Über den Wolken
Wieder einmal war ich mit Gunther verabredet. Wir wollten im Wörlitzer Park einige Filmszenen drehen. Er hatte das Stativ und zwei Vorsatzlinsen im Gepäck, ich meine batteriegeladene Acht-Millimeter-Kamera. Wir stiegen in seinen roten Sportwagen und fuhren los. Während der Fahrt unterhielten wir uns spaßig über frühere Filmprojekte und die Flops des letzten Amateur-Film-Festivals. Er lobte den Kurzfilm, den ich ganz allein produziert hatte. Das machte mich sehr stolz.
Plötzlich erhob sich der Wagen in die Luft. Erschrocken fragte ich, was das soll? Er antwortete: „Ja, denkst du denn, ich fahre mitten im Berufsverkehr durch die Stadt? Ich hab das Auto modernisieren lassen, jetzt kann es fliegen.“ Ich war begeistert. Ein fliegendes Auto, hurra, die Wissenschaft hat Fortschritte gemacht! Ich fühlte mich ganz wunderbar, so, als wäre ich Teil eines fantastischen Geschehens. Ich hätte die ganze Welt umarmen mögen!
Es gab noch andere Fahrzeuge in der Luft, Motorräder und sogar Surfbretter. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schön, ich hatte einige Zeit keinen Kontakt zu anderen Menschen, aber ich hatte doch ferngesehen, wie konnte mir ein solcher Fortschritt entgangen sein? Das Nachdenken darüber verging mir bald, denn manch einer fuhr so rasant, daß Zusammenstöße zu befürchten waren. Oft zog ich ängstlich den Kopf ein, um nicht gerammt zu werden. Glücklicherweise hatten wir die Stadt bald hinter uns und Gunther landete wieder. Hinter uns war ein unwilliges Brummen zu vernehmen. Wir drehten uns um und erblickten ein Geschöpf, das zur Hälfte aus Rauch zu bestehen schien. Es nahm die gesamte Rückbank ein. Die luftigen Beine wedelten mal rechts und mal links aus dem Wagen, der umfangreiche Bauch waberte auf und nieder und die häßliche Fratze, die sein Gesicht sein sollte, verzog sich ständig in alle Richtungen. Gunther sprang mit einem Schreckensschrei aus dem Auto. Dazu war ich zu feige. Ich sagte angstzitternd: „Ich kann nicht autofahren, ich kann den Wagen nicht lenken!“ – „Das laß mal meine Sorge sein,“ knurrte der Geist. „Hauptsache, wir kommen heil nach Wörlitz.“
Er erzählte mir, daß er seine Tante im Berliner Schloß besuchen wollte und vor Entsetzen darüber, daß das Schloß nach Kriegsende geschliffen wurde, sich zur Hälfte mit Rauch gefüllt hat und somit zu schwer für eine Geistreise war und in unseren Wagen plumpste. „Das ist immer so,“ sagte er, „immer, wenn irgendwo in meiner Nähe Krieg ist oder etwas Schlimmes geschieht, fülle ich mich mit Rauch. Deshalb hab ich mich auch im letzten Krieg – 1938 oder so – in einem ganz tiefen Erdloch versteckt. An dem Loch grabe ich schon seit fast tausend Jahren. Ich wäre jetzt gar nicht hervorgekommen, es war ja seit 44 nie wieder richtig ruhig in Europa, aber meine Mutter will wieder heiraten und will unbedingt, daß ihre Schwester, die ihren Wohnsitz im Grundstein des Berliner Schlosses hatte – weiß der Deibel, wo der nun abgeblieben ist, möglicherweise haben ihn die Barbaren zerschlagen, dann ist meine arme Tante tot – an der Feier teilnimmt. Meine Mutter hat mich geschickt, weil der normale Weg, den unsere Nachrichten sonst nehmen, ins Ausland abgewandert ist. Nein, nicht der Weg, die Eulen. Sind jetzt alle im Dunstkreis von Harry Potter. Die einheimischen vermehren sich zu langsam. In diesem Deutschland wird ja auf gar nichts mehr Rücksicht genommen. Spielt keine Rolle, wenn diese oder jene Eulenart ausstirbt! Hauptsache, der Deutsche hat seinen Weihnachtsbaum.“
Eine große Träne versickerte im Rauch seines Gesichtes. Ich hatte von vornherein mehr Angst, das Auto könnte von der Straße abkommen als davor, das Geschöpf könnte bösartig sein. Jetzt wurde es mir immer sympathischer mit seiner männlich rauhen Stimme. Ein denkendes und fühlendes Wesen aus einer ganz normalen Familie, wovor sollte ich mich fürchten? Ich sprach ihm Trost zu und wir fuhren gemütlich nach Wörlitz. Das Auto fuhr ruhiger und zügiger, als wenn Gunther am Steuer saß.
