Überfluss und Irrtum

Gerhard Dubius lebt in jenen zweifelhaften Jahren, in denen er sich fragen muss, ob sich das Dasein wirklich noch lohne. Tatsächlich wurde er täglich überflüssiger und seine Irrtümer waren nicht mehr nur menschlich sondern sie nahmen einfach tierisch zu.
Schließlich verfügt die Menschheit an sich längst über ausreichend Irrtümer und braucht seine nicht auch noch. Und viele der seinen sind einfach nur lächerlich, obwohl es ihm inzwischen ausgesprochen selten gelingt, herzlich darüber zu lachen.
Wie erwartet: Annegreet Unrath-Dubius, seine Frau widerspricht ihm. Das tut sie ständig. Will sie ihm doch eine immer noch vorhandene Bedeutung vorgaukeln, obwohl sie – so vermutet Gerhard - selbst nicht daran glaubt. Aber mit einem unbedeutenden Mann verheiratet zu sein, lässt sie im heimlichen Wettbewerb mit allen anderen Ehefrauen dieser Erde vermutlich zu weit zurückfallen.
Natürlich hat jeder Mensch sein ureigenes Recht darauf, sich immer wieder gründlich und aufs Neue zu irren. Und dieses Recht hat Annegret selbstverständlich auch. Und Gerhard sowieso. Darauf besteht er und versucht seiner Frau tief in die hellblauen Augen zu sehen.
Wenn sie beide an diesen Punkt ihrer Auseinandersetzung kommen, nickt Annegreet auffällig heftig. Immer wenn sie überzeugend zustimmen will, nickt sie übertrieben heftig. Immer und leider auch immer öfter.
Nicht, dass Gerhard sich nicht um wahre Erkenntnisse, ja sogar um schmerzhafte Selbsterkenntnisse, bemüht. Im Gegenteil.
An jedem Tag, zu dem er erwacht, versucht er, engagiert und unverdrossen neue Wahrheiten zu suchen und zu erfinden.
Doch gerade die neu entdeckten Wahrheiten stellen sich zu häufig als veraltete Täuschungen heraus, die er längst aus seinem oder dem Leben andere Menschen kennt. Und bei dieser Erkenntnis nickt Annegret Unrath-Dubius stets ganz besonders überzeugend.
Nun darf – so denkt Gerhard - ein junger Mensch sicher noch Fehler machen, um daraus zu lernen. Der mittelalte sollte seinen Lebensabschnitt eher fehlerfrei absolvieren, und der alte, ansonsten erfahrene dürfte das Leben soweit kennen, dass er sich wenigstens keine überflüssigen oder gar erfolglose Experimente leisten muss.
Aber was ist mit solchen wie er, die sich einfach noch nicht alt genug fühlen wollen?
Annegret behauptet, ihr Mann sei zwar noch einigermaßen jung und sogar mit meiner unverbesserlichen Eitelkeit mitten in der Pubertät stecken geblieben. Gut, das mag sein. Obwohl Annegret sich eigentlich ruhig auch einmal irren könnte.
Natürlich sollte Gerhard jenseits seines inzwischen zweiundsiebzigsten Lebensjahres aus seinen Erfahrungen fast alles gelernt haben. Doch seit einiger Zeit kommt bei ihm noch eine täglich zunehmende Vergesslichkeit hinzu, die ihn manches für neu halten lässt, was ihm dann doch wieder irgendwie bekannt vorkommt.
Im übrigen hatte Annegret sowieso schon immer das bessere Gedächtnis von ihnen Beiden. Und ihr kommen seine neuen Erkenntnisse besonders bekannt vor.
Möglicher Weise neigt er auch inzwischen zu einem gewissen Masochismus, da er sich mit falschen Hoffnungen stets aufs Neue und voller Lust bis zur nächsten zumeist sicheren Enttäuschung quälen muss.
Annegret meint immer, er solle gefälligst erwartungsfreier leben, das erspare ihm die vorprogrammierten Enttäuschungen. Gerhard hat es versucht. Vergeblich.
Inzwischen entwickelte er eine Art von Versteckspiel zu einer hassgeliebten Gewohnheit. Er zieht sich plötzlich und unerwartet vor sich in sich zurück.
Damit gelingt ihm eine Art Tot-stell-Reflex.
Zudem hat er in dem Ratgeber-Buch „Sich mit sich im Alter wohlfühlen“ gelesen, dass nur derjenige Mensch eine wahre Heimat haben kann, der sich in sich zu Hause fühlt.
Annegret schenkte ihm dieses Buch, nachdem sie es aufmerksam zweimal gelesen hatte. Beim dritten Durchgang war sie dann nur noch auf der Suche nach Erkenntnissen, die sie auf Gerhard anwenden konnte.
Aber Gerhard fühlt sich bei sich nicht zu Hause.
