollte auch gar nicht lange stören.“

„Nein, nein, sie stören nicht, wir wollten gerade zusammen fürs Mittagessen einkaufen. Vielleicht wollen Sie uns ja begleiten.“

In diesem Augenblick trat Martina wieder aus der Tür. Sie sah sehr zufrieden aus.

„So, wollen wir? Wir müssen uns leider ein bisschen beeilen, ich muss gleich wieder stillen, und bis zum Supermarkt läuft man eine Weile, das ist der einzige Nachteil an unserer Wohnung. Was ist mit dir, Papa, kommst du noch ein Stück mit?“

„Na, wenn Ihr mich beide so nett fragt…“

Die beiden jungen Leute gingen Hand in Hand. Otte trottete hinterher und bestaunte die gepflegten Grünanlagen. Das war er aus dem Norden der Stadt nicht gewohnt.

„Du siehst erschöpft aus, Papa, hattest du Dienst am Wochenende?“, fragte Martina.

„Rufdienst auf dem ITW, ja, und ich hatte es vergessen.“

„Oh, und ihr musstet raus?“

„Ja, leider.“

„Was war denn los - und was ist das für eine Beule an deiner Stirn?“

„Blöde Geschichte“, sagte Otte. Wie immer, wenn er von seiner Arbeit erzählen sollte, haderte er mit sich, wie genau er es mit der Schweigepflicht nehmen sollte. Er deutete nur grob an, was geschehen war. Als er aber in die erschrockenen Gesichter der beiden sah, fragte er sich gleich wieder, ob er nicht trotzdem noch zu viel erzählt hatte.

Sie erreichten den Supermarkt.

„Wollen Sie nicht zum Essen bleiben?“, fragte Younous, „ich koche heute. Es gibt Tajine, das ist ganz lecker, aus Marokko.“

Otte blickte Martina fragend an.

„Ja klar, Papa, bleib zum Essen, Tajine schmeckt wirklich lecker! Kommst du mit rein?“

„Ich warte draußen“, sagte Otte.

Die junge Familie verschwand im Innern des Supermarkts. Otte studierte die Außenauslage: Erdbeeren aus Ägypten, Birnen aus Chile, Chinakohl aus Spanien; dann die Aushänge mit den Sonderangeboten: Schweinenackensteaks, 100g für 79 Cent, Hähnchenschenkel 100g für 99 Cent, grobe Bratwurst 100g für 69 Cent.

Er ließ seinen Blick über den vollen Parkplatz schweifen. Ja, vieles musste sich bald ändern in dieser Welt, damit sein Enkel sie nicht eines Tages alle verfluchen würde für ihre Untätigkeit, damals, als sie die Katastrophe noch hätten verhindern können.

Otte half, die Taschen zu tragen. Elias war wach geworden und brabbelte vor sich hin. Einmal lächelte er Otte an. Otte fing an Grimassen zu schneiden, aber Elias verlor schnell wieder das Interesse an ihm.

Als sie mit den Taschen vor der Wohnung im dritten Stock angekommen waren, war Otte schon wieder völlig außer Atem.

„Papa, alles okay?“, fragte Martina.

„Jaja, ich bin nur ein bisschen aus der Übung.“

An Martinas besorgtem Blick sah er, dass sie ihm nicht ganz glaubte.

„Würdest du bitte die Schuhe ausziehen, wenn du reinkommst, das ist bei uns so üblich“, sagte Martina.

Otte erschrak. Er hatte am Morgen noch überlegt, ob er die Socke mit dem Loch unter der Ferse wirklich anbehalten sollte, und sich dann gedacht, dass die ja eh keiner sehen würde. Er versuchte, das Loch beim Schuhe ausziehen Richtung Sohle zu schieben, damit es nicht gleich auffiel.

„Lasst mich mal machen“, sagte Younous, als sie die Einkäufe in der Küche abgeladen hatten. Es war eine neue Einbauküche, kein Vergleich zu dem grob zusammengezimmerten Eigenbau in Ottes eigener Wohnung. Die Wände waren mit maurischen Wandfliesen verkleidet, deren Widerschein den ganzen Raum in ein bläuliches Licht tauchte.

Otte warf neugierige Blicke auf die weitere Einrichtung, als Martina ihn durchs Wohnzimmer auf den Balkon führte. Anstelle einer Couch waren lederne Sitzkissen auf einem bunten Teppich um einen niedrigen Tisch gruppiert. Der Tisch bestand aus einem gedrechselten hölzernen Gestell, auf dem eine runde Messingplatte ruhte. Die Messingplatte war mit feinen Ziselierungen überzogen und reflektierte das Sonnenlicht, das durch das große Fenster zum Balkon einfiel. Neben dem Tisch lag eine Decke, und darauf verstreut, Babyspielzeug.

In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner Schreibtisch mit einem aufgeklappten Rechner.

