Über die Erkenntnisverweigerer

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Walther

Mitglied
Über die Erkenntnisverweigerer


Es gibt die vielen lauten Besserwisser.
Die Welterklärung ist ihr ganzes Streben.
Ihr widmen sie ihr armes Erdenleben.
Wenn es um Zukunft geht, sind sie nur Schisser,

Die felsenfest am Vorvorgestern kleben.
Man findet sie als tumbe Fahnenhisser,
Ob rot ob braun, schon das bedarf gewisser
Detailverliebter Klauberei, denn eben

Mal schnell den Ismus von dem Ismus trennen:
Da kann man sich vertun. Ihr Recht-zu-haben
Ein Mantra, das wir aus den Zeiten kennen,

Als sie die Mauer bauten, Lager, Graben:
Man sieht sich wieder durch die Nächte rennen,
Als die Tyrannen den Befreier gaben.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Walther,
ich sehe einen inhaltlichen Punkt: "Besserwisser" ist viel allgemeiner, sofern man mit Mauerbau nicht zugleich "Mauer in den Köpfen" meint.

Wichtig ist das Gedicht aber und "Zukunft" erklärt auch den Inhalt.

Egal, welcher "...ismus" - die Zukunft wird (wenn auch aus verschiedenen Gründen) ignoriert.

Wir tun weiterhin so, als sei die Erde unendlich - insbesondere auch bei den Abgasen, die wir in die Atmosphäre blasen.

"Ob rot ob braun, schon das bedarf gewisser
Detailverliebter Klauberei, denn eben"

Hier sehe ich eine heute verbreitete "Vereinfachung". Sie ist natürlich polemisch - aber in dieser Allgemeinheit falsch, obwohl ich in Einzelfällen zustimmen möchte. Insbesondere ist sie populistisch.

Ein paar Gedanken:
--
Ich denke auch an Chile, Vietnam und andere.

--

Krieg scheint wieder populär zu sein.

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Wir wollen wieder befreien.

--

Ich blicke nicht mehr durch in der vorhandenen Politik, Ursache und Wirkung verflechten sich in Knäueln.

---

Überblick durch Vereinfachung.
 
O

orlando

Gast
Du sprichst mir aus der Seele, Walther.
Ich stimme Bernd insofern zu, dass dieses Gedicht polemisch ist und die Ziele außer Acht lässt, die den genannten Weltanschauungen zugrunde lagen. Schaue ich mir aber den Output an (die unermesslichen Zahlen der Opfer) kann man schon ins Grübeln kommen ...
Ich mag dein Gedicht. Es steckt voller Leidenschaft und deshalb voller Überzeugungskraft.
Megageil (falls mir dieser neudeutsche Ausdruck gestattet sein sollte) finde ich

Ein Mantra, das wir aus den Zeiten kennen,

Als sie die Mauer bauten, Lager, Graben:
Man sieht sich wieder durch die Nächte rennen,
Als die Tyrannen den Befreier gaben.
orlando
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wir haben ja jetzt auch einen ...ismus, der viele Millionen Leben gekostet hat. Ich sehe den Pflock im eigenen Auge. Gesellschaften können lernen.
Das Lernen beginnt mit Respekt. Kapitalistische Weltanschauungen sind nicht so sehr anders, was die pure Zahl der Toten betrifft, wenn man den ersten Weltkrieg und verschiedene andere mitzählt.
Ich denke, man darf Kapitalismus und Sozialismus dem braunen Nationalsozialismus nicht gleichsetzen, wo Völkermord gezielt durchgeführt wurde.
 
O

orlando

Gast
Das stimmt natürlich voll und ganz.
Aber das Gedicht schildert nur eine Sichtweise, die nicht unbedingt mit Walthers persönlichen Einsichten übereinstimmen muss. - Und es gab einen Pakt zwischen Stalin und Hitler.

Allerdings fände ich auch besser, wenn das Braun durch eine andere Farbe ersetzt würde ... ;)
 

Thylda

Mitglied
Lieber Walther

Es kommt immer darauf an, welcher "ismus" gerade in Mode ist http://www.zeit.de/2014/38/krieg-krise-westen-pankaj-mishra . Am Ende muß man sich wohl doch dazu bequemen, das eigene Gehirn und das eigene Herz zu benutzen. Die vielen Einflüsterungen und Prägungen vernebeln dabei den Geist.