Er litt und leidet vielmehr darunter in seinem Schneckenhaus-Versteck, ein verlassener Gefangener zu sein. Er starrt vor sich hin und bemüht sein Hirn, ihm glaubwürdige Ausreden zu liefern, die seine Zurückgezogenheit rechtfertigen könnte.
Die Welt ist schlecht, der Nachbar ein böswilliger Korinthenkacker und Annegret, will ihn zu jemandem machen, der er nun einmal nicht sein kann. Außerdem will sie ihn beschäftigen, da sie fürchtet, er könnte sich wegen geistiger und körperlicher Bewegungslosigkeit eine Behinderung zuziehen. Eine, die seinem Alter überhaupt noch nicht angemessen sei. Außerdem lässt sie sich in letzter Zeit immer häufiger über demente Alte aus.
Doch da kommt Gerhard sein möglicher Weise altersbedingter Trotz in die Quere: Er will sich einfach nicht so viel bewegen. Nein, er will nicht. Ganz sicher nicht.
Ausschließlich die biologische Realität, dass der Mensch nun einmal nicht gern allein und vor allem ein geselliges Herdentier sei, bedrängt ihn nachhaltig.
Selbst, wenn er jungen Frauen begegnet, zu deren Beuteschema Gerhard mit seinen über siebzig Lebensjahren ganz gewiss nicht mehr gehört, spürt er einen gewissen Drang zu spontaner Annäherung, den er aber nicht nur Annegret zuliebe krampfhaft beherrscht.
Da bleibt er, wenn er ehrlich ist, doch lieber in sich, weil er sich da draußen in der freien Wildbahn keine schmerzliche Abfuhr holen will.
Ja, und Annegret ist ja scgon um fast zwei Jahrzehnte jünger als er und gerade jenseits der heftigen Hitzeattacken ihrer Wechseljahre.
Die aus dieser Zeit resultierende Gewohnheit, selbst mitten in kälteren Jahreszeiten Fenster und Türen aufzureißen, um innerlich abzukühlen, hat sie beibehalten.
Zugluft kann Gerhard jedoch überhaupt nicht ertragen.
In kürzester Zeit holt er sich in jenem kalten Luftstrom entweder Kopfschmerzen, einen steifen Nacken oder gleich beides.
Während sie einst behauptete, es sei ihr plötzlich furchtbar heiß, besteht sie jetzt darauf, dass es in der Wohnung immer so schnell muffig rieche und Gerhard sich im übrigen bewegen solle, um warm zu werden. Dabei hält sie sich demonstrativ die Nase zu und sieht ihn streng und prüfend an.
Und wenn er Annegret fragt: „Stinke ich etwa schon nach Verwesung?“, beteuert sie, sie könne sich das wirklich noch nicht vorstellen. Gut, Gerhard auch nicht.
Aber da seine Irrtümer erheblich zunehmen, hat er gewisse Zweifel, die Annegret nicht wirklich auszuräumen versucht.
Natürlich hat jeder Mensch, wie Gerhard immer wieder mit Nachdruck betont, sein ureigenes Recht darauf, sich gründlich und aufs Neue zu irren. Und dieses Recht hat, so betont er besonders Annegret gegenüber, sowohl sie als seine Frau und auch er als ihr Mann..
Plötzlich nickt sie dann auffällig heftig.
Und Gerhard? Er zieht sich vorsichtshalber erst einmal in sich zurück.
Dort bleibt er eine Weile, während der er sich immer wieder mit einem schnellen Seitenblick versichert, ob Annegret noch nickt.
Sie kann sehr ausdauernd nicken, selbst wenn sie dabei irgendwann den Kopf nicht mehr auf- und abbewegt.
Doch solange Gerhard schweigt, verbreitet er wenigstens keine Irrtümer. Außerdem neigt er zu bedeutungsvollen Blicken, die ihn alles Andere als überflüssig wirken lassen.
Schließlich starren sie sich beide an. Anngret nicht mehr offensichtsichtlich, aber gewiss noch innerlich nickend. Und Gerhard bemüht bedeutungsvoll.
Und kurz bevor Annegret prustend loslacht, verbreitet er schnell seine an dieser Stelle nie überfüssige Weisheit, ein Wettbewerb des Schweigens sei doch nur wenig sinnvoll.
Annegret nickt. „Naja, wenn man wirklich was zu sagen hat, dann nicht?“
„Nun gut, ich bin mal wieder überflüssig wie einer meiner Irrtümer!“ behauptet Gerhard schnell und hofft, Annegret werde ihm umgehend widersprechen.
Aber dieses Mal nickt sie. Und das eindeutig nur äußerlich. Dafür verzichtet Gerhard auf einen weiteren Rückzug.
Was Annegret Unrath-Dubius, jetzt heftig Kopf schüttelnd, veranlasst, ihn zu umarmen, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Schatz, ich liebe Deine Irrtümer, auch wenn sie vollkommen überflüssig sind.“
 



 
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