Über Lebenskampf

Dinolinchen

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Irgendetwas war mit seinen Augen passiert. Das war ihm sofort klar. Er konnte nur noch verschwommen sehen, furchtbar helles Licht blendete ihn. Er wusste noch, dass er in ein Flugzeug eingestiegen war.

Das hatte er schon oft getan. Diesmal war er auf dem Weg von New York nach Paris. Dort wollte er seine Mutter besuchen. Sie feierte morgen ihren 70. Geburtstag. Er hatte eine kiloschwere Pralinenschachtel für sie im Handgepäck. Die hatte die Stewardess für ihn über dem Sitz verstaut. Er hatte sie ausnahmsweise mit in die Kabine nehmen dürfen, weil er sie direkt bei der Ankunft in Paris übergeben wollte, wenn seine Mutter ihm von Flughafen abholte.

Die Stewardess hatte ihm gerade einen Tomatensaft angeboten, als es passierte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte es einen dumpfen, aber zugleich markerschütternden Knall gegeben. Ein Geräusch, wie man es 5000 Meter über den Wolken nicht wirklich hören wollte. Das riesige Flugzeug, in dem sich so viele Passagiere befanden wie in einer Kleinstadt Einwohner lebten, stieg daraufhin steil in den Himmel.

Gottseidank stürzte es nicht in Richtung Boden, obwohl er damit eigentlich gerechnet hätte. Vor allem mit seinem Hintergund. Ob der Pilot eine neue Flugfläche ansteuerte, angesichts irgendwelcher Probleme? Aber noch etwas war anders, als er es von sonstigen Flügen kannte. Dabei flog er oft, musste als Immobilienmakler von A nach B und auch von C nach D reisen.

Er erinnerte sich, wie er als Jugendlicher von den Abstürzen der ersten Düsen-Passagiermaschinen der Comet-Klasse 1956 gehört hatte. Dafür hatte er sich wirklich interessiert und auch ein wenig nachgeforscht. Die Flieger waren einfach in der Luft zerbrochen, weil Materialermüdung den stählernen Mantel des Rumpfes zum Bersten gebracht hatte.

Aber das gehörte der Vergangenheit an. Heutzutage waren die Materialien moderner Flieger viel stabiler. Waren die Wände dicker oder dünner als früher? Das wusste er nicht mehr so genau, aber stabiler waren sie auf jeden Fall, da war er sich sicher.

Immerhin funktionierte sein Gehör offenbar noch einwandfrei. Er registrierte das beruhigende Brummen der Triebwerke. Er fühlte, dass die Maschine nach wie vor an Höhe gewann. Aber irgendetwas war mit der Klimaanlage nicht in Ordnung. Ihm war kalt. Und dann seine Augen. Immer greller wurde das Licht, das ihn mehr und mehr blendete.

Er fragte sich, ob er sich Sorgen machen musste, blickte sich um. Alle anderen Passagiere schienen in ihren Sitzen ruhig zu bleiben. Nicht alle waren bewegungslos - manche ruderten mit den Armen, als ob sie ihm zuwinken wollten. Andere saßen zusammengesunken auf ihren Sitzen, als wollten sie nachdenken. Aber keiner schrie. Es gab keine Panik. Alles in Ordnung offenbar.

Wo war denn bloß die Stewardess, die ihm gerade noch einen Tomatensaft angeboten hatte? Nun hätte er wirklich Durst. Er konnte sie nicht entdecken. Der Gang war leer, von der Frau in der adretten Uniform nichts zu sehen.

Die riesige Boeing schien immer noch in den Himmel über New York zu steigen. Aber jetzt hatte er das Gefühl, dass ihm das Atmen schwerer fiel. Die Luft wurde offenbar dünner, das kannte er auch aus seiner Lektüre von Flugzeugunglücken. Waren sie in einer Höhe, in der nicht mehr genug Sauerstoff vorhanden war, um das Blut zu versorgen und der Druckausgleich in der Kabine zusammengebrochen? Das würde, so hatte er es in der Ansage vor dem Start gehört, nur in einem sehr unwahrscheinlichen Fall passieren.