Der Geist erzählte mir noch viel von seinen Verwandten – daß sein jüngerer Bruder seinerzeit soviel Spaß daran hatte, sich köpfen zu lassen, daß er jetzt ohne Kopf herumlaufen muß (der Vater hatte zornig den Kopf versteckt und vergessen, wo) und daß seine Großmutter sich für immer und alle Zeiten in einen Schwarm Irrlichter verwandelt hat. Dabei wollte sie damals nur zwei Verliebten helfen, einen sicheren Weg durch das Moor zu finden. Nun ja, es gibt kaum eine Familie, in der absolut alles glatt geht.
Ich erzählte ihm von dem Wörlitzer Filmprojekt und er zeigte sich sehr interessiert. Er wußte nicht, was Film überhaupt ist und hielt mich für eine Hexe, wollte mir unbedingt einen saftigen Bruderkuß aufdrücken. Aber ich konnte ihm anhand der Kamera alles erläutern. Hoffentlich ist sie noch ganz. Doch wie komme ich später ohne Gunther und ohne den Geist nach Berlin zurück? Ich kann doch das teure Auto nicht einfach unverschlossen in Wörlitz stehen lassen! Die bange Frage wurde vom Weckerklingeln beantwortet. Obwohl ich nun wach war, sah ich doch noch immer den wundervollen Wörlitzer Park vor mir . . .
Wieder einmal war ich mit Gunther verabredet. Wir wollten im Wörlitzer Park einige Filmszenen drehen. Er hatte das Stativ und zwei Vorsatzlinsen im Gepäck, ich meine batteriegeladene Acht-Millimeter-Kamera. Wir stiegen in seinen roten Sportwagen und fuhren los. Während der Fahrt unterhielten wir uns spaßig über frühere Filmprojekte und die Flops des letzten Amateur-Film-Festivals. Er lobte den Kurzfilm, den ich ganz allein produziert hatte. Das machte mich sehr stolz.
Plötzlich erhob sich der Wagen in die Luft. Erschrocken fragte ich, was das soll? Er antwortete: „Ja, denkst du denn, ich fahre mitten im Berufsverkehr durch die Stadt? Ich hab das Auto modernisieren lassen, jetzt kann es fliegen.“ Ich war begeistert. Ein fliegendes Auto, hurra, die Wissenschaft hat Fortschritte gemacht! Ich fühlte mich ganz wunderbar, so, als wäre ich Teil eines fantastischen Geschehens. Ich hätte die ganze Welt umarmen mögen!
