Über das Staunen

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Walther

Mitglied
Über das Staunen


Wer staunt, vermag die Zukunft zu gewinnen.
Wer immer weiß, was kommt, ist schon von gestern.
Es nützt das Besserwissen nichts; das Lästern
Wird in der Hand zu fester Form gerinnen.

Das Leben, immer Fließen, immer Wendung,
Folgt nie geraden Wegen und Gesetzen,
Die der Entwicklung enge Grenzen setzen:
Das Sterben wäre reine Kraftverschwendung.

Es würde sich das Gleiche wiederholen,
Das Leben drehte sich bloß um sich selber.
Der Schöpfung würde endlos Zeit gestohlen:

Zu Ochsen würden alle Goldnen Kälber,
Orangenbäume trügen Pomeranzen.
Das Morgen wäre Opfer der Instanzen!
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Mir gefallen Deine Sonette sehr gut, auch dieses hier. Ich möchte in das zweite Quartett gedanklich eintauchen:
Das Leben, immer Fließen, immer Wendung,
Folgt nie geraden Wegen und Gesetzen,
Die der Entwicklung enge Grenzen setzen:
Das Sterben wäre reine Kraftverschwendung.
Zunächst ja - wer würde auch widersprechen, allerdings droht bei allgemeiner, schweigender Zustimmung, daß es allgemeinplatzt. Die flüssige Wendung wäre paradoxerweise dann die genaue Gegenthese: Daß das Leben sehr gerne geraden Wegen und Gesetzen folge, z.B. "Der Wiederholung Lied ist Ewigkeit".
Wenn die Planeten schon keine Kreise ziehen, so lassen sich ihre Bahnen doch mit Keplers Gesetzen beschreiben, also mit geradezu schlicht anmutenden mathematischen Formeln. Und Kepler hat mit diesem Fund natürlich nicht Grenzen gesetzt, sondern das Begreifen geöffnet. Die Ringe auf der Wasseroberfläche und ihre gleichförmige Ausbreitung - begrenzen nichts, schon gar nicht "eng", sondern machen Gesetze geradezu sichtbar. Die Lichtstrahlen sind immer grade, und wenn eine Gravitation sie ablenkt, werden weitere Gesetze offensichtlich, denn durch Zufall geschiehts nicht. Die Reflexionen und Spiegelungen - in genauer Symmetrie der Einfalls- und Ausfallswinkel, offenbare Geometrie. Die Kugelgestalt der Himmelskörper. Die Berührung der Parallelen im Fluchtpunkt. Der goldene Schnitt, in der Natur gegenwärtig durch die Fibonacchi-Zahlen in den Spiralen der Kompositen.

Den letzten Vers dieses Quartetts verstehe ich nicht. Unter welcher Bedingung und wann und warum wäre "das Leben reine Kraftverschwendung"? Wenn seine Gesetze begreifbar wären?
 

poetix

Mitglied
Hi Walther,
deiner These
Das Leben, immer Fließen, immer Wendung,
Folgt nie geraden Wegen und Gesetzen,
kann ich nur zustimmen. Das Leben gehorcht eben nicht den Gesetzen der klassischen Mechanik, sondern verhält sich chaotisch. Wenn ich richtig verstehe, spielt sich der ganze Rest des Gedichts im Irrealis ab. Das finde ich schade. Ich habe den Eindruck, dass dadurch dem Gedicht die Direktheit genommen wird. Aber das ist natürlich nur mein persönlicher Eindruck und ändert nichts an der handwerklichen Qualität des Sonetts. Hat mir gefallen.
Viele Grüße
poetix
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich sehe, da hat jemand was nicht verstanden. Naturgesetze sind keine Imperative, deshalb "gehorcht" ihnen nichts. Sie sind sprachlich verdichtete Erklärungen der Natur, Poesie in der Hochzeit von Verstand und Anschauung. Funde, die den Naturbeoabachter staunen lassen.
 

poetix

Mitglied
Hi Walther,
es tut mir leid, dass hier Querfeuer entsteht, weil jemand die Redewendung "das Universum gehorcht den Naturgesetzen" noch nie gehört hat und andererseits das Verhalten der Menschen mit den Gesetzen der Planetenbewegung beschreiben will.
Es soll ja hier um dein Gedicht gehen und daran ist nichts auszusetzen.
Viele Grüße
poetix
 

Walther

Mitglied
hallo mondnein,

ganz herzlichen dank für deine wichtigen und interessanten ausführungen.

in der tat gelten in unserem universum die von dir beschriebenen naturgesetze. sie sind auch der ausgangspunkt des lebens auf unserem planeten und bilden dessen rahmen. leben aber ist, in diesem rahmen, veränderung.