Außerdem müssten dann ja wohl Sauerstoffmasken aus verborgenen Öffnungen in der Decke herausfallen. Dennoch fiel ihm das Atmen zunehmend schwerer. Vielleicht gab es ein Leck in der Kabine, der Druckverlust führte in großer Höhe zu Problemen. Er streckte seine Hände in Richtung Decke, um nachzufühlen. Er konnte keine Masken entdecken, aber es war ihm auch unmöglich, aufzustehen und an die Decke zu greifen.



Es fühlte sich an, als ob er schwerer wäre als sonst. Meist wog er – nach dem Rasieren - 75 Kilogramm, ein für einen Mann seines Alters durchschnittliches Gewicht. Aber er wurde in den Sitz gepresst, als ob er viele Zentner schwer wäre.

Immerhin wusste er ziemlich genau, was als nächstes kommen würde. Der Kapitän würde einen Notabstieg einleiten, um eine sauerstoffsichere Höhe zu erreichen. Er vertraute auf die moderne Technik und die Menschen, die sie zu beherrschen in der Lage waren.

Das Einzige, was ihn wirklich beunruhigte, war dieses grelle Licht. Es kam ihm vor, als ob er direkt und ungefiltert in die Sonne blicken würde. Aber das war unmöglich, er saß schließlich in einer geschlossenen Kabine. Konnte er auch seinen Sinnen nicht mehr trauen? Ganz offenbar war das der Fall.

Vielleicht, so seine blitzschnelle neue Überlegung, hatte die Crew eine Art Notbeleuchtung eingeschaltet, die normales Sehen unmöglich machte. Jetzt endlich senkte sich die Nase des Flugzeugs. Es strebte nicht mehr gen Himmel, sondern schwebte sanft, Meter für Meter, hinab in Richtung Erdboden. Die Piloten hatten offenbar die volle Kontrolle über die Maschine zurückgewonnen.

Diese Einschätzung beruhigte ihn ungemein. Jetzt fand er auch eine Erklärung für das grelle Licht. Nun machte alles einen Sinn. Das mussten die Leuchtfeuer der Landebahn sein, die der Pilot ansteuerte. Nach unendlich scheinenden Minuten hörte er, wie die Reifen des Fahrwerks quietschend und schliddernde auf offenbar regennassem Boden aufsetzten.

Eine ungeheure Erleichterung überkam ihn. Es war alles noch einmal gut gegangen. Er klatschte den Piloten Beifall, die den Flieger in so einer schwierigen SItuation sicher zu Boden gebracht hatten. Er wollte sich gerade fragen, warum kein anderer Passagier in seinen Applaus einstimmte, als er starb.

Bis dahin waren gerade einmal 60 Sekunden vergangen, seitdem der mittlere, fast leere, Treibstofftank von Flug TWA 800 durch einen Kurzschluss explodiert war. Als erstes wurde das Cockpit abgetrennt. Der Rumpf stieg dank laufender Turbinen noch 30 Sekunden lang auf, dann zerbrach die restliche Maschine in mehrere Teile und raste mit mehr als 200 Metern in der Sekunde zu Boden – nahezu Schallgeschwindigkeit. Den Aufprall hatte keiner der 230 Menschen an Bord überlebt. Der Sturz selbst muss grauenhaft gewesen sein.
 
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Blue Sky

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Hi Dinolinchen,

Das ist sehr grausam eigentlich, wenn man als Passagier, in der Kiste sitzend, nicht so feuerfest ist wie Daenerys Sturmtochter, Mutter der Drachen!
Der Begriff; Saftschupse hat mich beim Lesen aber irgendwie gestört. Da die Beschreibung des erlebten Infernos so im Ganzen doch recht unaufgeregt und sachlich passiert, empfinde ich die Beleidigung an dieser Stelle besonders, aber auch sonst unangemessen.

LG
BS
 



 
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