Üb immer Treu und Redlichkeit

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Üb immer Treu und Redlichkeit

Maria hatte von einer entfernten Verwandten eine geringe Geldsumme geerbt und sie auf Anraten einer Fernsehwerbung für einen Computer ausgegeben. Mühselig las sie sich durch die Bedienanleitung. Nach etlichen Monaten Geduld und Kopfschmerzen konnte sie endlich beginnen, ihre Memoiren zu schreiben. Sie hoffte, daß jemand, der sie liest, aus ihrem traurigen Schicksal etwas lernt. Doch bald waren ihre Dateien in Unordnung geraten. Mal war die Schriftart unterschiedlich, mal stimmte der Zeilenabstand bzw der Absatzeinzug nicht und mal erschienen die Silbentrennstriche mitten in der Zeile.
Sie war menschenscheu und seit vielen Jahren arbeitslos. Ihre Wohnung verließ sie nur, um Lebensmittel einzukaufen. Zu den Ämtern ging sie nur, wenn es absolut nötig war, wenn sie z.B. mit der Miete in Rückstand geriet.
Plötzlich und unerwartet bekam sie von ihrem Arbeitsamt einen Computerlehrgang geschenkt. Sie freute sich sehr. Doch dann kamen ihr Bedenken: Sechs Jahre vor der Rente noch einen Lehrgang besuchen? Jeden Tag mit wildfremden Menschen zusammen sein? Aber das Amt gab zweitausend Mark dafür aus und die BVG-Karte bezahlte es auch! Also stellte sie sich zu dem entsprechenden Montag den Wecker, frühstückte in Ruhe und packte ihre sieben Sachen. Als sie sich nach den Schuhen bückte, fuhr ihr eine gehörige Portion Dünnpfiff in die Hose. Sie dachte: „Oh Gott, du bist krank, du kannst nicht zum Lehrgang gehen! Aber was macht das für einen Eindruck, wenn man gleich am ersten Tag fehlt? Außerdem wird da Grundwissen vermittelt, das holt man nie mehr auf! Und das Amt gibt soviel Geld für dich aus und bezahlt sogar die Fahrkarte!“ Energisch reinigte sie sich, zog frische Sachen an und machte sich auf den Weg.
Beschwingt von der Tatsache, daß der Lehrer ihr nicht viel Neues erzählen konnte, fuhr sie am Nachmittag zum Alexanderplatz, wo sie ihre Jahresfahrkarte gekauft hatte, als sie noch arbeiten ging. Die Frau hinter dem Schalter sagte: „Fahrkarten für Arbeitslosenhilfeempfänger gibt es nur im Westteil der Stadt!“
Maria stopfte ihre Papiere in die Tasche und fuhr zum Herrmannplatz, der nächstgelegenen U-Bahnstation mit Fahrkartenschalter. Dort standen viele Leute, die Monatskarten kaufen wollten. Endlich durfte Maria ihre Papiere durch das Fenster reichen. Der Mensch hinter dem Fenster bellte: „Und wo ist das Paßbild?“
Sie hatte nicht gewußt, daß man für diese Sorte Fahrschein ein Paßbild braucht, aber sie wußte, daß über der U-Bahn ein großes Kaufhaus ist mit einem Fotoautomaten im Parterre. Sie steckte die verlangten sechs Mark in den Schlitz, zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und harrte der Dinge, die da kommen werden. Nach wenigen Minuten spuckte der Automat ein handtellergroßes Stück Papier aus, auf dem sechzehnmal ihr Gesicht abgebildet war, mit roten Kußmündchen. Das war für ihre Zwecke nicht zu gebrauchen. Sie konnte es sich nicht leisten, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Sie hätte nicht gewußt, woher sie die sechzig Mark Bußgeld nehmen sollte und sie kannte in ihrer Wohngegend keinen Fotografen. So las sie die Bedienanweisung noch einmal durch und drückte die für vier Paßbilder erforderlichen zehn Mark in den Schlitz, betätigte die entsprechenden Pfeiltasten und wußte, daß sie jetzt viel zu deprimiert war, um lächeln zu können. Diesmal erhielt sie sechzehnmal ihr Gesicht in schwarz-weiß. Damit ging sie zum Copyshop, ließ eines der Fotos auf Paßbildgröße ziehen und machte sich wieder auf den Weg zum Herrmannplatz. Der Mensch tackerte das Foto auf ein gelbes Kärtchen, reichte Maria ihre Unterlagen zurück und sprach: „So, damit gehen Sie jetzt zu Ihrem Arbeitsamt und lassen es abstempeln. Wenn Sie den Stempel haben, können Sie die Fahrmarke kaufen.“
In der Mittagspause am nächsten Tag lief sie hurtig zum nahegelegenen Arbeitsamt. Die Dame an der Rezeption schaute in ihren Computer und sprach: „Sie nehmen doch an diesem Lehrgang teil, da werden Sie automatisch von Alhi auf Arbeitslosengeld aufgestockt. Sie müssen sich die Fahrkarte zu 105.DM kaufen. Die Karte mit dem Paßbild können Sie verwenden, wenn Sie danach wieder Alhi bekommen.“ Maria taumelte zum Lehrgang zurück.
Sie hatte nur noch 115.DM! Die Sache mit dem automatischen Aufstocken kam ihr spanisch vor. In der nächsten Mittagspause legte Maria alle Scheu ab und störte ihre Arbeitsvermittlerin bei der Arbeit. Sie bestätigte die Worte der Empfangsdame.
Schweren Herzens gab Maria ihr letztes Geld für die BVG-Fahrkarte aus. Üb immer Treu und Redlichkeit, sei kein Schwarzfahrer!
Dann kam der Tag, an dem Maria zu schwach war, um zur Schulung zu gehen. Den anderen Lehrgangsteilnehmern fiel kaum auf, daß die stille Frau fehlte. Einige Zeit später bemerkten die Hausbewohner den ekligen Geruch, der aus ihrer Wohnung drang . . .
 
Hallo oldicke

Ein gut geschriebenes Spottlied auf unsere Bürokratie. Der Schluss befriedigt mich allerdings nicht ganz, weil er einfach nur traurig ist. Als I-Tüpfelchen der Satire hätte ich lieber gesehen, wenn das Arbeitsamt die Beerdigungskosten aufgebrummt bekommt, oder - noch bissiger formuliert - wenn zwischen den Ämtern gestritten wird, wer nun welche Kosten tragen muss.
Weiterhin viel Erfolg wünscht Dir
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

da hast du völlig recht, ein anderer schluß wäre besser gewesen. hätte ich wahrscheinlich auch gefunden, aber die geschichte ist zu 98 % authentisch, ich war also zu dicht dran. vielen dank für deine aufmerksamkeit. lg
 



 
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