Tschüs

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Marc Hecht1

Mitglied
14. Juli 2020
Gerd ist tot! Gerd, mein ältester Freund.
Ich gehe durch den Park, denke an ihn, sehe ihn vor mir. So viele Erinnerungen sind es, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Wir machten viele Reisen, als wir jung waren. Einmal waren wir auf Sri Lanka. Wohnten für ein paar Wochen in einer Hütte am Strand. Gerd war damals für die Menschen dort so etwas wie ein Naturwunder. Einen so großen und schweren Weißen, mit einem so mächtigen Bauch, hatten sie wohl noch nie gesehen.
Und wie überall und immer – auch dort hatten die Menschen ihn sofort in ihr Herz geschlossen. Vor allem die Kinder liebten ihn. Alia, Alia, hatten sie gerufen, wenn sie ihn sahen. Wenn er in seiner blauen Badehose den Strand hinunter zum Meer ging.
Alia – das heißt Elefant. Und er ließ sich stets gern necken, tat aber jedes Mal empört und versuchte eines der Kinder zu fassen. Um es zu fressen, wie er drohte. Kreischend und lachend liefen die Kinder auseinander.
Und manchmal hatte er Schokolade verteilt. Und sein gütiges Gesicht war voller Freude. Tänk ju, tänk ju, hatten die Kinder gerufen, durcheinander und laut. Doch Gerd hatte geantwortet: »Oh, the pleasure is on my side.« Er hatte die Kinder stets nur im besten Oxford-Englisch angesprochen, damit auch sie es so lernten.
Tja, so war das.
Ich gehe durch den Park, es ist warm und ich habe keine Taschen dabei, trage die Whiskyflasche in der Hand. Mir graut ein wenig davor, aber die Flasche ist ein Versprechen.
„Wenn einer von uns abnippelt, trinkt der andere eine Flasche Whisky auf ihn. Ist das ok?“ hatte Gerd gefragt - und mir etwas theatralisch die Hand entgegengestreckt - ich hatte damals eingeschlagen.
Und jetzt ist es eben soweit.
Ich denke an den Zauber, den er stets versprüht hat. Alle Menschen dankten stets freundlich, wenn Gerd sie mit seinen Komplimenten überschüttete. „Sie machen Ihre Sache ausgezeichnet“ konnte er zu einem Kellner sagen, nur, weil der das bestellte Bier an den Tisch brachte.
Auch meine Frau hatte er damals verzaubert, als er bei der ersten Begegnung vor ihr stand, einen Stoff-Delphin in der Hand hielt, und linkisch erklärte: Von allen Tieren erinnere ihn ihr freundliches Wesen vor allem an einen Delphin, deshalb, statt Blumen …, die ja im Angesicht ihrer eigenen Schönheit sowieso viel zu schnell verwelkten …
Sie war entzückt, die linkische und altmodische Art, in der Gerd dies alles vortrug, hatte sie verzaubert. Sein Stoff-Delphin jedenfalls hatte seitdem einen Ehrenplatz – und auch sonst hatte sie Gerd tief in ihr Herz geschlossen. Sie fand ihn süß und brillant und tragisch. Seine schüchterne Zurückhaltung gegenüber Frauen faszinierte sie, für sie war Gerd etwas ganz Besonderes.
Ich versinke in Erinnerungen, gehe weiter, bis nach Ohlsdorf. Sehe mich um. Ohlsdorf, der größte Friedhof der Welt!, denke ich und bin befriedigt, weil etwas anderes für meinen Freund Gerd ja gar nicht in Frage käme.
Es wird dämmerig. Aber das ist mir gerade recht.
Ein Grab sieht komisch aus, wenn es noch frisch ist. Hilflos gegen die Zeit und die ewige Stille. Die Blumen und die Kränze wirken bereits verloren, im ungleichen Kampf gegen die Ewigkeit.
Für immer tot!
Es wird dunkel und ich stehe vor dem Grab.
Es ist still, so still, wie es sich gehört, für einen Friedhof.
Ich öffne die Flasche, zünde mir eine Zigarre an – und nicke dem Grab zu.
»So, Prosit!«
Es gibt hier keine Bank, keine Möglichkeit sich hinzusetzen. Also stehe ich vor dem Grab. Und nehme einen großen Schluck, zur Begrüßung.
»Es ist nur eine kleine Flasche«, sage ich zum Grab, »mehr schaffe ich nicht. Tut mir leid. Ich kann nicht mehr so viel saufen wie früher!« Der Whisky steigt mir jetzt schnell zu Kopf. Erst entschuldigend und schließlich vorwurfsvoll winke ich ab: »Du konntest das natürlich immer! Aber deshalb bist du jetzt eben auch tot!«
Das Schweigen ist furchtbar. Weil jemand einfach nicht mehr antwortet. Weil er im Grab liegt, auf einem Friedhof.
»Gut …«, ich mache eine generöse Handbewegung zum Grab hin, »das ist ja nun nicht mehr zu ändern …«
Und ich trinke ordentlich, noch einmal einen kräftigen Schluck. Höre meinen Worten nach, nicke zum Grab.
Und schließlich weine ich, mit der Flasche Whisky in der Hand. Für einen Moment nur - und beginne dann zu erzählen. Unterrichte Gerd über den jüngsten Stand der Dinge. Und dass das Schreiben nun mal eine Quälerei sei. Und wer etwas anderes erzählt, könne es nicht ernst nehmen.
Schuldbewusst sehe ich dann auf: »Aber ich stehe hier und rede immer nur von mir. Lass uns doch mal über dich sprechen. Wo bist du jetzt? Im Himmel?«
Die Stille ist unerträglich. Nur der Wind rauscht in den Baumkronen.
»Ich bin schon so dermaßen besoffen«, sage ich zum Grab. Und ertrage die Stille. Und meinen Suff. Und den Friedhof bei Nacht. Benebelt sehe ich auf das Grab; und schließlich wird das Rauschen lauter, von den Baumwipfeln kommt es herunter, schemenhaft kann ich Gerd jetzt erkennen. Er sitzt auf dem Meer von Kränzen, die Beine übereinandergeschlagen, heiter, sieht mir ins Gesicht. Und um ihn herum kommen die anderen Toten. Ganz zweifellos hat er sie in seinem neuen Leben bereits als Freunde um sich geschart.
Ich stehe da, die Flasche ist jetzt wahrhaftig leer.
Gerd lächelt und nickt mir zu.
Und die Toten umringen mich, sehen mich an, zupfen an mir, reden auf mich ein, eindringlich. Wie ein Schwall ist es, aus vielen toten Stimmen. Sie formen die Lippen, raunen, ein unheimlicher Chor:
»Schreib es auf!«
 
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