Obwohl ich mir sicher bin, daß Du das nicht gemeint hast, paßt Dein Text sehr gut auf das, was soeben hier in Schottland geschieht, um die Menschen davon abzuhalten für die Unabhängigkeit zu stimmen. Und die ganze Welt sieht zu. Denen es um ihre Pfründe geht in Schrecken und andere in Brasilien, Australien, Neuseeland, Kanada, Katalonien usw. in Hoffnung für Schottland.

Revolution an der Wahlurne. Unkenrufe in den herkömmlichen Medien. Waldbrände in den sozialen Medien. Karnevalstimmung auf den Straßen. Den "ismus" überwinden wir vielleicht am Donnerstag.
Dann muß ich mich erst mal erholen ;)

Danke für Deine Zeilen, auch wenn sie so nicht gemeint waren.

Liebe Grüße
Thylda
 

Walther

Mitglied
hallo ihr lieben,

ganz kurz, da ich gerade in der arbeit ersaufe, ein hinweis: ich beziehe mich hier auf den totalitarismus-ansatz von Hannah Arendt. sie hat den vorteil, in dieser sache gänzlich unverdächtig zu sein. mehr zu ihr hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt

im détail werde ich in kürze antwortten. ich bitte um ein paar tage geduld.

lg w.
 

Walther

Mitglied
Hallo Bernd,

natürlich ist dieses gedicht, weil es ein politisches ist, polemisch und in seiner verallgemeinernden überspitzung ungerecht. braun ist nicht gleich rot und umgekehrt. Pol Pot ist nicht Castro und Mussolini/Franco nicht Hitler.

dennoch darf die zielfrage übersehen gehen, wenn die mittel eine große ähnlichkeit aufweisen. es war allen vertretern und beförderern absoluter ideen immer "erlaubt", zur umsetzung des sog. "besten" für alle den einzelnen umzubringen, schauprozesse zu veranstalten, ihn in arbeits-, erziehungs- oder tötungslager zu stecken. man könnte das mittelthema weiter vertiefen.

eine idee ist nur solange "gut", solange man sie unter dem kuratell der menschenrechte, des rechtsstaats und der freien wahl realisieren will. wenn man das nicht mehr tut und wenn man, wenn man die macht gewonnen hat, dann diese grundrechte außer kraft setzt, dann ist es egal, ob das ziel "gut" ist. immer dann, wenn eine idee, ein ziel, sich absolut setzt, ist es nicht mehr gut und auch nicht wirklich besser als andere, die das auch tun, weil für die menschen das ergebnis identisch ist: wer nicht pariert, wird gekillt, eingekastelt, bestraft, mundtot gemacht. er ist freiwild, mit dem der, der sich im besitz der wahrheit befindet, tun kann, was er will.

der zweck heiligt die mittel, genauso wenig, wie der weg das ziel ist.

lg w.


lb. orlando,

du hast die kernpassage herausgehoben. es ist just der teil des sonetts, in dem vom theoretischen ins praktische gegangen wird. jeder weiß bei diesem bild, was gemeint ist.

man muß unangenehme wahrheiten in geschichten und bildern erzählen, damit sie nachvollzogen werden können. wir lernen nur vom ganzheitlichen haptischen erleben. gerede ist oft nichts als gemurmel, das nichts berührt und verändert.

danke fürs hervorheben dieser vier wichtigen verse!

lg w.


@ all: hier steht ein schwestergedicht zu einem ähnlich gelagerten thema: http://www.leselupe.de/lw/titel-Der-Kotzbrocken-119384.htm es ist in amphibrachen gestaltet, weil das rhetorisch besser wirkt. :D
 

Walther

Mitglied
Hi Thylda,

die abstimmung ist vorüber. das beste an der debatte über Schottlands unabhängigkeit ist, daß sie mit demokratischen mitteln geführt und am ende auch entschieden wurde. daran könnten sich verschiedene andere mächte, mächtige und völker ein beispiel nehmen. bleibt zu hoffen, daß die straßenkämpfe in Glasgow heute nacht eine ausnahme bleiben.

ja, das mit den -ismen ist so eine sache. auch der patriotismus kann zum nationalismus werden. und die minderheit die mehrheit einfach nicht als spielregel anerkennen.

in diesem sinne wünsche ich dir alles gute. erhole dich, egal auf welcher seite du warst. denn eines haben die schotten erreicht. das Vereinigte Königreich ist seit Freitag nicht mehr, was es einmal war.

lg w.
 



 
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