die thesen des gedichts sind geschmacksache. in der tat ist ein verhindern von (ver)änderungen erstickend und führt zum tod bzw. absterben des lebens. das staunen (und aus ihm erwachsend, das forschen) ist eine ganz spezifische form menschlichen seins. beides zu verhindern oder zu unterbinden ist zu kritisieren. darüber denkt das sonett nach.

das schließt die notwendigkeit von regeln nicht aus. aber das war nicht das thema des textes. verdichtung schafft klarheit und radikalität. und das ist so gewollt und wichtig.

die bilder in s4 sind zwei arten von unmöglichkeiten. pomeranzen (nicht die vom lande, sondern die zierorangen) schmecken furchtbar bitter. goldene kälber sind gottheitsprojektionen, die zu kastrierten stieren werden, also sich nicht fortpflanzen können. das paßt an dieser stelle schon, wenn auch etwas nachsinnen notwendig ist.

das synonym für die erstickung jeder initiative ist der gang durch die bürokratischen "instanzen". wer das staunen instanziiert, schafft es ab. besser kann man das, was beklagt wird, kaum ausdrücken. denn ohne staunen kein forschen, ohne forschen kein wagen und ohne wagen keine veränderung.

lg w.


lb. poetix,

manches an diesem text kann sicher besser gemacht werden. daher habe ich oben meine überlegungen, durch plastische bilder meine aussage zu untermauern, ein wenig erläutert. allerdings hat der dichter, der sein werk erklärt, fast schon verloren.

der streit über den inhalt ist berechtigt. allerdings geht er hier von einer falschen betrachtungsebene aus. das leben ist ohne wagnis nicht möglich.

danke für deine gedanken und hinweise!

lg w.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, danke, lieber Walther, und ich nehme auch gerne das ganze Sonett in den Blick, statt nur des zweiten Quartetts (auf das ich mich ja beschränkt hatte), und das heißt: Der "Entwicklungs"-Begriff erscheint mir nun sehr zentral - Deiner Erklärung wegen! Ich bin immer froh, wenn ein Dichter etwas von seinem Gedicht erklärt und ärgere mich, wenn das verweigert wird, weil das ein Gesetz sei usw. - ein "Gesetz", zum Gesäß mit diesem angeblichen "Gesetz"!
Und fast noch wichtiger als das "Entwicklungs"-Zentrum des Gedankens die Eröffnung mit dem "Staunen". Oh ja, das ist's! Staunen durchbricht die tödlichen langen Weilen der ewigen Kreise, Staunen ist das Ostern aller Erfahrung, aller Erkenntnis, allen Bewußtseins, das die Entwicklungen in ihr Pfingsten einmünden läßt.

Pomeranzen waren mir bekannt, als die "Orangen"-Sorte, die man für 4711 verwendet (ich stamme aus Köln).
 

Walther

Mitglied
lb mondnein,

daß 4711 (land)pomeranzenessenz enthält, war mir neu, wäre aber in der tat wirklich passend. :) und ich staune immer wieder über deine fabulierkünste, diesmal zum staunen!

danke dir fürs reinlesen!

lg w.
 

Sabina

Mitglied
Vielen Dank!

... für die Erinnerung,
nicht alles so selbstverständlich hinzunehmen,
sondern genau hinzuschauen
und offen zu sein für all die kleinen Überraschungen
dieses wunderbaren Lebens!
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
nicht nur über das Staunen schreibend, sondern selbst staunend

Wohl ist von Staunen auch der Sturm oh Herr,
Des Chaos Glanz, dem diese Gischt entschneit
Für diesen Vers (im "Muschel"-Lied) wurde ich dieser Tage heftig von JoteS verprügelt. Er nennt's "Geschwafel".
In der Tat halte ich das Staunen für den Keim und Kern der ästhetischen Erfahrung und des Dichtens, etwa so wie Rilke das "Rühmen" - ohne damit etwas über Qualität urteilen zu wollen.
Und deshalb habe ich mehr als nur Freude darüber, daß das "Staunen" hier, in Deinem Gedicht, Walther, so hoch geschätzt wird.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther,

Dein Gedicht hatte mich ja zu einem kleinen Antwortgedicht inspiriert, das ich in leicht verbesserter Form als Schweben eingestellt habe.

Auch dort geht es ums Staunen, wie es uns neue Weltsichten öffnet.

Danke für Dein anregendes Gedicht und liebe Grüße

Herbert
 

Walther

Mitglied
hi mondnein,

danke für deinen tiefsinnigen eintrag. was ist kitsch, was ist kunst? das ist immer ein grenzgang.

das staunen ist die grundessenz des menschseins. es bildet mit dem forschen ein geschwisterpaar.

lg w.


hi herbert,

danke für diese wunderbaren vier verse!

lg w.
 



 
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