„Ja“, sagte Martina im Vorbeigehen, „das ist gerade mein Arbeitsplatz. Von da aus mache ich meinen Distanzunterricht.“

Sie traten auf den Balkon. Fast die Hälfte seiner Fläche wurde von einem Miniaturgewächshaus eingenommen, in dem schon einige Küchenkräuter sprießten.

Martina lud Otte ein, auf einem der zwei weißen Plastikstühle daneben Platz zu nehmen. Sie verschwand noch einmal in der Wohnung und kam mit einem Tablett mit einer bauchigen Zinnkanne und zwei henkellosen Tassen zurück. Der grüne Tee, den sie servierte, war mit frischer Minze versetzt und für Ottes Geschmack viel zu süß. Er nippte trotzdem weiter und lobte das Gebräu vielleicht ein bisschen zu ausdrücklich. Jetzt bloß nicht wieder was Falsches sagen, dachte er.

„So ein schöner Frühlingstag, heute“, sagte Otte mit Blick auf die Balkone gegenüber, die noch im Schatten lagen.

Martina wandte sich ihm zu und sah ihm ins Gesicht: „Es tut mir auch leid, Papa, dass ich so gemein zu dir war. Aber du hast wirklich ein paar sehr dumme Sachen gesagt.“

Otte sah zu Boden.

„Hältst du mich wirklich für einen Rassisten?“, fragte er.

„Nein, aber deine Art zu reden, und ich fürchte auch: deine Art zu denken, stammt noch aus einer Zeit, in der sich niemand Gedanken darüber gemacht hat, was Sprache mit Menschen anrichten kann.“

„Kann sein, aber ich hoffe, du hast trotzdem verstanden, dass ich mir einfach nur Sorgen um meine Tochter gemacht habe, als ich gehört habe, dass der Vater deines Kindes von deinem Gehalt mitlebt.“

„Wäre es dir lieber, ich säße zuhause, und mein Mann geht arbeiten, so wie sich das gehört?“ Martinas Stimme wurde schon wieder lauter.

„Nein, nein, ich glaube, ich habe mir einfach ganz falsche Vorstellungen von eurem Leben gemacht, wie das so ist, wenn man sich kaum sieht. Ich bin wirklich froh, dich hier so glücklich zu sehen, und ich glaube, ich kann mich auch mit deinem Mann gut anfreunden.“

„Younous ist nicht mein Mann, er ist mein Freund, und wir haben auch nicht vor, etwas daran zu ändern.“

Meine Herren ist das schwierig geworden, über Familiendinge zu reden, dachte Otte.

„Ihr werdet schon wissen, was richtig für euch ist“, sagte er.

„Ja, genau“, sagte Martina.

Sie mussten plötzlich beide grinsen.

„Ich würde dich so gerne mal wieder in den Arm nehmen“, sagte Otte.

„Lass uns noch ein paar Wochen damit warten, dann sind wir hoffentlich auch geimpft“, sagte Martina.

Aus der Wohnung drang Babygeschrei.

„Da hat noch jemand Hunger“, sagte Martina.

Sie ging hinein, kam mit Elias auf dem Arm zurück und machte sich daran, ihn zu stillen. Otte wusste nicht recht, wohin er den Blick wenden sollte. Schließlich begutachtete er die kleinen Anzuchtbeete in dem Gewächshaus. An vielen Stellen steckten beschriftete Schildchen in der Erde, ohne dass schon etwas wuchs.

Als Younous sie zum Essen hineinrief, war Elias an Martinas Brust eingeschlafen. Sie hob ihn vorsichtig in die Wiege in einer Ecke des Wohnzimmers.

Sie setzten sich auf die Kissen um den runden Tisch. Als Younous den tönernen Deckel von der Tajine hob, füllte sich die Luft mit dem Geruch starker Gewürze. Martina zeigte Otte, wie er mit Fladenbrotstücken das Gemüse aufheben musste, und sie lachten gemeinsam über seine ersten missglückten Versuche.



XI.



Es war schon später Nachmittag, als sich Otte von Martina und Younous verabschiedete. Elias hatte plötzlich angefangen sehr zu weinen, und die drei bereiteten sich für den nächsten Spaziergang vor, während Otte im Hausflur seine Schuhe anzog.

„Mensch, Papa, komm doch einfach wieder mal so spontan vorbei“, sagte Martina, „wir sind eh meistens hier.“

„Vielen Dank für eure Gastfreundschaft“, sagte Otte, „ich würde euch auch gerne mal zum Essen einladen, aber das machen wir vielleicht lieber, wenn die Restaurants wieder aufmachen.“

„Ich habe deine Fertiggerichte immer gerne gegessen“, sagte Martina.



XII.



Höchste Zeit, das Gedächtnisprotokoll zu schreiben, dachte Otte auf dem Rückweg. Der Tag würde kommen, an dem er die Geschehnisse des Vortags vor Gericht würde schildern müssen. Wahrscheinlich nicht bald, sondern in einem Jahr oder zwei. Was würde er dann noch davon wissen? Besser jetzt alles aufschreiben.
 



 
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