Es gab noch andere Fahrzeuge in der Luft, Motorräder und sogar Surfbretter. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schön, ich hatte einige Zeit keinen Kontakt zu anderen Menschen, aber ich hatte doch ferngesehen, wie konnte mir ein solcher Fortschritt entgangen sein? Das Nachdenken darüber verging mir bald, denn manch einer fuhr so rasant, daß Zusammenstöße zu befürchten waren. Oft zog ich ängstlich den Kopf ein, um nicht gerammt zu werden. Glücklicherweise hatten wir die Stadt bald hinter uns und Gunther landete wieder. Hinter uns war ein unwilliges Brummen zu vernehmen. Wir drehten uns um und erblickten ein Geschöpf, das zur Hälfte aus Rauch zu bestehen schien. Es nahm die gesamte Rückbank ein. Die luftigen Beine wedelten mal rechts und mal links aus dem Wagen, der umfangreiche Bauch waberte auf und nieder und die häßliche Fratze, die sein Gesicht sein sollte, verzog sich ständig in alle Richtungen. Gunther sprang mit einem Schreckensschrei aus dem Auto. Dazu war ich zu feige. Ich sagte angstzitternd: „Ich kann nicht autofahren, ich kann den Wagen nicht lenken!“ – „Das laß mal meine Sorge sein,“ knurrte der Geist. „Hauptsache, wir kommen heil nach Wörlitz.“
Er erzählte mir, daß er seine Tante im Berliner Schloß besuchen wollte und vor Entsetzen darüber, daß das Schloß nach Kriegsende geschliffen wurde, sich zur Hälfte mit Rauch gefüllt hat und somit zu schwer für eine Geistreise war und in unseren Wagen plumpste. „Das ist immer so,“ sagte er, „immer, wenn irgendwo in meiner Nähe Krieg ist oder etwas Schlimmes geschieht, fülle ich mich mit Rauch. Deshalb hab ich mich auch im letzten Krieg – 1938 oder so – in einem ganz tiefen Erdloch versteckt. An dem Loch grabe ich schon seit fast tausend Jahren. Ich wäre jetzt gar nicht hervorgekommen, es war ja seit 44 nie wieder richtig ruhig in Europa, aber meine Mutter will wieder heiraten und will unbedingt, daß ihre Schwester, die ihren Wohnsitz im Grundstein des Berliner Schlosses hatte – weiß der Deibel, wo der nun abgeblieben ist, möglicherweise haben ihn die Barbaren zerschlagen, dann ist meine arme Tante tot – an der Feier teilnimmt. Meine Mutter hat mich geschickt, weil der normale Weg, den unsere Nachrichten sonst nehmen, ins Ausland abgewandert ist. Nein, nicht der Weg, die Eulen. Sind jetzt alle im Dunstkreis von Harry Potter. Die einheimischen vermehren sich zu langsam. In diesem Deutschland wird ja auf gar nichts mehr Rücksicht genommen. Spielt keine Rolle, wenn diese oder jene Eulenart ausstirbt! Hauptsache, der Deutsche hat seinen Weihnachtsbaum.“
Eine große Träne versickerte im Rauch seines Gesichtes. Ich hatte von vornherein mehr Angst, das Auto könnte von der Straße abkommen als davor, das Geschöpf könnte bösartig sein. Jetzt wurde es mir immer sympathischer mit seiner männlich rauhen Stimme. Ein denkendes und fühlendes Wesen aus einer ganz normalen Familie, wovor sollte ich mich fürchten? Ich sprach ihm Trost zu und wir fuhren gemütlich nach Wörlitz. Das Auto fuhr ruhiger und zügiger, als wenn Gunther am Steuer saß.
Der Geist erzählte mir noch viel von seinen Verwandten – daß sein jüngerer Bruder seinerzeit soviel Spaß daran hatte, sich köpfen zu lassen, daß er jetzt ohne Kopf herumlaufen muß (der Vater hatte zornig den Kopf versteckt und vergessen, wo) und daß seine Großmutter sich für immer und alle Zeiten in einen Schwarm Irrlichter verwandelt hat. Dabei wollte sie damals nur zwei Verliebten helfen, einen sicheren Weg durch das Moor zu finden. Nun ja, es gibt kaum eine Familie, in der absolut alles glatt geht.
Ich erzählte ihm von dem Wörlitzer Filmprojekt und er zeigte sich sehr interessiert. Er wußte nicht, was Film überhaupt ist und hielt mich für eine Hexe, wollte mir unbedingt einen saftigen Bruderkuß aufdrücken. Aber ich konnte ihm anhand der Kamera alles erläutern. Hoffentlich ist sie noch ganz. Doch wie komme ich später ohne Gunther und ohne den Geist nach Berlin zurück? Ich kann doch das teure Auto nicht einfach unverschlossen in Wörlitz stehen lassen! Die bange Frage wurde vom Weckerklingeln beantwortet. Obwohl ich nun wach war, sah ich doch noch immer den wundervollen Wörlitzer Park vor mir . . .